Das hat es lange nicht gegeben. Ein Sänger (Benjamin Hewat-Craw) und sein Pianist (Yuhao Guo) debütieren (!!!) auf dem heiß umkämpften Musikmarkt mit Franz Schuberts Winterreise. Ars Produktion ließ sich auf das Wagnis ein (ARS 38 573). Das ist so mutig wie begrüßenswert. Muss es aber unbedingt die Winterreise sein, dieser Zyklus aller Liederzyklen? Warum nicht. Beide Künstler, deren genaues Alter im Unbestimmten bleibt, dürften unter dreißig sein. Gewisse biographische Details deuten darauf hin. Hewat-Craw stammt aus England und studierte von 2015 bis 2018 an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln, wo auch Guo ausgebildet wurde. In einer Art Selbstinterview, das im Booklet abgedruckt ist, geben sie freimütig Auskunft über ihren persönlichen Zugang zu dem Werk. Das „Abtauchen in die düstere Welt“ mache einen ganz besonderen Reiz aus, so Guo. Man entdecke „die Abgründe der menschlichen Psyche mit dem Glauben, dass man selbst vor ihnen gefeit“ sei und erlebe die Winterreise meistens „in einer geschützten Umgebung mit der Aussicht auf die Rückkehr in der Normalität“. Und Hewat-Craw fügt hinzu: „Wir wollten unsere Ankunft in der internationalen Liedszene mit einem Knall ankündigen.“ Das sei sicherlich eine Herausforderung bei einem so prominenten Katalog von Aufnahmen. Einzigartige Künstler hätten dem Zyklus ihren einzigartigen Stempel aufgedrückt. „Nun haben wir unseren eigenen Stempel aufgedrückt.“
Der wird auch gleich auf dem Cover optisch sichtbar. Beide Künstler sind von einen Fuchs umhüllt, wie ihn einst eleganten Damen als Pelzkollier um die Schulter trugen. Ganz zeitgemäß ist das nicht mehr. Man ist also auf einiges gefasst. Umso größer die Überraschung als das erste Lied beginnt. Der Bariton und seine Begleiter schlagen unerwartet traditionelle Töne an: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus …“ Ein Lebensgefühl, eine Erfahrung, die auch heute junge Menschen kennen. Auf diese Aktualität war auch im Booklet ausdrücklich hingewiesen worden. Die Winterreise als Erfahrungsbericht und weniger als sublimierte Kunst? Zumindest sollte diese Möglichkeit bei der Auseinandersetzung mit dem Werk im Jahr 2020 in Betracht gezogen werden können. Wohlkalkuliert ist das Tempo, mal getragen, mal drängend, den jeweiligen Situationen genau angepasst. Dies ermöglicht es dem Sänger, die Lieder genau auszuloten und Inhalte auf die eigenen und die Erfahrungen seiner Generation hin zu befragen. In enger Übereinstimmung mit seinem Begleiter Yuhao Guo will er etwas mitteilen – und nichts für sich behalten. Dabei gibt es auch gewisse Durststrecken. Hewat-Craw hat eine natürliche, offene Stimme und kann sich durch Wort und Ton sehr gut verständlich machen. Die Mittellage ist gut ausgeprägt, nach oben und nach unten klingt es auch mal angestrengt. Daran wird er sicher arbeiten.
Franz Schuberts Winterreise ist längst keine Tabuzone für Interpreten mehr. Der katalanische Opernsänger Xavier Sabata sagt: „Warum sollte nicht auch ein Countertenor dieses Werk singen dürfen, wenn es ihm gelingt, die tiefen inneren Konflikte, Gefühle und Bedeutungen des Stückes herauszuarbeiten?“ Nach seiner Beobachtung fühlten sich viele Menschen wohl, wenn sie etwas in eine bestimmte Schublade stecken könnten. Das könne vielleicht sogar eine gewisse Sicherheit vermitteln. „Aber Musik oder Kunst darf man kein Label aufkleben.“ Sabata hat bei Berlin Classics seine Winterreise vorgelegt (0301309BC). Begleitet wird er von Francisco Poyato. Die Aufnahme entstand im Sommer 2019 in Zusammenarbeit mit SWR2. Der Sender stellte sein Studio in Kaiserlautern zur Verfügung und knüpft damit an eine lange und ergebnisreiche Tradition beim Südwestrundfunk an, Sänger zu fördern und bekannt zu machen. Sabata ist kein Neuling. Auf dem Gebiet der Barockmusik hat er sich einen Namen gemacht. Davon zeugen auch etliche CD-Produktionen. Neu ist die Erweiterung seiner Repertoires. Bei der Winterreise dürfte es nicht bleiben.
In dem im Booklet abgedruckten Interview mit Angelika Völkel, dem auch die vorangegangenen Äußerungen entnommen sind, bekennt er sich auch dazu, ein „Freund des Entdeckens“ zu sein. Zweifel und Bedenken sind seine Sache nicht. Sonst hätte er sich wohl nicht auf die Winterreise einlassen können, bei der jedem Solisten und jeder Solisten ein Gebirge von berühmten und weniger berühmten Vorgängern im Nacken sitzt. Wenn er die Winterreise singe, dann wolle er „dieses Wesen verstehen, das sich mitteilen will. Mir geht es dann nicht darum, eine perfekte Gesangstechnik abzuliefern“. Davon ist die Einspielung tatsächlich weit entfernt. Mitunter singt er wie mit zwei Stimmen, nämlich immer dann, wenn er nach unten geht. Daran muss man sich erst gewöhnen. Sein Deutsch ist im Großen und Ganzen sehr gut. Für deutsches Liedgut aber nicht gut genug. Bei etwas mehr Sorgfalt würde die Aussprache perfekter sein. Der „Lindenbaum“ ist kein „Lintenbaum“. Solcherart sind die störenden Details, die hätten ausgefeilt werden können. Da Zeug dafür hat der Sänger. Er wirkt auch als Schauspieler. Sabata verlangt seinen Hörern einiges ab. Die müssen den Zyklus schon sehr gut kennen, um ihm inhaltlich folgen zu können. Seine Interpretation halte ich nicht unbedingt für geeignet, um das Werk kennenzulernen. Sie erweitert aber das Ausdrucksspektrum, und ist ja schließlich auch ein Wert für sich. Ich bleibe gespannt.
Das Cover könnte einem Fachbuch über Depressionen entnommen sein. Tief in sich versunken stützt ein Mann seinen Kopf auf eine Hand. Sein Blick geht ins Leere. Er scheint am Ende. Ohne Hoffnung. Ohne Ausweg. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus.“ Mit dem düsteren Foto wird eine Winterreise illustriert, die bei Orfeo erschienen ist, gesungen von Pavol Breslik (C 934 191). Ob es sich bei der dargestellten Person um den Sänger selbst handelt, bleibt unbestimmt. Es ist auch nicht so wichtig wie die Botschaft, die davon ausgehen soll. So düster und verloren, wie das Cover erwarten lässt, hebt der Zyklus „schauerlicher Lieder“ – so soll sich Schubert selbst ausgedrückt haben – dann doch nicht an. Was zuvorderst auffällt, ist der Klang. Die Stimme scheint von etwas weiter her zu kommen, und es wird dem Zuhörer, der es nicht vorab nachgelesen hat, alsbald klar, dass es sich um eine Liveaufnahme handelt, mitgeschnitten zwischen dem 5. und 7. September 2018 im Markus-Sittikus-Saal in Hohenems. Dessen Akustik genießt international einen guten Ruf und wird vor allem von Freunden des Liedgesangs und der Kammermusik geschätzt. Für die Aufnahme sind offenbar nicht alle technischen Möglichkeiten genutzt worden. Sie klingt zu hallig, manchmal sogar hart. Wären einige Publikumsgeräusche beibehalten worden, es hätte dem Eindruck nicht geschadet. Dann wäre diese Winterreise noch deutlicher als das kenntlich, was sie letztlich ist – ein bemerkenswertes Live-Ereignis, bei dem nicht alles perfekt gelingt weil auch die Spontaneität zu ihrem Recht kommen will. Breslik, der am Flügel von Amir Katz begleitet wird, bringt viel von der Dramatik und den Stil ein, die er für seine Auftritte auf den Opernbühnen in aller Welt braucht. Nicht immer ist die Höhe stabil. Mit Fortschreiten des Werkes – etwa beim Lied „Einsamkeit“ auf der Hälfte – kommt der Opernsänger immer mehr durch. Das ist kein Manko. Im Gegenteil. Es macht für mein Empfinden sogar den besonderen Reiz der Interpretation aus. Breslik hatte nach eigener Aussage Bekunden „von Anfang an großen Respekt“ vor der Winterreise, denn sie verlange ihrem Erzähler alles ab, sagt er in einem Gespräch mit seinem Pianisten, das im Booklet abgedruckt ist. „Zuerst „Zuerst hatte ich Bedenken, ob eine Tenorstimme dafür gut geeignet ist, und diese Zweifel habe ich immer wieder.“ Eigentlich ist das ganz gut so, denn der Zweifel ist bekanntlich nicht der schlechteste Ratgeber für einen Sänger, der es von Mal zu Mal noch besser machen will.
„Vom Abendrot zum Morgenlicht ward mancher Kopf zum Greise.“ Mit dieser Zeile wird in Schuberts Winterreise der dritte Vers des Liedes „Der greise Kopf“ eingeleitet. Die Grafiker des Booklets der jüngsten Aufnahme des Zyklus von Ian Bostridge bei Pentatone haben das etwas zu wörtlich genommen (PTC 5186 764). Mit Hilfe eines Computerprogramms ließen sie den englischen Tenor und seinen Begleiter Thomas Adès auf dem Deckblatt drastisch altern. Sie sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ausgemergelt und ausgezehrt – als hätte sie selbst die strapaziöse Winterreise hinter sich. Ein gewisser Mut gehört dazu. Nur, muss das sein? Erschließt sich das? Sollte nicht vielmehr die künstlerische Qualität statt eines solchen Gags für eine Aufnahme einnehmen? Wie dem auch sein, ein Hingucker ist das in Sepia gehaltene Album allemal.
Wie Bostridge in seinem Einführungstext herausstellt, ist die Winterreise seit drei Jahrzehnten zentraler Bestandteil seines musikalischen Lebens. Er hat sie bereits zweifach aufgenommen, einmal davon als Film – bei Warner Classics in einer Box mit Müllerin und Schwanengesang herausgekommen (0825646204182). Diesmal war ihm vor allem die inspirierende Zusammenarbeit mit Adès, der eher als Komponist hervorgetreten ist, Anlass, sich abermals im Studio auf das Werk einzulassen. In der Tat wird die Aufnahme stark, gar gleichberechtigt, vom Klavier her geprägt. Adès setzt starke Akzente. Es überlässt der Singstimme nicht das Feld, sondern trägt seinerseits dazu bei, für jedes Wort, jeden Gedanken oder jedes Gefühl einen eigenen Ausdruck zu suchen und gleichzeitig immer wieder mit dem Sänger zusammen zu finden. Keiner von beiden macht sein eigenes Ding. Darin liegt die Stärke der Aufnahme. Die Stimme von Bostridge ist nicht schöner geworden. Für die Winterreise muss das auch nicht zwingend sein. Auch sein Deutsch ist nicht besser geworden. So schleichen sich viele Ungenauigkeiten ein, die nicht mehr als individueller Ausdruck durchgelassen werden können.
An der Verknüpfung von Sprache und Musik ist bei seiner Winterreisen-Aufnahme dem 1983 in Böblingen geborene Bariton Johannes Held gelegen. Er ist neben seinem Sängerberuf auch als Sprecher tätig. Gemeinsam mit dem Pianisten Daniel Beskow tritt er regelmäßig in einem szenischen Winterreisen-Projekt auf. „Die Vermeidung des Körperlichen im Liedgesang und der Wunsch der Wächter über die Gattung, nur die Stimme für den Ausdruck zu nutzen, waren mir immer suspekt, und ich wollte herausfinden, welche expressiven Möglichkeiten Schuberts Lieder offenbaren, wenn man sich erst einmal traut, das seit den 50er Jahren gebräuchliche Format zu überwinden“, so Held. Mit seinem Begleiter sei er sich darüber im Klaren gewesen, dass „wir damit nicht nur auf Gegenliebe stoßen würden“. Die dabei gesammelten Erfahrungen sind nun in eine klassische Studioeinspielung eingegangen, die bei ARS Produktion erschienen ist (ARS 38 562). Damit seien sie am Ende wieder am Anfang angekommen, „bei der Musik von Schubert und den Gedichten von Wilhelm Müller. Denn bei aller Suche nach einem neuen Format wollten wir doch immer dem Text treu sein“. Das hört man denn auch. Sogar sehr stark. So stark, dass die Musik gelegentlich in den Hintergrund zu geraten droht. Held singt sehr genau und deutlich. Und so offenbart sein Vortrag denn auch die Schönheiten der Müllerschen Lyrik, was einen Wert für sich darstellt.
Seit wann besteht die Winterreise denn aus fünfundzwanzig einzelnen Nummern? Im Original sind es doch nur vierundzwanzig. Genau hingesehen – und hingehört, wird das erste Lied „Gute Nacht“ zunächst instrumental vorgetragen, ganz zum Schluss dann gesungen wiederholt. Der Kanadier Philippe Sly legt bei Analekta (AN 2 9138) eine Adaption für Bassbariton, Klarinette, Posaune, Akkordeon, Violine, Klavier und Drehleier vor. Angesichts der Fülle traditioneller Einspielungen haben sich Bearbeitungen inzwischen als eine ernst zu nehmende Möglichkeit etabliert, der Interpretation neue Perspektiven zu eröffnen. Sly geht ziemlich radikal ans Werk, ohne Schubert zu beschädigen. Dessen musikalische Erfindungen bleiben weitgehend unangetastet, Bearbeitung ist Zugabe, nicht Reduktion. Der junge Sänger und sein Ensemble Le Chimera Projekt scheinen herausfinden zu wollen, welche Wirkung diese vor fast zweihundert Jahren entstandenen Lieder heutzutage entfalten können. Es ist, als ob sie ein Update Schuberts mit der Gegenwart vollziehen. Tempoverschiebungen verstärken eine im Werk angelegte Gangart, die immer wieder ins Nichts zu führen droht. In dieser Interpretation ist die innere Reise durch das Eis noch gefährlicher und aussichtsloser. Einzelne Wörter werden sängerisch regelrecht seziert. Es drängt sich die Frage auf, ob die Sprache des Dichters überhaupt auszudrücken vermag, was dem Werk innewohnt. Es klingt nie schön. Dabei hätte Philippe Sly durchaus das Zeug für einen traditionellen Vortrag mit Klavierbegleitung. Dafür müsste er allerdings an seinem Deutsch arbeiten. In der vorliegenden Aufnahme wirkt sein Akzent als Ausdrucksverstärker für Fremdheit und Isolation.
Ödnis und Leere. Es marschiert. Erst nach und nach lösen sich aus einer Ansammlung von Geräuschen Klänge heraus, die ihre Herkunft nicht verleugnen können – und wollen. Der Komponist und Dirigent Hans Zender hatte 1993 eine – wie er es nennt – komponierte Interpretation von Schuberts Winterreise vorgelegt, die sich im Konzertbetrieb etabliert hat. Der Tenor Julian Prégardien bietet bei Alpha-Classics.com die Aufnahme an (Alpha 425). Schon sein Vater Christoph Prégardien hatte sich des Werkes angenommen. Liedgesang liegt in der Familie. Ich habe diese Version der Winterreise noch nie live gehört, kann mir aber gut vorstellen, dass sie unter diesen Bedingungen noch wirkungsvoller sein dürfte als aus Lautsprechern. Wer gute Kopfhörer zur Verfügung hat, wird noch mehr raffinierte Details entdecken. Es geht sehr dramatisch zu. Aus der introvertierten Zwiesprache des Sängers mit dem Klavier in der Originalfassung wird über weite Strecken ein sehr bildhaftes und expressives Theaterstück, in dem Passagen sogar gesprochen werden. Dadurch erfährt die Textvorlage von Wilhelm Müller eine stärkere Betonung. Das „small orchestra“ – die Deutsche Radiophilharmonie unter der Leitung von Robert Reimer – klingt so klein nicht. Streicher, Holzbläser, Horn, Trompete, Saxophon und diverses Schlaginstrumentarium entfalten mitunter mächtige Wirkungen, die es ratsam erscheinen lassen, den Klangregler am Abspielgerät zurückzudrehen. Gitarre und Akkordeon setzten traditionelle, volksliedhafte, mitunter gar rührende und zu Herzen gehende Akzente. Zender malt mit Tönen. Wenn – um nur ein Beispiel zu nennen – im Lied „Wasserflut“ die Tränen des unglücklichen Wanderers in den Schnee fallen, die Flocken das „heiße Weh“ einsaugen und „das Eis zerspringt in Schollen“, wird zu musikalischen Mitteln gegriffen, welche die Nähe zum Winter in Vivaldis Jahreszeiten nicht verleugnen können. Im Booklet, das auch einen Text von Zender enthält, wirft der Musikwissenschaftler Thomas Seedorf mehrere Fragen auf: „Wie soll man sich die Gestalt des Wanderers vorstellen? Ist er ein junger Mann oder durchläuft er eine Midlife-Krise? Erlebt er das, was er besingt, in der Realität oder nur in seiner Phantasie? Und wie ist mit Schuberts Musik umzugehen? Muss sie vor allem schön gesungen werden? Oder darf sich der Sänger auch erlauben, die Schönheit aufzurauen, Brüche und Risse hörbar werden lassen?“ Prégardien junior versucht sich in künstlerischen Antworten und schlägt sich dabei vortrefflich. Bei dieser Winterreise kann es nur von Vorteil sein, wenn der Sänger jung ist. Bei der Aufnahme war er gerade mal zweiunddreißig. Dadurch wird die Geschichte für mich glaubhafter. Schließlich ist der Vortragende in dieser Version des Zyklus nicht nur Interpret, er ist auch Darsteller. Prégardien geht es nicht um Schöngesang. Er will das Werk erfahrbar machen und greift dabei auch zu verfremdenden, charaktervollen, ja grellen Einwürfen.
Der Tenor Werner Güra beginnt seine Winterreise ausgesprochen verhalten. Tastend und ängstlich. Als wolle er nicht hinaus in diese Dunkelheit, wo „der Weg gehüllt in Schnee“ ist. Die Winterreise als Vorstellung, als Projektion. Güra lotet die einzelnen Worte und die Noten aus. Er verliert sich in Details, schmückt sie fast masochistisch aus. Die Aufnahme entstand bereits 2009 und wurde von harmonia mundi neu aufgelegt (HMA 1902066). Schon dieses höchst individuellen Einstiegs wegen ist das gerechtfertigt. Reinen Schöngesang verbietet sich Güra ausdrücklich, obwohl er dazu bekanntermaßen in der Lage ist. Alles wird Ausdruck. Lyrische Passagen, an denen auch in diesem Zyklus kein Mangel ist, klingen ehr herb, ja hart. Manches wird fast gesprochen. Seine betont andersartige Interpretation gelingt Güra nur, weil er jedes Wort absolut verständlich herüberbringen kann. Gewisse Stellen, die im ersten Eindruck als verbesserungswürdig erscheinen, entpuppen sich im selben Moment als nicht anders gewollt. Die Begleitung ist nicht weniger eigenwillig. Christoph Berner an einem Pianoforte von 1872 agiert in voller Übereinstimmung mit seinem Solisten und überrascht mit unerwarteten Temposprüngen. Selbst die Pausen zwischen den einzelnen Liedern scheinen unterschiedlich lang. Mal gedehnt, mal nur ein kurzes Innehalten. Von Lied zu Lied gewinnt der gemeinsame Vortrag an Fahrt. Der Zuhören wird, ob er will oder nicht, hineingezogen. Er muss mit auf diese Reise. Bis zum bitteren Ende hinterm Dorf auf dem Eis beim Leiermann. Ein Ende, das so verhalten aushaucht wie diese Winterreise begann.
Winterreise mit Frauenpower! Im Booklet ihrer eigenen Einspielung hatte sich die französische Altistin Nathalie Stutzmann, noch über einen Mangel an Aufnahmen mit Sängerinnen beklagt. In der Produktion von Et’Cetera werden jetzt gleich fünf Solistinnen auf einmal aufgeboten (KTC 1592). Es handelt sich um Wendeline van Houten, Merlijn Runia, Jannelieke Schmidt, Nikki Treurniet und Ellen Valkenburg, die sich am Königlichen Konservatorium Den Haag kennenlernten und zum Ensemble Coco Collektief zusammengeschlossen haben. Sie treten auch einzeln in Opern und mit Liedprogrammen auf. Ihr Pianist ist Maurice Lammerts van Bueren, der die Bearbeitung für diese ungewöhnliche Besetzung geschaffen hat. Er ist sich über das Risiko im Klaren. Wenn man die Winterreise, die „für viele Musikliebhaber mehr oder weniger heilig ist, arrangiert“, habe man das Gefühl, sich aufs Glatteis zu begeben. „Doch es geht beim Arrangieren selten um ein Verbessern des Originals. Vielmehr geht es um neue Ansätze, um eine Fassung, die neben dem Original bestehen kann.“ Daran sind Zweifel angebracht. Wenn Schubert seine Winterreise mehrstimmig hätte haben wollen, hätte er sie so komponiert. Durch die Bearbeitung wird die Struktur ohne jeden Mehrwert zerstört. Der gut gemeinte Versuch, der live noch eher vorstellbar ist als im Studio, wird zur formalen Spielerei, zumal die Stimme der Solistinnen in ihrer dissonanten Unterschiedlichkeit, die gewollt zu sein scheint, dem Zyklus keinen Halt geben. Die Winterreise ist durch die Vielzahl von Aufführungen womöglich überstrapaziert. Überfluss verführt zu Experimenten, die schnell ins Leere laufen. Wenn aber eine solche Neuerscheinung zur Beschäftigung mit dem Original anregt, dann hat sie auch einen Zweck erfüllt (Foto oben: https://pxhere.com/de/photo/36307). Rüdiger Winter