Der Name Victor de Sabata (1892-1967) ist vermutlich den allermeisten Klassikfreunden ein Begriff, auch wenn sich seine heutige Bekanntheit wohl zum größten Teil einzig aus der Tatsache ableitet, dass de Sabata die hochberühmte EMI/Warner-Einspielung der Tosca mit Maria Callas, Giuseppe Di Stefano und Tito Gobbi aus dem Jahre 1953 verantwortete, die zu den großartigsten Opernaufnahmen aller Zeiten gerechnet wird. Trotz seines unbestreitbaren Beitrages hierzu täte man de Sabata indes grob Unrecht, reduzierte man ihn zum reinen Operndirigenten – dieses Schicksal teilt er mit seinem Landsmann Tullio Serafin. Dass de Sabata trotz seiner über zwanzigjährigen Amtszeit als Chefdirigent der Mailänder Scala (1930-1953) weit mehr war, lässt sich anhand der vier CDs umfassenden Neuerscheinung der Deutschen Grammophon (4CD DG 00289 479 8196) anlässlich seines 50. Todestages nun auch tatsächlich nachvollziehen. Enthalten sind neben sechs Einspielungen der DG von 1939 mit den Berliner Philharmonikern fünf Aufnahmen der Decca mit dem London Philharmonic Orchestra von 1946. Abgerundet wird dies durch eine 1941 entstandene italienische Einspielung des Requiems von Mozart, die ursprünglich von Cetra herausgebracht wurde. Man hat insofern Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsaufnahmen versammelt.
Anders als der eine Generation ältere Arturo Toscanini bediente sich Victor de Sabata eines deutlich subjektiveren Dirigierstils, der eher noch an Wilhelm Furtwängler, den großen Antagonisten Toscaninis, erinnert. Mit ersterem verstand sich de Sabata, mit letzterem überwarf er sich viele Jahre lang aus politischen Gründen. Die Nähe zu Furtwängler wird bereits in de Sabatas Einspielung der Eroica von Beethoven deutlich, dem umfangreichsten sinfonischen Einzelwerk in der Box. Trotz der eingeschränkten Klangqualität lässt sich eine große Dynamikbandbreite feststellen, die insbesondere im Trauermarsch zutage tritt und den Satz in ein Wechselbad zwischen zurückhaltender Verinnerlichung und expressiver Ausdruckskraft verwandelt. Die ausgeklügelte Agogik ist im ganzen Werk meisterhaft umgesetzt.
Dass de Sabata gerade in der Spätromantik zu Hause war, lässt sich anhand der weiteren vorliegenden Werke erkennen. Zunächst ragen hier die Auszüge aus den Wagner-Opern Die Walküre und Tristan und Isolde heraus. Der in London entstandene Walkürenritt überzeugt in seiner zupackenden Art und hat durchaus so etwas wie einen „deutschen“ Tonfall. De Sabatas Ruf als Wagner-Dirigent von Rang war spätestens seit seinem Tristan-Dirigat in Bayreuth 1939 allgemein anerkannt. Umso interessanter, dass die hier enthaltenen Tondokumente aus der nämlichen Oper – Vorspiel und Liebestod – aus demselben Jahr stammen und ebenfalls stark für sich einnehmen.
Ähnlich fesselnd die Aufnahme der vierten Sinfonie von Brahms, deren Darbietung unter de Sabata sogar Furtwängler in Erstaunen versetzt haben soll. Die Berliner Philharmoniker spielen für den prominenten Gastdirigenten wie auf der Stuhlkante sitzend. Tod und Verklärung von Richard Strauss rundet das deutsche Repertoire in einer tiefsinnigen Deutung ab. Die Einspielungen der Tondichtung En Saga und des Walzers Valse triste von Sibelius sowie der Tänze aus Galánta von Kodály schließlich zeugen von de Sabatas Einsatz für zeitgenössische Komponisten und können als tadellose Plädoyers für den Finnen wie für den Ungarn gelten. Es ist zumindest erstaunlich, dass die durch Tänze der Sinti und Roma inspirierte Schöpfung Kodálys 1939 in Berlin überhaupt eingespielt werden konnte.
Überraschend spärlich sind dagegen italienische Komponisten in der Kollektion vertreten. Einzig ein zart dargebotenes Vorspiel zu Aida und die Feste romane von Respighi zeugen von de Sabatas genuiner Herkunft. Beides entstand bei den 1939er Aufnahmesitzungen in Berlin mit den dortigen Philharmonikern. Diese Tondokumente können klanglich ihr hohes Alter zwar nicht leugnen können, doch tritt dies aufgrund der hohen künstlerischen Qualität in den Hintergrund. Die römischen Feste schildert de Sabata in kräftigen Farben. Düster und stellenweise furchterregend die Zirkusspiele, von tiefer Frömmigkeit gezeichnet das Jubeljahr, ausgelassen das Oktoberfest und volkstümlich die Dreikönigsnacht. Im weitesten Sinne kann hier auch Berlioz‘ hochromantisch interpretierter Carnaval romain genannt werden, der mit dem London Philharmonic eingespielt wurde und durch seinen durchaus französischen Touch die Wandlungsfähigkeit des Dirigenten unter Beweis stellt.
Aus mehreren Gründen stellt das Mozart-Requiem eine Besonderheit in der Box dar. Zunächst handelt es sich hierbei um die einzige während des Krieges eingespielte Aufnahme, entstanden anlässlich des 150. Todestages des Komponisten. Zum anderen sind nur hier rein italienische Kräfte am Werk: Die vereinigten Orchester und Chöre des Italienischen Rundfunks aus Rom und Turin sowie vier erlesenen Solisten aus Italien: Pia Tassinari (Sopran), Ebe Stignani (Mezzosopran), Ferruccio Tagliavini (Tenor) und Italo Tajo (Bass). Bedauerlicherweise fällt auch der Klang gegenüber den restlichen Einspielungen ab, ist die Tontechnik mit den Chormassen doch offenkundig überfordert. Zudem ist – anders als auf anderen Cetra-Ausgaben – das Klangbild leider sehr verhallt.
Im Booklet ist ein informatives, von James Jolly geführtes Interview mit de Sabatas Kindern Elio und Eliana enthalten, in dem Victor de Sabatas Vorliebe für das Komponieren und für elegante Dreiteiler angeführt werden. Tatsächlich gab er bis ins hohe Alter eine aristokratische, weltoffene und umfassend gebildete Erscheinung ab (er sprach Deutsch, Französisch und Englisch). Daneben sei er sogar in der Lage gewesen, jedes Orchesterinstrument selbst zu spielen. Nach einer Herzattacke 1953 (kurz nach der Tosca-Aufnahme) zog sich de Sabata aus gesundheitlichen Gründen vom Dirigieren zurück. Nur noch ein einziges Mal stand er danach öffentlich vor einem Orchester: 1957 anlässlich der Bestattung Toscaninis. Wenn der dort gespielte Trauermarsch aus der Eroica ähnlich eindrucksvoll klang wie in der vorliegenden Einspielung, versteht man die Faszination, welche von diesem Mann ausging, umso besser. Eine willkommene Neuveröffentlichung, welche die vielen Facetten des Dirigenten Victor de Sabata offenlegt. Daniel Hauser
Und auch ein Blick auf die website für den Dirigenten lohnt sich: www.victordesabata.it
Dazu auch zum 50. Todestag Victor de Sabatas aus dem beiliegenden Booklet der neuen DG-Ausgabe( (DG 00289 479 8196) : die Kinder Elio de Sabata und Tochter Eliana de Sabata-Ceccato im Gespräch mit dem renommierten englischen Musikkritiker James Jolly.
Wie wichtig war Ihrem Vater neben seiner Karriere als Dirigent das Komponieren? Elio: Es war ihm sehr wichtig, denn als Komponist hatte er ein tiefes Verständnis für die Klangfarben und Möglichkeiten des Orchesters, die er in seiner eigenen Musik umsetzen konnte. Als Dirigent wiederum kannte er die Beschränkungen, denen Orchester unterliegen. Sein Verhältnis zum Komponieren war mal mehr, mal weniger intensiv, doch diese Tätigkeit war ihm ein besonderes Anliegen.
Auf Fotos wirkt er stets unglaublich elegant… Eliana: Ja, das gilt für alle Bilder. Pullover oder Ähnliches zog er nie an. Beim Dirigieren kleidete er sich genauso wie außerhalb des Theaters, er trug immer einen Dreiteiler. Ich habe ihn nur ein einziges Mal in einem kurzärmeligen Hemd gesehen, bei der Aufnahme von Tosca. Das war im Sommer, und es gab keine Klimaanlage in der Mailänder Scala – es war sicher furchtbar heiß.
Offenbar bewahrte er sich zeit seines Lebens eine exquisite Kiaviertechnik. Können Sie sich daran erinnern? Eliana: Ja! Er war ein außergewöhnlicher Pianist. Eines Tages begann er, eine sehr komplizierte Etüde von Clementi in sehr schnellem Tempo zu spielen, und sagte zu meinem Mann: »Wissen Sie, dieses Stück habe ich zum letzten Mal vor 40 Jahren gespielt.« Und er spielte es perfekt. Elio: In einem italienischen TV-Film aus seiner Zeit in Santa Margherita, als er nicht mehr dirigierte, interpretiert er »Scarbo« aus Ravels Gaspard de la nuit – und zwar wie ein Profi. Er beteuerte, dass er jedes Orchesterinstrument spielen könne, und war dafür bekannt, dass er Solisten und Orchestergruppen anwies, ihre Handstellung zu verändern, um andere Klangfarben zu erzeugen. Mit seinem Tonbandgerät zeichnete er sogar ein komplettes, von ihm selbst gespieltes Streichquartett von Brahms auf, er spielte also die Partien für Violine I und II, Bratsche und Violoncello (das Instrument hatte er sich ausgeliehen). Seine technischen Fähigkeiten waren verblüffend.
Wofür interessierte er sich neben der Musik? Eliana: Er war sehr an Schiffen interessiert. Seinen einzigen Flug empfand er als furchtbar, also flog er nie wieder und reiste stets per Schiff, auf der »Andrea Doria« oder der »Queen Elizabeth«. Er sagte einmal, die Schönheit der Pferde stünde für ihn an erster Stelle, Schiffe an zweiter und Frauen an dritter. Elio: Und Katzen! Er liebte Katzen! Als er während des Kriegs in Rom war, ging er häufig nachts zum Kolosseum und fütterte die streunenden Katzen. Er liebte sie!
Er war ein wunderbarer Interpret von Wagners Musik. Was zog ihn zur deutschen Kunst hin? Elio: Ich vermute, dass ihn vor allem die Bedeutung des Orchesters in Wagners Musik anzog. Hinzu kam möglicherweise sein mitteleuropäisches Erbe. Sein Vater stammte aus Südtirol, das sich zu dieser Zeit unter österreichischer Herrschaft befand, und seine Mutter aus der damals ebenfalls österreichischen Stadt Triest. Er sprach perfekt Deutsch, ebenso wie Französisch und Englisch.
Viele dieser Aufnahmen entstanden in London {mit dem London Philharmonie) – ich nehme mal an, er war recht anglophil… Eliana: Er interessierte sich für die Kultur englischsprachiger Länder und mochte diese Sprache sehr. Er hatte sich Englisch selbst beigebracht und las viele englische Autoren, darunter Shakespeare. Manchmal verwendete er sehr altertümliche Redewendungen, da er Englisch aus Büchern gelernt hatte. Elio: Er war ein großer Fan der Erzählungen von P. G. Wodehouse und C. S. Forester. Ich besitze einige seiner englischen Bücher, die er mit kleinen Anmerkungen versehen hat. Am Anfang von Conrads Lord Jim notierte er etwa: »Das hat ein echter Seemann geschrieben!«
War er ein strenger Orchesterleiter? Elio: Er wusste, was er wollte und wie er es erreichen konnte. Anders als bei manchen seiner Kollegen war das Orchester bereit, seine Wünsche umzusetzen und auszuprobieren, da die Musiker wussten, dass sie dabei etwas Neues lernen würden. Da gab es fraglos beiderseitig einen großen Respekt. Wenn er mit den Proben zu einem neuen Stück begann, ging er es häufig zunächst einmal komplett durch – nur um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie das Orchester spielte. Danach begann er, es seinen Wünschen anzupassen. Eliana: Als Dirigent war er sehr anspruchsvoll, da er die Partituren sehr gut kannte. Fehler in den Druckausgaben erkannte er sofort. Er war recht streng, hatte gleichzeitig aber auch großen Respekt vor den Musikern. Er versuchte, eher an ihren Stolz zu appellieren, als ihnen Angst zu machen. Besonders wichtig war ihm, dass die Musik im Orchesterraum genauso gut klang wie am Dirigentenpult. Deshalb überprüfte er, wie sich der Klang im Konzertsaal ausbreitete. Er platzierte sogar junge Dirigenten auf seinem Platz hinter dem Pult, um die Klangqualität bei einem Gang durch den Konzertsaal zu prüfen.
Die in diesem Älbum enthaltene »Eroica« Beethovens scheint für ihn etwas ganz Besonderes gewesen zu sein. Eliana: Er spielte den Trauermarsch bei Toscaninis Beerdigung. Doch er spielte alle neun Symphonien immer wieder. Als mein Vater an der Scala arbeitete, wurde die Opernsaison durch zwei symphonische Saisons unterbrochen, und in dieser Zeit dirigierte er alle neun Symphonien Beethovens oder eine Reihe anderer symphonischer Programme. Nach der Saisoneröffnung an der Scala gab er Symphoniekonzerte in England oder den USA. So blieb er etwa zwei Monate auf Konzertreise. In der symphonischen Saison 1952 spielte er den kompletten Zyklus, und er spielte ihn auch in der Royal Albert Hall in London. Elio: Bei Toscaninis Beerdigung dirigierte er zum letzten Mal öffentlich. Als Toscaninis Leichenwagen vor der Scala hielt, spielte das Orchester den Trauermarsch unter Leitung meines Vaters. Danach lief er in den Dom, denn er dirigierte den Chor, der während der Trauerfeier sang. Anschließend sprang er ins Auto und fuhr zurück nach Santa Margherita. Bei seiner eigenen Beerdigung spielte das Orchester ohne Dirigenten. James Jolly/ Übersetzung: Felix Schoen
(Das Foto oben ist ein Ausschnitt aus dem Cover der neuen DG-Ausgabe zum 50 Todestag des Dirigenten Victor de Sabata, der wir vorstehendes Gespräch entnommen haben/DG 00289 479 8196)