Irrtum ausgeschlossen, Brigitte Fassbaender wird achtzig!!! Die Deutsche Grammophon (00289 483 6913) und Warner (6829682) feiern sie mit großen Editionen. Geboren ist sie am 3. Juli 1939 in Berlin, wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Der Vater, Willi Domgraf-Fassbaender, ein berühmter Sänger, die Mutter, Sabine Peters, eine nicht minder bekannte Schauspielerin. Gemeinsam konnte die Zehnjährige die Eltern sogar im Kino sehen. Im Defa-Film Figaros Hochzeit, der 1949 nach Mozarts Oper gedreht wurde, spielte und sang Domgraf-Fassbaender die Titelrolle, die Peters spielte die Gräfin, der Tina Lemnitz ihre Stimme gab. Den ersten Gesangsunterricht bekam sie beim Vater, der ihr einziger Lehrer blieb. Von der Mutter erbte sie zusätzliches schauspielerisches Talent. Mit solchen Voraussetzungen war der Weg vorgezeichnet. Indem Tochter Brigitte Sängerin wurde, schien sich ein Naturgesetz zu vollziehen. Ihren Aufstieg in den Weltruhm konnten die Eltern noch verfolgen.
Die Fassbaender hat alles erreicht, was eine Sängerin erreichen kann. Wien, Mailand, New York, Paris, London, Salzburg, München, Buenos Aires, Glyndebourne, Chicago, Berlin, Bayreuth. Keines der großen Häuser, keines der wichtigen Festivals fehlt in ihrer Statistik. Kaum eine Rolle ihres Fachs, die sie nicht gesungen hat. Auf den Octavian im Rosenkavalier hatte sie ein Abo. Eboli, Carmen, Dorabella, Brangäne, Waltraute, Fricka, Herodias, Sesto, Hänsel, Azucena, Orlofsky, Werther-Charlotte, Marina, Amme, Gräfin Geschwitz, später dann Klytämnestra. In München fing sie 1961 ganz klein an. Als burschikose Resi wirkte sie 1963 in der abgefilmten Inszenierung von Straussens Intermezzo aus dem Cuvilliés-Theater mit, stimmlich schon unverkennbar. Und bei der auch auf Platte (Deutsche Grammophon) festgehaltenen Festaufführung der Strauss-Oper Die Frau ohne Schatten zur Eröffnung des wiederaufgebauten Nationaltheaters in selben Jahr ist sie unter den Dienerinnen und den Stimmen der Ungeborenen. Es braucht allerdings sehr viel Phantasie und gute Kopfhörer, sie aus diesem kleinen, aber prominent besetzten Chor herauszuhören.
Als erste offizielle Plattenaufnahme gilt die Szene der Kuhmagd Lisi in der Operette Der fidele Bauer von Leo Fall, die ihrem unehelichen Sohn Heinerle bei einem Bummel über den Jahrmarkt jeden Wunsch verweigern muss, weil sie „kein Geld“ hat. Einspielt wurde das anrührende kleine Duett 1963 als Bestandteil eines Querschnitts durch das Stück. Nicht zuletzt wegen der Mitwirkung von Fritz Wunderlich verschwand die Platte nie vom Markt und fand als Lizenz sogar den Weg in die DDR. Wenngleich sie für Wunderlich eine von sehr vielen ist, erweist sie sich in Bezug auf die Jubilarin als Glücksfall, weil die Begabung der Anfängerin so genau abgebildet wird. Schon damals dürfte klar gewesen sein: Aus der wird mal was! In der Warner-Sammlung ist das Duett mit dem Knabenalt Wolfgang Eber, das im Booklet aus unerfindlichen Gründen als Arie bezeichnet wird, dankenswerterweise zu finden. Es ist neben dem schon erwähnter Orlofsky, der mit seinen beiden Soli aus der Electrola-Gesamteinspielung unter Willi Boskovsky zu hören ist, nicht der einzige Ausflug in die Operette. Warner hat auch Szenen aus Heubergers Opernball, Offenbachs Schöner Helena, Zellers Vogelhändler und dem Walzertraum von Straus im Angebot, während die Grammophon in ihrer elf CDs umfassenden Edition die Orlofsky-Szenen aus der Decca-Produktion unter André Previn als Rausschmeißer an den Schluss setzt.
Der Liedgesang hielt sich bei Brigitte Fassbaender in der Gesamtschau auf ihr Lebenswerk mit der Oper in etwa die Waage. In beiden Editionen gibt es allerdings einen deutlichen Ausschlag zugunsten des Liedes. „Man muss sich erst in der Oper einen Namen machen, um das Publikum in einen Liederabend zu locken“, sagt sie rückblickend in einem Interview mit dem Musikschriftsteller Thomas Voigt, das im Grammophon-Booklet abgedruckt ist. „Aber ich habe von Anfang an Konzert- und Liedgesang intensiv mit einbezogen. In meinen letzten Jahren habe ich allerdings hauptsächlich Lieder gesungen. Ich finde, da gibt es einfach mehr zu entdecken.“ Von dieser Erkenntnis dürften sich auch Musikproduzenten und Firmen haben leiten lassen, die sie häufig für Liedaufnahmen ins Studio holten. Solche Platten gingen immer und waren auch kostengünstiger herzustellen. Als Liedinterpretin war die Fassbaender in guter Gesellschaft. Kolleginnen und Kollegen wie Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig, Dietrich Fischer-Dieskau, Lisa Della Casa, Irmgard Seefried, Hermann Prey, Ernst Haefliger, Janes Baker oder Peter Schreier hatten durch ihre mustergültigen Einspielungen und Konzerte dem Lied zu ungeahnter Popularität verholfen. Wie kaum eine andere Sängerin bemächtigte sich Brigitte Fassbaender mit der Winterreise, der Schönen Müllerin oder der Dichterliebe sehr entschlossen und komplex Werke, die nach wie vor als Männerdomäne gelten. Sie löste diese Zyklen aus der tradierten Betroffenenperspektive heraus und fand nach den ersten bescheidenen Anfängen von Lotte Lehmann aus den 1940er Jahren einen Deutungsansatz, der die Geschlechterrolle bei der Interpretation aufhebt, wenigstens aber zurückstellt. Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, der Schauer oder das Unbewusste sind hinfort nicht mehr nur männlich. Inzwischen gibt es zahlreiche Interpretationen durch Frauen.
Während Winterreise und Dichterliebe mit Aribert Reimann, einem ihrer bevorzugten Begleiter, bei Warner zu finden sind, erweitert die Grammophon mit Schöner Müllerin und Schwanengesang – wieder in Zusammenwirken mit Reimann – das Spektrum der Sängerin. Besonderer Erwähnung bedarf die Müllerin. Schubert hatte 1823 nicht alle Lieder der gleichnamigen Gedichtsammlung von Wilhelm Müller, die von einem Prolog und einem Epilog eingefasst ist, komponiert. Weggelassen wurden „Das Mühlenleben“ (Nummer 8), „Erster Schmerz, letzter Schmerz“ (18) und „Blümlein Vergießmein“ (21). Der ironische Grundton der einleitenden und abschließenden Betrachtungen, die dem Zyklus eine völlig andere Perspektive geben, waren Schuberts Sache nicht. 1961 hatte Dietrich Fischer-Dieskau, der auch ein vorzüglicher Rezitator war, bei der EMI eine Aufnahme mit Prolog und Epilog vorgelegt, auf den Einschub der nicht vertonten Titel aber verzichtet. Folglich musste er im Epilog jene Zeilen weglassen, die sich nämlich auf die Tatsache beziehen, dass der Zyklus aus insgesamt fünfundzwanzig Gedichten besteht. Die Fassbaender überwindet diese Rumpflösung, indem sie an den richtigen Stellen die restlichen drei Gedichte gesprochen einfügt und folglich auch nicht im Epilog streichen muss. Das macht ihre Einspielung so einzigartig.
Anregungen für Vergleiche und Gegenüberstellungen bieten sich – ebenfalls bei Grammophon – mit dem Zyklus Frauenliebe und -leben nach Gedichten von Adelbert von Chamisso an, die 1830 veröffentlicht wurden. Carl Loewe hat die Sammlung 1836 als erster vertont, Schumanns Komposition entstand 1840. Dazwischen liegt 1839 Franz Lachner. Loewe, der seine Komposition mit Frauenliebe überschreibt, nahm sich aller neun Lieder an, führte das letzte, das Schumann ignoriert hat, mit melodramatischer Einlage zum Höhepunkt des Werkes. Im dem Interview mit Thomas Voigt kommt die Sängerin zu dem bemerkenswerten Schluss, dass sich Loewes Zyklus „viel leichter als Schumanns Version“ erschließt. Neben der Frauenliebe hat die Fassbaender noch weitere fünfzehn Loewe-Gesänge im Angebot und erweist sich damit als eine weitsichtige Vorkämpferinnen für diesen Komponisten. Das ist nicht alles. Noch mehr Schubert gibt es in beiden Sammlungen, ebenso Hugo Wolf und Gustav Mahler. Franz Liszt, Richard Strauss, Johannes Brahms, Antonin Dvorák und Modest Mussorgsky fallen bei der Grammophon ins Gewicht, während Warner mit Mendelssohn Bartholdy und dem Buch der hängenden Gärten von Arnold Schoenberg punkten kann.
Die Opern- und Operettenabteilung ist hier wie da nicht optimal ausgestattet. Warner greift auf einzelne Titel wie die bereits erwähnte Szene aus dem Fidelen Bauer zurück, bedient sich bei einem deutsch gesungenen Querschnitt durch Verdis Don Carlos mit Auftritten der Eboli, fischt die Gräfin Geschwitz aus der Lulu unter Jeffrey Tate, die Jocaste aus Enescus Oedipe mit Lawrance Foster am Pult und die Nancy aus der von Robert Heger geleiteten Martha heraus. Die Grammophon geht auch ans Eingemachte, stutzt Giulinis Trovatore-Gesamtaufnahme auf eine Azucena-Szenenfolge zurecht, pickt aus dem Tristan Kleibers zwei Stellen mit der Brangäne, einschließlich Wachgesang, heraus, entsinnt sich der rasanten frühen Archiv-Produktion von Scarlattis Il giardino d’amore aus dem Jahre 1964, die drei Szenen der Venere hergibt. Mozart bildet einen Schwerpunkt für sich mit Ausschnitten aus Gesamteinspielungen von La clemenza di Tito (Annio/Istvan Kertesz), La finta giardiniera (Don Ramiro/Leopold Hager) und Cosi fan tutte (Dorabella/Karl Böhm). Einige Schnipsel aus Hänsel und Gretel, die der Produktion der Humperdinck-Oper mit Georg Solti entnommen sind und gute sechs Minuten Pfitznerscher Palestrina (Silla/Rafael Kubelik) dienen mehr der Dokumentation von Repertoire denn als künstlerischer Beleg. Teils noch herber fallen die Schnitte bei diversen Oratorien und Messen aus. Bei Warner schrumpfen die Petit Messe solenelle von Rossini (mit Hamonium/Stephen Cleobury), die Johannespassion (Wolfgang Gönnenwein) und die Mass in B minor (Eugen Jochum) auf jeweils zwei, Schumanns Paradies und die Peri (Henryk Czyz) auf drei Nummern zusammen, und Das Lied von der Erde der Grammophon (Carlo Maria Giulini) besteht nur aus der Altpartie. Es braucht schon einiges Hintergrundwissen, um den Flickenteppich zu ergänzen. In beiden Editionen werden zwar alle Aufnahmedaten genau aufgelistet, es fehlen aber die Hinweise auf Gesamtaufnahmen, wenn Arien und Duette solchen entlehnt sind.
Für Mitte Oktober sind bei C.H. Beck ihre Memoiren „Komm‘ aus dem Staunen nicht heraus“ angekündigt. Auf dem Titel ein Rollenfoto als Octavian, der in den Editionen übrigens keine Berücksichtigung findet. Das Zitat aber, das dem Buch seinen Namen gibt, stammt von Ochs aus dem dritten Aufzug des Rosenkavalier, als er die pikanten Zusammenhänge und Verbindungen zwischen den handelnden Personen durchschaut. Eine ganz zufällige Wahl? Wohl kaum. Staunen dürfte eine der maßgeblichen Eigenschaften dieser umtriebigen Künstlerin sein, die ihr künstlerisches Wirken mit dem Sängerberuf nicht auf sich beruhen ließ. Wer staunen kann, findet sich nicht mit den jeweiligen Gegebenheiten ab. Als gehe es erst danach richtig los, wurde sie Spielleiterin, Operndirektorin, Intendantin, stand Gesangswettbewerben vor, gab Meisterklassen und widmete sich mit Hingabe dem Sängernachwuchs. Als Nachfolgerin von Wolfgang Sawallisch war sie zwischen 2005 und 2017 Vorsitzende der Richard-Strauss-Gesellschaft. Die maßstäbliche Einspielung sämtlicher Klavierlieder des Komponisten geht auf sie zurück. Sie begnügte sich aber nicht nur mit der Rolle der Mentorin. Kurzerhand übernahm sie bei den beiden Melodramen – „Enoch Arden“ und „Das Schloss am Meere“ – die Rezitation. Jetzt ist Brigitte Fassbaender vermehrt als Opernregisseurin unterwegs. Für die nächsten Jahre ist sogar ein kompletter Ring im Gespräch. Wie drückte sich der Komponist und Begleiter der Sängerin Aribert Reimann aus? „Eine großartige Persönlichkeit, die in allem, was sie vollbracht und erreicht hat, immer mit der ihr eigenen Sprache so unendlich vieles bewegen konnte.“ Und immer noch kann. Rüdiger Winter (Foto oben (© Susesch Bayat) ist ein Ausschnitt dem Booklet der Edition der Deutschen Grammophon).