Oratorium der Grausamkeit

 

Auf rund 35 Quadratmetern verewigte Géricault in seinem 1819 entstandenen und heute im Louvre hängende Kolossalgemälde einen brandaktuellen Skandal, der kurz zuvor zur Entlassung des Marineministers und 200 Offizieren geführt hatte. Gerne hätte die französische Öffentlichkeit vergessen, was der Maler in La Radeau de la Méduse schilderte: die Überfahrt der französischen Fregatte Méduse, die nach dem Sturz Napoleons, nebst dem neuen Gouverneur, Seeleuten, Passagieren und Soldaten, rund 400 Personen in die wiedergewonnene Kolonie Senegal bringen sollte. Durch Unfähigkeit des Gouverneurs und des Kapitäns kommt es am 2. Juli 1816 zur Havarie, die Méduse läuft auf Grund, der Gouverneur und seine Familie, Offiziere und weitere Passagiere werden auf Rettungsboten in Sicherheit gebracht, die restlichen 147 Menschen werden auf einem seeuntüchtigen Floß sich selbst überlassen. Panik bricht aus. Es herrscht Gewalt. Kannibalismus. Die Schwachen werden über Bord geworfen. 15 Menschen werden schließlich geborgen, wovon an Land fünf sterben, auch das Besatzungsmitglied Jean-Charles, der ein Tagebuch der Gräuel führte.

Neben dem Fährmann Charon, der in der Mythologie die Toten in die Unterwelt bringt, fungiert Jean-Charles als einer der beiden Erzähler in Hans Werner Henzes vom NDR in Auftrag gegebenen „Oratorio volgare e militare“ mit dem Text des ehemaligen Intendanten des NWDR Ernst Schnabel, dessen Hamburger Uraufführung 1968 die Hörer am Radio in Form einer Aufzeichnung der Generalprobe, nicht aber die Besucher im Saal live erleben konnten. „Die Barometer standen auf Sturm“, schreibt Walter Weidringer im ungemein lesenswerten Text im Beiheft (SWR Classic 19082) über die Umstände der geplatzten Uraufführung vom Floß der Medusa.

Erst gut drei Jahrzehnte später – das Oratorium war inzwischen 1971 von Caridis in Wien uraufgeführt und u.a. von Kegel in Leipzig, Gierster in Nürnberg und Florenz, Rattle in London aufgeführt worden – holte Ingo Metzmacher, der sich schon in den 1990er Jahren für das Stück stark gemacht hatte, die Hamburger Aufführung nach. In Hamburg in der Elbphilharmonie entstand 2017 eine willkommene Neuaufnahme des Oratoriums mit dem SWR Symphonieorchester unter Peter Eötvös, die den zeitlos aufrüttelnden Charakter des Werkes unterstreicht – Weidringer nennt es zurecht eine „neue politische Dringlichkeit“ – und dessen historische Ereignisse Franzobel 2017 in seinem Roman Das Floß der Medusa mit geradezu besessener Ausmalung aller Grausamkeiten nochmals in Erinnerung rief.

Es beginnt wie ein Dokumentarspiel. Der große Peter Stein schildert im Prolog des Charon akribisch genau alle Umstände der Reise. Nach knapp 70 Minuten, in denen der Bariton Peter Schöne zurückhaltend als Jean-Charles fungierte, Camilla Nylund mit festem Sopran und oftmals verführerischen Tönen als Tod lockte (La Mort), der Chor (SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor, Freiburger Domsingknaben) sich, nachdem die größte Zahl der Chorsänger auf die Seite des Todes gewechselt ist, zuletzt auf 14 Lebende reduzierte, endet dieses aufrüttelnde Oratorium der Grausamkeit nüchtern mit Charons Worten: “Am 17. Juli 1816, vor sieben Uhr morgens, sichtete die Brigg „Argus“ das Floß der „Medusa“, der Mulatte Jean-Charles, der – den Blick auf das rettende Schiff gerichtet – den roten Fetzen geschwenkt hatte, lag in Agonie, als man ihn barg, und ist nicht mehr erwacht. Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück: belehrt von Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen“. Man ist gebannt. In einer Mischung aus Distanz und Überwältigung gestaltet Eötvös das Oratorium mit luzider Klarheit, klangsinnlich, aber auch zukrallend in den szenisch entworfenen Teilen zwischen Chor und den Protagonisten, ohne die theatralische Kraft der Medusa auszureizen und deshalb umso stärker in der Wirkung.   Rolf Fath