Noch immer steht Siegfried Wagner im Schatten seines Vaters Richard. Peter Pachl hat 1988 die bisher einzige umfassende Biografie des Komponisten und Wagnersohns herausgebracht, eine von positivistischem Sammelfleiß abgesehen, allerdings etwas verschwurbelte Arbeit mit esoterisch-astrologischem Ansatz. Wesentlich seriöser, wissenschaftlicher geht Daniela Klotz auf Siegfried Wagner zu, wenn auch aus ungeahnter, nicht eben naheliegender Perspektive.
„Und tatsächlich eröffnet sich bei näherer Betrachtung der „Geisteswelt Oscar Wildes“ (sie bezieht sich auf einen Aufsatz von Dorothea Renkhoff) so etwas wie ein Paralleluniversum im Werk Siegfries Wagners – das Universum als Intertextualität.“
„Intertextualität“ ist ihr Zauberwort zur Entschlüsselung der Werke des Wagnersohns. Harald Blooms psychologischer Ansatz (Harold Bloom „Einflussangst. Eine Theorie der Dichtung“) ist ihre Ausgangsthese, die sich zusammenfassen lässt in den Satz: „Kein Text…existiert ohne einen Vorläufer. Vielleicht sogar ohne den einen Vorläufer.“
Die entscheidende Frage, die sich für die Autorin stellt: „Was passiert, wenn einer sich mit Kunst auseinandersetzt, indem er auf Basis dieser Auseinandersetzung seinerseits ein Werk erschafft. Entsteht so Neues auf der Basis von Altem, schafft/bedingt das Alte somit Neues oder führt die Reflexion irgendwann zum Selbstzweck, zur Kunst für die Kunst, zum Nachzählen der Schätze, statt zum Nacherzählen und damit zu neuem Schaffen? “ Im Falle Siegfried Wagners verneint das Daniela Klotz vehement.
Am Beispiel von Siegfrieds Oper „Banadietrich“ und der darin anklingenden Werke „Tristan“ und „Parsifal“ entdeckt Daniela Klotz eine „so nie vermutete Rückführung des Weltendramas … des väterlichen Schaffens… Letztendlich lässt sich das Vaterwerk im Spiegel des Sohneswerks, für das der Banadietrich nun exemplarisch steht, nicht nur über den Wieland bis zu den Feen, also nahezu den Anfang des gesamten Schaffens Richard Wagners zurückverfolgen“.
Über dessen Ironie eröffne sich im Werk Siegfried Wagners ein Paralleluniversum der Intertextualität. Opus 6, „Banadietrich“, auf den ersten Blick ein „Ring“ im Taschenformat, erweist sich für die Autorin als Zugang zu dem Vexierspiel, das das Genie Siegfried im Schatten mit den Werken seines Vaters treibt. Gleich den Prismen eines Kaleidoskops bringe der Sohn das Gesamtkunstwerk des Vaters durch leichtes Kippen und kaum merkliches Drehen „zurück auf Anfang“. Dieser Anfang ist nicht etwa eine der frühen Opern Richard Wagners, die als Nukleus einer der späteren gelten können, sondern ein Werk vor seiner Zeit: der „Faust“, der sich als wichtiges Element im Schaffen Richard Wagners erweist, vor allem aber als Dreh- und Angelpunkt im Kosmos Siegfried Wagners entpuppt. Es sei dies ein „Spiel“, dass allem Anschein nach alle Opern Siegfried Wagners durchziehe: Augenscheinlich jeweils nur auf ein Werk des Vaters bezogen, offenbaren alle Opern des jüngeren Wagner vielfältige Verweise aufeinander, auf den gesamten väterlichen Kanon und immer wieder auf den „Faust“, so Daniela Klotz.
Mit akribischen Stückanalysen (manchmal sind sie etwas sophisticated, wenn auch hochintelligent und letztlich einleuchtend), großer Textkenntnis des Vater- wie Sohneswerks, stupender Gelehrtheit und definierter Methode kommt Daniela Klotz zu dem Schluss, dass sich anhand des „Banadietrich“ belegen lässt, dass Siegfried Wagner mit den Werken seines Vaters, oder besser noch, mit den Figuren, die sein Vater ersann, um seinem Denken Ausdruck zu verleihen, ein Vexierspiel treibt, das sich nach den Regularien der Intertextualität nachweisen lässt.“
Dieses Spiel finde aber keineswegs nur im „Banadietrich“ statt, sondern allem Anschein nach in allen Opern Siegfried Wagners. Die Autorin spricht von einem „großen Spaß; als Spiel mit dem Spiel kann es vielleicht sogar als eine Vorwegnahme der Postmoderne und deren Spielcharakter gewertet werden.“ Eben diese Kritische, innovative Auseinandersetzung mit seinem Vater und dessen Werk macht vielleicht die meist unterschätzte Größe und Freiheit Siegfried Wahnes aus.
Auch darin erweist sich Daniela Klotz als gelehrige Schülerin Harold Blooms: „Denn was uns frei macht, ist die Erkenntnis, wer wir waren, was wir wurden; wo wir waren und wohin wir geworfen wurden; wohin wir eilen, woraus wir erlöst werden; was Geburt ist und was Wiedergeburt‘ “
So ist auch der von Bloom (der den Philosophen Kierkegaard zitiert) entlehnte Titel ihres Buches zu verstehen; „Wer arbeiten will, gebiert seine eigenen Vater.“ Die Autorin präzisiert: „An sich meint das, dass, wer arbeitet, ein Vaterwerk schafft. Hier ist der Satz wörtlich zu verstehen, und damit der Sinn des Satzes, wie könnte es anders sein, in sein gerade s Gegenteil verkehrt.“
Eine imposante, psychologische Erklärung des Werks von Siegfried Wagner, wenn auch zugegeben, zuweilen vertrackt zwiebelschalenhaft um den einen zentralen Gedanken kreisend, aber doch eine lesenswerte Arbeit, die zur Promotion an der Universität Salzburg führte. Das hervorragende Literaturverzeichnis und viele weiterführenden Zitate und Angaben machen die nicht eben leichte Lektüre des Buches letztendlich zu einem Gewinn und einem Erkenntniszuwachs in Sachen des bis heute vernachlässigten Siegfried Wagner, der aus dem einen oder anderen Grund nicht nur in Bayreuth noch immer beinahe tabu ist (Daniela Klotz: Wer arbeiten will, gebiert seinen eigenen Vater: Siegfried Wagner vor dem Werk seines Vaters ; 280 Seiten, 2020 ; Königshausen & Neumann ISBN 978-3-8260-7049-5). Dieter David Scholz