Fremdheit in der Gesellschaft

 

Im Umfeld der Premiere von Der letzte Gast am Berliner Ensemble im März 2019, in dem er Fremdheit in der Gesellschaft thematisiert, äußerte sich der mit seinem Ensemble Krétakör (Kreidekreis) auch international ausgezeichnete ungarische Regisseur Árpád Schilling, den Ungarns Regierung 2017 zum Staatsfeind erklärt hatte, zum Thema des Fremdsein: Zuallererst bedeutet es eine Art Einsamkeit. Das ist auch im Stück eine sehr wichtige Frage, und wenn ich vom Fremden spreche, bedeutet das natürlich alle möglichen Arten von Fremdsein. Das steht eben nicht nur für die Flüchtlinge. Was mich natürlich auch sehr beschäftigt, ist der Osten, da ist neben Osteuropa auch alles andere, was traditionell Osten ist, dabei. Aus dieser Ostfremdheit geht sehr viel Frustration hervor. Auch wenn wir über Ostdeutsche sprechen sind „Einsamkeit“ und „Frustration“ die Schlüsselbegriffe, aus denen ein gesteigertes Bedürfnis sich zu adaptieren folgt. Das lässt sich auch auf seinen Lohengrin übertragen, der im Oktober 2018 als erste Produktion der Ära Cornelius Meister-Viktor Schoner an der Stuttgarter Oper Premiere hatte und von dem nun eine Folgeaufführung – in der Premiere war Jennifer Davis für Simone Schneider als Elsa eingesprungen – bei BelAir vorliegt (Bluray BAC 475), bei der bereits während des Vorspiels die besonders einfühlsame Kameraführung auffällt. Vorausgegangen war eine durchaus überschaubare Zahl von Opern, darunter Rigoletto und Die Sache Makropulos sowie La Damnation de Faust, die Schilling in München und Basel inszeniert hatte.

Den Kreidekreis finden wir als eines der wenigen dekorativen Elemente wieder auf den Boden der farblos nachtdunklen, nach hinten abfallenden Bühne von Raimund Orfeo Voigt gekritzelt, auf der der Herrenchor in Alltagsklamotten herumlungert, wofür Tina Kloempken Parkas, Joggingteile, Jeans und Kurzmäntel in sämtlichen sozialistischen Grautönen aus den Lagern geholt hatte. Der König und Telramund, schwadronierende Funktionäre, tragen nicht besonders kleidsame Anzüge, die Krawatten sitzen schlecht. Der Heerrufer, eine Art Spielmacher, trägt einen weißen Smoking. Elsa hat einen hellen Trenchcoat, aufregender ist die langmähnige Ortrud im Wildkatzenlook. Insgesamt beklemmende Nachkriegstristesse. Als Wundermann haben sie sich, so scheint es, den erstbesten Fremden auserwählt, den sie in den Kreidekreis drängen. Widerwillig stellt er sich der Herausforderung, schenkt Elsa einen kleinen Schwan aus Plüsch. Schilling fächert die Mechanismen um Aus- und Abgrenzung, Fremdsein und Fremdbestimmung präzise auf, lotet mit messerscharfer Beobachtungsgabe Text und Inhalt aus.  Die Aufführung bezieht ihre durchgehende Spannung aus den Konfrontationen und Begegnungen der vier Hauptfiguren, der intensiven Entwicklung, die sie teilweise durchlaufen, und dem Aufeinanderprall mit den Massen. Wiederum ein Lob für die Kameraführung, die das alles so umsichtig einfängt.

Im Kreidekreis kämpft Lohengrin gegen Telramund. Sofort schlägt sich die leicht zu gewinnende Menge auf die Seite des neuen Helden und grenzt Telramund aus. Schilling zeigt modellhaft gesellschaftliche Verhaltensweise, die Sehnsucht nach Führerpersönlichkeiten, die Dumpfheit der Masse. Ohne eine Zeit konkret zu benennen, ist im hurtigen Kleiderwechsel im zweiten Akt vom grauen Einerlei in die grellbunten Billigfummel, kurzen Hosen und Sportschlapperlooks, dem Rausch des Konsums, ein Hinweis auf die Freuden des Kapitalismus im Nachsozialismus zu erkennen. Ansonsten inszeniert Schilling ein schmucklos tieftrauriges Stück, bei dem die Menge dem Brautpaar einen blauen Teich aus blauen Kleidungsstücken für künstliche Schwäne schenkt, dem Helden aber angesichts der drohenden Katastrophe im Brautgemach schier die Tränen kommen. Schilling arrangiert die amorphe Masse des unter Manuel Pujol erwartungsgemäß auszeichnungswürdig singenden Chores fast unmerklich, setzt aber in den nur scheinbar so locker gewobenen Beziehungen der Figuren auf große Innenspannung. Sicher liegt es auch an Cornelius Meister, dass der Text in seltener Nachdrücklichkeit und Spannung zu erleben ist. Mit dem Staatsorchester und den auf der Bühne wirkungsvoll aufgestellten Trompetern sorgt er auf jeden Fall für jene Dramatik und Deutlichkeit, die im reduzierten Spiel auf der Bühne fehlen mag. Michael König ist der auserwählte Führer, ein von seiner Mission überforderter harmloser Bär mit einem dunkel runden sowohl strahlenden wie geheimnisumflorten Tenor, der zu großer Zärtlichkeit fähig ist, und noch in der Gralserzählung gestalterische Süße aufbietet. Mit weiten, sicher sitzend kraftvollen Linien ist Simone Schneider eine anrührende und wirkungskräftige Elsa, die am Ende von der Menge eingekesselt wird und zum Messer greift. Scharf akzentuiert, trotzig keifend gibt Martin Gantner den Telramund, Goran Juric ist ein aalglatter Heinrich, der die Brabanter mühelos einwickelt, Shigeo Ishino ein gefälliger Heerrufer. Ausgezeichnet die Ortrud der Okka von der Damerau, die die politische Strippenzieherin mit fulminanter Wucht und vokaler Hintergründigkeit erfasst und am Ende einen neuen Helden aus der Menge greift.  Rolf Fath