Erst auf Seite 122 wird das Rätsel des wild-genialischen Kringels auf dem Cover des gerade erschienenen Buch von Daniel Barenboim und Michael Naumann gelöst: Es handelt sich um die entschlossene Abkehr des Architekten Frank Gehry vom vorgesehenen rechteckigen Entwurf für den Berliner Pierre Boulez Saal der Barenboim – Said Akademie, den sich der Dirigent jedoch als Ellipse vorgestellt hatte. Der Klang der Utopie ist der Titel des Buches, der von der Einsicht spricht, dass man allein mit Musik nichts an den vertrackten Verhältnissen im Nahen Osten ändern kann, was nichts daran ändert, dass immerhin das nun schon Jahre dauernde gemeinsame Orchesterspiel im West-Eastern Divan Orchestra zumindest das Erhaschen eines Zipfels dieser Utopie vom friedlichen Zusammenleben bedeutet.
Das Buch zeichnet mit vielen attraktiven Fotos und angenehm kurzen, aber aussagestarken Artikeln den Weg von der Idee zu einem Orchester aus Israelis und Arabern bis zur Gründung einer Akademie, auf der diese ausgebildet werden, nach, dazu kommt die Geschichte des Gebäudes, das sich in unmittelbarer Nähe zur Staatsoper als deren einstiges Depot befindet. Mitautor neben Barenboim ist der Gründungs- und jetzige Rektor der Barenboim-Said-Akademie, auf der seit 2016 in einem vierjährigen Studiengang junge Musiker nicht nur in ihrem Metier, sondern auch in Geisteswissenschaften, alles in englischer Sprache, unterrichtet werden.
Das Buch gliedert sich in vier Abschnitte, beginnend mit Wie alles begann, als nämlich Barenboim und Said sich zufällig in der Lobby eines Londoner Hotels begegneten, fortfahrend mit dem Bau des Gebäudes in den Jahren 2012 bis 2016 und Die Akademie im Jahre 2016 und schließlich endend mit Der Pierre Boulez Saal 2017.
Wie die Studentenschaft kommen die beiden Gründer des Unternehmens aus den beiden feindlichen Lagern, mit dem Unterschied zu vielen anderen, dass sie auch dem Gegenüber das Recht auf einen eigenen Staat stets zubilligten. Bereits 1999 veranstalteten sie in der damaligen Kulturhauptstadt Weimar Workshops für Israelis und Araber, das Orchester wurde geboren, und Geburtswehen stellten sich immer wieder ein, wie zahlreiche kurze Aussagen der jungen Leute von den Skrupeln und Vorurteilen künden, die es auf beiden Seiten gab, insbesondere dann, wenn die politische Lage sich zuspitzte wie während des zweiten Libanon-Kriegs. Das Ramallah-Konzert und die Frage, ob man Wagners Musik spielen dürfe, werden berücksichtigt.
Im zweiten Abschnitt geht es um die pädagogischen Projekte, zu denen nicht nur Musikinstitute in Ramallah und Nazareth, sondern auch ein Musikkindergarten in Berlin zählt, dem Ziel verpflichtet, durch die Musik zum Leben zu bringen.
Das dritte Kapitel schließlich befasst sich mit der Barenboim-Said-Akademie, einer Geschichte vom Kampf gegen vielerlei Widerstände, nicht zuletzt von der Berliner Bürokratie verantwortet und mit viel Humor verarbeitet. Ein Drittel der Studienzeit fällt auf eine humanistische Ausbildung mit dem Ideal multipler Identitätsflüsse.
Das vierte und letzte Kapitel widmet sich dem Pierre Boulez Saal, berichtet von der Freundschaft, die sich zwischen Boulez und Barenboim seit 1964 entwickelte, von der Gründung des Boulez Ensembles durch Daniel Barenboim, aber auch vom Architekten Frank Gehry, dem nicht nur der Kringel zu verdanken ist, der den Einband des interessanten und angenehm klar gegliederten Buches schmückt.
Das Buch zieht Bilanz und gestattet zugleich einen Blick in eine vielleicht doch durch die Wirkung der Musik und das gemeinsame Musizieren von Israelis und Arabern etwas friedlicher gewordene Welt (224 Seiten, Henschel Verlag 2018; ISBN 978-3-89487-799-6). Ingrid Wanja