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Ein Gang durch Oberitaliens kleine Städte wie Lucca oder Savona bringt in Architektur und Kunst vor allem die Jahrhundertwende um 1900 zu Bewusstsein. Die eleganten Promenaden, die herrlichen Cafés im Jugendstil, die lichtdurchfluteten Passagen voller großbürgerlicher Geschäfte mit ihren farbenfrohen Auslagen, die schmiedeeisernen Dekorationen an den Häusern, der Bögen und Portale der frivolen Karyatiden erinnern an diese reiche, morbide Zeit Italiens des aufkommenden Industriezeitalters, der Dichtung D´Annunzios, der Duse, der Verstrickungen in Großmannssucht und Eroberungsdrang, schnelles Geld und Aufbruch.
Irgendwie weht ein anderer Wind hier. Man öffnet sich als nördlicher Besucher für die Nostalgie an einem nebligen Herbsttag, der das Licht in besonderem Maße filtert und die Grünanlagen und letzten Sonnenschirme im abendlichen Dunst bizarr verwandelt aussehen lässt. Man kann sich vorstellen, wie die elegant gekleideten Bürger der Stadt in die bezaubernden Ottocento-Theater zur Premiere strömten – jede dieser kleinen Städte hat diese typischen 80ger Theaterbauten mit ihren Goldmosaiken über dem Eingang und den Sälen in Rot und Gold, dazu die Deckengemälde voller mythologischer Figren, Melpone neben Concordia oder Euterpe in den Saal-Ecken überdimensional. Es war eine Epoche der delektablen, wenngleich auch sehr hohlen Dekoration, des Scheinbaren, des Morbiden. Dem Bedürfnis nach heiler Welt, nach Überzuckerung für die Bourgeoisie setzten die jungen Veristen die Hässlichkeit der Welt entgegen, die Gemeinheit des Arbeiterlebens, auf dem der Reichtum der upper class nun im Industriezeitalter beruhte. Unter der schönen Oberfläche brodelte es.
Keine Angst, es wird nicht noch lyrischer – aber beim Anhören der beiden (!) neuen Einspielungen von Lamberto Pavanellis Monna Vanna, die uns aus Italien erreichten, überkamen mich diese Erinnerungen an meine Besuche in Savona, an eben diese Eindrücke in Italiens nebligem Norden. Denn dazu passen Sujet und Komponist.
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Ein wenig verwirrt muss der Musikfan erstmal sortieren, dass es zwei Aufnahmen von Pavanellis Oper mit dem Namen Bongiovanni gibt. Felicia Bongiovanni ist nicht mit der Bologneser Firrma gleichen Namens verwandt, singt erfolgreich Oper und 2016 in Bergamo erstmals die Titelrolle in dem Mitschnitt, der Sammlern vorliegt (die Redaktion hilft weiter). Ihre schöne, leuchtende Sopranstimme führt die restliche kompetente Besetzung an (Ernesto Morillo, Giorgio Valenta, Mariello Credo und andere) unter der Leitung von Vito Lo Re am Pult der Bergamasker Kräfte. Dies ist eine Privataufnahme mit allen akustischen Bedingungen ihres Genres und wegen der interessanten Stimme der Signora Bongiovanni habenswert.
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Die andere, offizielle Einspielung ist eine Studioaufnahme unter demselben Dirigenten vom März 2017 in Mailand bei der verdienten Firma Bongiovanni. Nun ist Elyse Charlebois die Vanna neben George Cebrian, Sebastian Ferrada, Carlo Torriani und weiteren. Vito Lo Re dirigiert jetzt die Sinfonietta di Milano, und das Ganze passt mit 44 Minuten auf eine CD (GB 2493-2). Dem Booklet haben wir den nachfolgenden Text von Carlo Curami und Carlo Torrfani in unserer Übersetzung von Daniel Hauser übernommen. G. H.
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Monna Vanna stammt aus der Epoche des Aufbruchs aber auch des letzten Verharrens in einer vergangenen großen Zeit. Ein Wort zur Geschichte: Während einer langen liberaleren politischen Phase stieg das Königreich Italien unter König Umberto I. 1878 zur Großmacht auf und beteiligte sich ab den 1880er Jahren am kolonialen Wettlauf um Afrika, wo es mehrere Kolonialkriege in Ostafrika und von 1911 bis 1912 um das spätere Italienisch-Libyen einen Krieg gegen das Osmanisches Reich führte. 1882 wurde mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn die Allianz des Dreibundes geschlossen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich Italien von einem Agrarstaat zum, zusammen mit Frankreich und Österreich-Ungarn, bedeutendsten Industrieland des Mittelmeerraums gewandelt. (…)
Die Gründung des Königreichs 1861 erfolgte im Zuge der Risorgimentobewegungen, in deren Endphase mit der Proklamation des sardischen Königs Viktor Emanuel II. zum König von Italien am 17. März 1861 in Turin der erste moderne italienische Nationalstaat unter der Herrschaft des Hauses Savoyen entstanden war. 1866 erklärte er dem Kaisertum Österreich den Krieg und erwarb Venetien mit Friaul. 1871 folgte der Kirchenstaat mit Rom, womit die italienischen Unabhängigkeitskriege endeten. Während einer langen liberaleren politischen Phase stieg das Königreich Italien unter König Umberto I. 1878 zur Großmacht auf und beteiligte sich ab den 1880er Jahren am kolonialen Wettlauf um Afrika, wo es mehrere Kolonialkriege in Ostafrika und von 1911 bis 1912 um das spätere Italienisch-Libyen einen Krieg gegen das Osmanisches Reich führte. 1882 wurde mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn die Allianz des Dreibundes geschlossen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich Italien von einem Agrarstaat zum, zusammen mit Frankreich und Österreich-Ungarn, bedeutendsten Industrieland des Mittelmeerraums gewandelt. Es kam unter Umbertos Nachfolger Viktor Emanuel III. ab 1900 in den großen industriellen Ballungszentren Oberitaliens zum Aufstieg der organisierten Arbeiterschaft und des Bürgertums sowie von Massenverbänden und -parteien. Im Süden hielt der wirtschaftliche Aufschwung dagegen nur langsam Einzug (Dank an Wikipedia)
In dieser ganz besonderen Zeit des Aufbruchs in Großmannssucht und Expansion (man denke an Montemezzis Oper La Nave, in der am Ende die Jungfrau angenagelt an den Schiffsbug den Weg in die Ferna, nach Äthiopien weist) gab es viele musikalische Entsprechungen zur Lage Italiens, namentlich in der Hinwendung an die glorreiche Geschichte des Landes. Franco Alfano, Italo Montemezzi, Ottorino Respighi, Leoncavallo, Mascagni, Giordano, Ricardo Zandonai zählen zu den bekannsten Komponisten neben dem jungen Giacomo Puccini nach dem Tode Verdis 1901.
Aber es gab natürlich noch weitere, uns heute völlig unbekannte, die die musikalische Landschaft des aufkommenden Verismo in dieser Zeit belebten. Dazu gehört Lamberto Pavanelli, dessen Monna Vanna 1910 (bereits im Verlag Ricordi!) in Mailand vorgestellt wurde. 1902 hatte Maurice Maeterlinck bereits das Theaterstück gleichen Namens in Paris uraufgeführt und damit eine Ikone des Symbolismus geschaffen, auch als Gegenentwurf zur immer bedrohlicher werdenden Wirklichkeit. Maeterlinck schildert die Geschichte einer Frau im Pisa des ausgehenden Cinquecento, Monna Vanna, die eine Nacht im Zelt des Florentiner Heerführers Prinzivalles verbringen muss, damit dieser die Stadt schont. Monna Vanna und der Feldherr, die sich schon seit Jugendtagen kennen, verbringen eine Nacht in gegenseitiger Hochachtung und Verehrung ohne Zwischenfälle; sie werden Freunde. Als Monna Vanna nach Pisa zurückkehrt, muss sie erfahren, dass sie trotz aller Beteuerungen das Vertrauen ihres Mannes, des Garnisonschefs Colonna, verloren hat. Zu den ganz großen Interpretinnen gehörte in Italien Leonora Duse. 1909 folgte die erste Oper über dieses Sujet von Henry Fevrier, ebenfalls in Paris (die flamboyante Lucienne Breval führte die Oper zum Erfolg) . Lamberto Pavanellis Komposition war dann die erste italienische. Schließlich gibt es noch die unvollendete Oper von Rachmaninoff (1908), die Igor Burketoff 1984 in seiner Bearbeitung in Philadelphia vorstellte und die in dieser Fassung bei Chandos herausgekommen ist G. H.
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Und nun der Text von Carlo Curami, Carlo Torrfani. Wer war Lamberto Pavanelli? Er war in seinem kurzen Leben alles andere als ein unbedeutender Komponist und gehörte zu jener Gruppe von Musikern, die als die in der zweiten Reihe stehenden Veristen bezeichnet wurden, deren Wiederentdeckung indes lohnenswert wäre, schon deswegen, um einige Lücken in der Musikgeschichte zu füllen und sich abseits von Leoncavallo, Mascagni, Giordano und einigen weiteren zu bewegen.
Lamberto Pavanelli wurde 1890 in Ferrara geboren, etablierte sich indes bereits in jungen Jahren in Imola, wo er am dortigen Konservatorium Klavier und Komposition studierte. Es ist nichts über sein Debüt als Musiker bekannt, aber er muss sehr bald bemerkt worden sein, da er, als er gerade ein wenig älter als zwanzig war, die Aufmerksamkeit des Verlages Casa Ricordi auf sich zog, welcher seine Vanna im Teatro Dal Verme, einem seinerzeit prestigeträchtigen Theater in Mailand, zur Aufführung brachte. Diese Oper wurde am 23. November 1910 aufgeführt; unter den Sängern befanden sich einige der größten Stars des Verismo, darunter Lia Remondini (Vanna), Ricceri Angelo (Francesco di Pace), Giulio Rotondi (Sampiero) und Romano Constantini (Roberto). Heutzutage zaubern uns diese Namen ein Lächeln ins Gesicht und wecken Neugier, doch waren sie zu jener Zeit (der goldenen Ära der italienischen Oper) oftmals Gäste an den wichtigsten Opernhäusern. Vanna erzielte zumindest einen Achtungserfolg, mehr allerdings auch nicht.
Der junge Komponist hat sich nie wieder an diesem Werk versucht und seinen schöpferischen Impuls auf zielstrebigere Projekte gerichtet, darunter das Operetten-Genre: Kiss Kiss (1920 mit einem Libretto von Carlo Zangarini im Teatro Fossati in Mailand uraufgeführt), Bon-bon (1923 mit einem Libretto von Arturo Franci im Teatro Eliseo in Rom uraufgeführt) sowie Ich und du oder: Zwei auf der Insel (1926 im Neuen Deutschen Theater in Prag uraufgeführt, Libretto von Fritz Grunbaum und Willy Sterk). Pavanelli hatte jedoch seinen wahren Erfolg mit Kammermusik (Chasse aux papillons, Impromptu dances, Petit bal d’efants sowie Capriccio, alle für Klavier) und, mehr noch, mit Salonmusik-Romanzen, die einen melancholischen, subtilen Flair verströmten. Einige Titel sind in diesem Sinne von Bedeutung: Pianto Antico (nach einem berühmten Gedicht von Giosue Carducci), Roseto Bianco (Text von Ettore Neri), La Viorna e Solicchio (beide mit Text von Antonio Beltramelli), Foglia di Rosa, Nostalgia, D’autunno, Piccola voce und Voci Iontane, zu denen Luigi Orsini den Text beisteuerte. Über Orsini sollte in diesem Zusammenhang auch etwas gesagt werden, war er doch ebenfalls der Librettist von Vanna. Er wurde 1873 in Imola geboren und war ein außergewöhnlicher Dichter und Publizist, Librettist und Dozent. Im Jahre 1904 gründete er mit Gaetano Gasperoni die Zeitschrift La romagna nella storia, nella lettere e nelle arti. Später arbeitete er für wichtige Blätter wie Il Popolo d’Italia, Il Resto del Carlino, Regime Fascista und L’Illustrazione italiana. 1911 wurde er Professor für Dichtung und Drama am Königlichen Konservatorium von Mailand, wo er bis 1939 unterrichtete. Er starb 1954 in seiner Heimatstadt Imola.
Doch zurück zu Vanna: Es handelt sich um eine exquisite Partitur, die ein typisches Realismus-Libretto verklärt, mit einer Orchestrierung, die manchmal beinahe einen Touch von Ravel hat. Bereits die einleitende Ouvertüre hat Anklänge des drohenden Dramas, darunter eine Totenglocke, die am Ende der Oper wiederum erklingt. Die Charaktere sind gut konstruiert: Die Hauptfigur wird seit ihrem ersten Auftritt als junges Mädchen präsentiert, das verliebt ist und dem alles andere gleichgültig erscheint. Exemplarisch ist in diesem Sinne die schöne Romanze Anima mia di neve, ricordi?, womöglich die bedeutendste Stelle der gesamten Partitur. Die anderen Personen, vom leidenschaftlichen Sampiero über den väterlichen Francesco bis schließlich zum einfältigen Roberto, finden in Pavanellis Musik die richtigen Akzente, um ihre Charaktereigenschaften zu definieren. Sehr interessant ist die Verwendung des Chores mit verschobenen Akzenten, die womöglich eine volkstümliche, bäuerische Art widerspiegeln sollen.
Ist nun ein Meisterwerk wiederentdeckt? Sicherlich nicht. Gleichwohl ist eine gut angelegte Oper jedoch von viel größerem historischen Interesse. Auf der anderen Seite starb Pavanelli 1927 in Varese, vielleicht zu jung, um ein Meisterwerk zu hinterlassen, das seinem Stil entsprach. Womöglich könnte diese Version von Vanna einem der vielen talentierten Schöpfer gerecht werden, mit denen die italienische Musik so gesegnet ist. Carlo Curami, Carlo Torrfani (Übersetzung Daniel Hauser)
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Dank an Felicia Bongiovanni, der wir die Anregung zur Entdeckung dieser seltenen Oper verdanken, ihre website präsentiert sie in all ihrer blonden und charmanten Persönlichkeit, ein wenig Italienisch sollte man können.
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Zur Aufbruchszeit des beginnenden 20. Jahrhunderts auch den Beitrag von David Chandler in seinem Artikel zu La Nave Montemezzis in operalounge.de. Monna Vanna gab es auch verfilmt: Monna Vanna (1916), US-amerikanischer Spielfilm von Mario Caserini aus dem Jahr 1916; Monna Vanna (1917), deutscher Spielfilm von Eugen Illés aus dem Jahr 1917; Monna Vanna (1922), deutscher Spielfilm von Richard Eichberg aus dem Jahr 1922, der auch in den USA lief (s. oben). Abbildung oben: Nude Mona Lisa by Salai (Gian Giacomo Caprotti)/ Wikipedia
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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge findet sich auf dieser Serie hier.