An die großen Zeiten der legendären Cathy Berberian mit ihren bemerkenswerten Aufnahmen muss man zurückdenken, wenn man Patricia Petibons neue CD bei Sony hört, die im September und November 2019 in Paris aufgenommen wurde (19439719552). Ihr Titel L´Amour, la Mort, la Mer klingt poetisch und lässt französische mélodies vermuten. Derer gibt es in der Anthologie aber nur wenige – Gabriel Faurés „Au bord de l` eau“ und das noch berühmtere „Clair de Lune“, Francis Poulencs träumerisches „Sanglots“ aus den Banalités sowie Reynaldo Hahns „Néère“ aus den Études latines. Tatsächlich umfasst das Programm mit 22 Titeln französische, englische und spanische Kompositionen des gesamten 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Auch Traditionnels aus Schottland und Irland (ein Instrumentaltitel mit Ronan Lebars am Dudelsack) finden sich in der Anthologie.
Die französische Sopranistin ist bekannt für ihre extremen Interpretationen. Virtuos wechselt sie die Register, Sprachen, Stile und Kulturen. Ihrem Ruf als Diva des Exzentrischen setzt sie mit dieser CD die Krone auf. In „Dona Janaina“ von Francisco Mignone, der von 1897 bis 1986 lebte, zwitschert, gackert, flötet, gurrt und kreischt sie – ein ganzer Vogelbauer wird hier geöffnet. Ihrem Sohn Léonard hat sie diese Einspielung gewidmet.
Für L´Amour stehen ein Titel („All trough eternity“) aus den Three Love Songs des 1961 geborenen Komponisten Nicolas Bacri und John Lennons „Oh my love“, das sich in Vokalisen bis in die Extremhöhe hinaufschraubt. La Mort sind vertreten durch Samuel Barbers „The Crucifixion“ aus dem Speckled Book und das lamentierende „Dolorosa“ aus Enrique Granados´La Maja dolorosa, bei dem die reiche Substanz in der unteren Lage auffällt. La Mer wird repräsentiert durch „A la mar“ aus den Melodias de Melancolia von Bacri, das mit heulendem Ton erklingt, während Faurés „Au bord de l`eau“ in seinem Charme ein angenehmes Intermezzo ist. „Alfonsina y el mar“ von Ariel Ramirez (1921 – 2010) ist erfüllt von jammernden Tönen und auch den „Cancao do Marinheiro“ von Heitor Villa-Lobos bestimmen klagende Laute von bohrender Intensität.
Petibon eröffnet ihr Programm mit „Le rencontre“ aus den Trois chansons bretonnes von Jean Cras (1879 bis 1932) – ein melancholisches Lied, das mit akustischem Meeresrauschen eingeleitet wird und das die Sängerin beendet, als würde der Wind heulen. Am Flügel begleitet sie Susan Manoff, außerdem wirkt der Akkordeonist David Venitucci mit. In „Le chant des lendemains“ von Thierry Escaich (geboren 1965) gesellt sich als Sänger Oliver Py, von dem auch der Text stammt, mit aggressiv lärmendem Sprechgesang zur Sopranistin. Mit „Danny Boy“ endet das Programm in Melancholie, die den Charakter der gesamten CD bestimmt, was die Gefahr der Eintönigkeit in sich birgt. Es ist eine den Zuhörer fordernde Platte mit den vielen lamentierenden Titeln und außermusikalischen Effekten. Bernd Hoppe