Eigentlich müsste man ein abgeschlossenes Studium in Jura, Betriebswirtschaft, Musikwissenschaft, Geschichte und Theaterwissenschaft aufweisen, um das Wirken und Schicksal der Gebrüder Rotter angemessen würdigen zu können, die in den Zwanzigern in Berlin und anderswo ein Imperium der Unterhaltungskultur errichteten, Deutschland noch vor Hitlers Machtergreifung fluchtartig verließen und elendiglich starben: Alfred 1933 auf der Flucht vor Liechtensteiner und deutschen Nazis einen Abhang hinunterstürzend, Fritz 1939 noch vor Kriegsausbruch in einem französischen Gefängnis, in dem er wegen Scheckbetrugs einsaß.
Peter Kamber hat die Mammutaufgabe übernommen, auf 500 Seiten ihr Schicksal nachzuzeichnen in wohlabgewogener Mischung aus Anteilnahme und Distanz und noch ganz am Schluss des nach Art einer Tragödie in fünf Akte, dazu Vor- und Nachspiel gegliederten Buchs die nachdenkenswerte Formulierung findend: „Er“ (ein Neffe der Brüder) „wird später durchsetzen, dass in seiner Geburtsstadt Berlin „Stolpersteine“ an Fritz, Alfred und Gertrud Rotter erinnern“. Es scheint sich bei den Rotter-Brüdern, die eigentlich Schaie heißen, aber auch noch weitere Namen annehmen, nicht um eine Berliner Familie wie viele andere jüdische in der Reichshauptstadt zu handeln, die sich in nichts von ihren christlichen Nachbarn unterscheiden, deren Söhne 1914 begeistert in den Krieg ziehen, Ernüchterung und Nachkriegselend durchmachen, von ihrer Ausgrenzung durch die Nazis überrascht werden und eines Tages abgeholt, auf Lastkraftwagen verladen und in den Tod geschickt werden. Diesen gelten die Stolpersteine, neben denen heutige Hausbewohner am 9. November Blumen und Kerzen aufstellen.
Rückblickend werden sich das Vortäuschen einer psychischen Krankheit, das Wechseln der Staatsbürgerschaft bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, um der Einberufung zu entgehen, als schlauer, nachvollziehbarer Schachzug erweisen, damals dürfte es dem Eingeweihten in einem anderen Licht erschienen sein. So auch der Fluchtgrund, der nicht in der Sorge wegen des wachsenden Einflusses der Nazis besteht, sondern in der Vorladung durch den Staatsanwalt wegen einer mehr als unsoliden Buchführung, die schließlich zur Zahlungsunfähigkeit der Brüder und damit zur Existenzgefährdung für alle, die für sie tätig waren, vom Pförtner bis zum Operettenstar, führt. Bereits 1931 hatten sich die Brüder die Liechtensteinische Staatsbürgerschaft und damit die Möglichkeit erkauft, sich der Verantwortung zu entziehen. Tragisch dabei ist, dass ihre Flucht eigentlich nicht notwendig war, durch eine Auffanggesellschaft das Unternehmen hätte gerettet werden können.
Der Autor beginnt sein 500 Seiten umfassendes Buch mit der Schilderung der Pfändung des Mobiliars in der nur gemieteten Grunewald-Villa der Brüder im Sommer 1932, denen auch zum Verhängnis wurde, dass Sachwerte, einschließlich der Grundstücke, die sie besaßen, weit unter Wert verschleudert wurden. Er schildert das Ganze wie einen Roman, nicht aber, ohne regelmäßig ein „vermutlich“ oder ein „womöglich“ und ähnliche Vokabeln einzufügen, so die Balance zwischen wissenschaftlicher Arbeit und Belletristik haltend, zugleich informierend wie unterhaltend zu sein. Generell überlässt er es dem Leser, sich selbst ein Urteil zu bilden, zieht eine Fülle von Zeitzeugenberichten, Kritiken, so von Kerr und Jhering, Zeitungsartikeln und Memoiren heran, um ein möglichst vollständiges Bild seiner „Helden“ wie der turbulenten Zeit zu zeichnen. Dabei wird klar, dass die Ablehnung des künstlerischen und Geschäftsmodells der Rotters keine nur nationalsozialistische war, sondern dass linke Zeitungen ebenso heftig gegen sie polemisierten, die gleichzeitig das Metropoltheater (heute Komische Oper), den Admiralspalast, das Theater des Westens, das Lessing-Theater, das Zentraltheater und das Lustspielhaus in Berlin, dazu Bühnen in Breslau, Hannover und Dresden bespielten. Angefangen hatten sie allerdings mit dem Schauspiel, hatten Ibsen, Strindberg, Shaw aufgeführt. Waren den Linken die Seichtheit der Operetten, ihr Personal aus Adel und Künstlerschaft, die die Massen vom Klassenkampf abhielten, zuwider, so störten sich die Rechten u.a. an der ihrer Meinung nach überproportionierten Beschäftigung ausländischer Künstler. So sehr standen die Brüder im Zentrum der Kritik, dass Vokabeln wie „verrottert“, „Rotte der Rotters“ im Umlauf waren. Der Autor jedoch hebt hervor, welch echte Begeisterung die Rotters für das Theater hatten, welch gutes Gespür für bühnenwirksame Stücke und welches Geschick, Stars an sich zu binden, seien es Tauber und Albers oder Gitta Alpar, Käthe Dorsch und Fritzi Massary. Sogar Gründgens zählt zu ihren Künstlern. Zum Verhängnis wurden ihnen ihre Spekulationen an der Börse, ihre Sorglosigkeit bei der Buchführung und ihr Fehler, gerade in dem Augenblick, als mit „ Ball im Savoy“ die große auch finanzielle Sanierung mit ausverkauften Vorstellungen im riesigen Schauspielhaus in Aussicht stand, alle Einnahmen an den Vorsitzenden der Zentralstelle der Bühnen-Autoren und Verleger abzugeben, um sich erst einmal finanziell Luft zu verschaffen. Bereits vorher war die Beziehung zum größten Verein für den Verkauf von Theaterkarten eine zwiespältige gewesen, hatte eine gewisse Sicherheit beim Absatz derselben, aber auch deren Verschleudern zu Billigpreisen bedeutet. Immer wieder werden Konzessionen für den Theaterbetrieb verweigert, der „Vorwärts“ fordert sogar die Enteignung der Brüder, Alfred Kerr nennt sie „übelste Schädlinge“, es wird sogar 1924 in der Deutschen Zeitung die Zurücknahme der Gleichstellung der Juden von 1812 in diesem Zusammenhang gefordert. Kein Wunder, dass durch solche Unmöglichkeiten die Sympathie des Verfassers für seine Antihelden auf den Plan gerufen wird.
Eine Vielzahl von Texten aus Operetten, die in dem Buch abgedruckt sind, kann nicht verhehlen, dass Seichtheit vorherrschte, die aber weniger als die Frivolität mancher Figuren („Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben“ aus „Eine Frau, die weiß, was sie will“) Anstoß erregt. Das aber dürfte nicht der Grund dafür gewesen sein, dass SA die Aufführung stört.
Sogar dem Leser des Buchs wird schwindlig beim Lesen all der finanziellen Verpflichtungen der Rotters, die schließlich nicht einmal die Sozialabgaben wie Krankenkasse für die Angestellten bezahlen können. Kein Wunder, dass Morphium her muss, um Spannungen zu lösen (Alfred), Abwechslung darin gesucht wird, sich in Frauenkleidern ins sündige Treiben des nächtlichen Berlins zu stürzen (Fritz).
Im Januar 33 kommt es zum Prozess um die Entlassung einer Sängerin, der die Rotters in schlechtem Licht erscheinen lässt. Ab 16.1. können Gagen nicht mehr bezahlt werden, Fritz Rotter bekommt eine Vorladung vor die Staatsanwaltschaft und flieht, statt sich zu stellen, wodurch die Rettung durch eine Auffanggesellschaft unmöglich gemacht wird, obwohl die Grundstücke im Besitz der Rotters mehr wert sind als ihre Schulden. Peter Kamber, der sich generell auf eine Darstellung der Fakten beschränkt, meint zu dem tragischen geschehen: „…das Tollhaus ist das weltweit in seine tiefste Krise geratene System der Wirtschaft selbst- die Rotters versuchen bloß, nicht auch noch unterzugehen.“ Und er erkennt auch ihr unbestreitbares Verdienst: sie „machen die Operette…zum weltweit willkommenen und globalverbindlichen deutschsprachigen Exportartikel.“
In Deutschland wie in Liechtenstein kursieren nach dem dortigen Auftauchen der Brüder Irrsinnsgerüchte über das aus dem Land gebrachte Millionenvermögen, das es nicht gibt. Liechtenstein wird als Zufluchtsort für kriminelle Bankrotteure verunglimpft, was dortige Nazis auf die Idee bringt, die Rotters gewaltsam nach Deutschland zurückzubringen. Gemeinsam mit deutschen Nazis scheitern sie bei einem Entführungsversuch, der trotzdem tragisch endet, weil Alfred und seine Frau auf der Flucht einen Abhang herabstürzen. Fritz geht nach Frankreich, wird zeitweise verhaftet auf Ersuchen der deutschen Behörden, hat sich wohl auch ungerechtfertigter Weise einen Doktortitel zugelegt, wird aber wieder freigelassen. Die Entführer erhalten nur lächerliche Strafen, sind bald wieder frei. Der Prozess in Liechtenstein ist ausführlich im Buch dokumentiert.
Im abschließenden Nachspiel wird von einem sich als Fritz Rotter ausgebendem Betrüger, angeblich aus Palästina nach Deutschland 1948 zurückgekehrt, berichtet, der versucht, die Identität des längst Verstorbenen zu benutzen, um sich Vorteile zu verschaffen.
Der Anhang umfasst Fußnoten, ein Personenregister und Quellenangaben.
Das Buch wird den Brüdern Rotter, ihrer wilden Theaterleidenschaft, ihrer Naivität und Unbekümmertheit in finanziellen Dingen und ihrem Gratwandel zwischen Großzügigkeit und Großmäuligkeit weit eher gerecht, als es die Stolpersteine tun können. Hätte sie Alfred Kerr ihnen versagt, der schrieb:“Die Rotters haben… die Zeit nicht produziert. Die Zeit produziert solche Rotters. Entschuldigt werden sie dadurch nicht.“ (500 Seiten Henschelverlag 2020; ISBN: 9783894878122). Ingrid Wanja