Walter Berry als Gärtner Antonio in Mozarts Oper Le nozze die Figaro. Das muss lange her sein. Ist es auch. 1954 gastierte die Wiener Staatsoper in der Londoner Royal Festival Hall, die erst drei Jahre zuvor eröffnet worden war. Es war der 13. September, und es sollte noch mehr als ein Jahr vergehen, bis die Gäste aus Österreich in ihr wieder aufgebautes Stammhaus am Ring zurückkehren konnten. Gastspiele förderten den internationalen Ruf als Mozartensembles. Ica Classics hat den Mitschnitt ausgegraben (ICAC 5147). Der Klang ist superb. Über ein ganz leichtes, den historischen Umständen des Mitschnitts der BBC geschuldetes Grundrauschen der Bänder erhebt sich ein durch und durch prachtvoller Sound.
Karl Böhm, der die Aufführung in italienischer Sprache leitete und die Rezitative vom Klavier begleiten ließ, hatte gerade seine zweite Amtszeit als Direktor der Wiener Staatsoper angetreten. Seinen Elan übertrug er auch in die Aufführung. Er wählte einen zügigen und zupackenden Vortragsstil, der über weite Strecken aus dem Figaro – auf Kosten von Sinnlichkeit – eine betont dramatische Oper machte. Schon die Ouvertüre setzt mit einer unverhofften Wucht ein, die eher an Don Giovanni denken lässt denn an den Figaro. Indem Böhm dieses Konzept bis zum Schluss konsequent durchhielt, erscheint es noch heute als eine höchst ambitionierte Möglichkeit der Interpretation von Mozarts Oper. Die Solisten hatten damit nicht das geringste Problem. Sie folgten ihrem strengen Chef am Pult nahezu sklavisch und ließen sich auf diesen „tollen Tag“, wie ihn die literarische Vorlage von Beaumarchais schon im verlängerten Titel vorgibt, mit Lust, Hingabe und Disziplin ein. Es wackelte nichts. Weil die Sänger so sicher vorbereitet waren, konnten sie alle Energie in die Gestaltung und Interpretation werfen.
Bis in die kleinen Rollen war die Besetzung prominent, ja erlesen. Erich Kunz sang den Figaro, Paul Schöffler den Conte Almaviva, der nach heutigen Vorstellungen deutlich zu alt wirkte. Irmgard Seefried ließ als tüchtige Susanna im Vergleich mit der etwas spröden und reservierten Lisa della Casa als Contessa nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie die treibende Kraft des Geschehens ist. Als liebestoller Page Cherubino schien Sena Jurinac aus allen erotischen Nähten zu platzen. Rosette Anday, die in Wien selbst als Cherubino begonnen hatte, war inzwischen bei der Marcellina angelangt, die sie – um ihre Arie von der Ziege und dem Ziegenbock beraubt -, mit einem Schuss Wagnerscher Fricka versah. Hingegen behielt Anny Felbermeyer als Barbarina ihre kleine Kavatine von der verlorenen Nadel, während dem Basilio von Murray Dickie die ausführlichen Erinnerungen an seine Jugend gegen das Ende der Oper ebenfalls gestrichen wurden.
Und Berry, der am Beginn seiner erfolgreichen internationale Karriere stand und in den folgenden Aufführungen bei dem Gastspiel selbst die Titelpartie sang, war als Gärtner, der in das rasante Finale des zweiten Aktes mit der Meldung hineinplatz, das man eben einen Menschen aus dem Fernster geworfen habe, purer Luxus. Ein gewolltes szenisches Durcheinander muss es auch auf dem Podium gegeben haben, denn das Publikum geriet selbst voller Begeisterung aus dem Häuschen. Der Bartolo war Oskar Czerwenka und der Don Curzio William Wernigh. Böhm wäre aufgeschmissen gewesen ohne diese Solisten, die in dem von ihm entfesselten musikalischen Tumult die Nerven behielten und auf Linie blieben. Rüdiger Winter