Höchst geheimnisvoll wirken die drei weißen Klapphüllen aus Pappe. Nur etwas für Eingeweihte. Ein grün und grau verschlungenes Ornament in einem Viereck. Darunter „P. Rhéi“. Ein paar grün hervorgehobene Begriffe, „Inspiration“, „Interpretation“ und „Imagination“. Ein Rätsel. Ach so, „panta rhei“, „alles fließt“, doch weshalb der spielerische Akzent auf „é“? Der wiederum führt vom Altgriechischen zum „é“ in „Prégardien“, genauer zu Julian Prégardien, ein offenbar ebenso ausgezeichneter Tenor wie sein Vater Christoph Prégardien. Das Ganze, ein musikalisches Forschungsprojekt, an dem der Sänger das Publikum auf der Internetplattform (www.prehi.com) teilhaben lässt, ein höchst exquisites zudem, da die dreiteilige Edition offenbar nur auf diesem Weg zu beziehen ist. Die drei Ausgaben, die sich Schuberts Winterreise widmen, gehören zusammen, sind quasi der Auftakt zu einer Sichtung von Werken und ihren Veränderungen im Laufe ihrer Aufführungsgeschichte. Nähern wir uns dem Geheimnis. Zuerst „Inspiration“. „Wir erleben die große Künstlerin Lotte Lehmann (188-1976) – sie war die womöglich die erste Frau, die den Liedzyklus Winterreise zur Gänze aufführte und auf Platte aufnahm – in zwei weniger bekannten Facetten ihrer Begeisterung für Wilhelm Müllers Gedichte und Franz Schuberts Musik“. So steht es auf der Rückseite.“ Es bleibt weiterhin geheimnisvoll. Denn in der Innenseite heißt es zu der im Januar 2016 von Julian Prégardien im „Verbund mit künstlerischen und wissenschaftlichen Paten“ gegründeten „Medienplattform für Aufführungsgeschichte, „Das erste Editionsprojekt befasst sich mit Franz Schuberts Winterreise nach Gedichten von Wilhelm Müller. Das Musikwerk Winterreise – eine kompositorische Interpretation für Kammerorchester und Tenor von Hans Zender (1936) wird als nächste CD-Auskopplung des Projekts anlässlich des 80. Geburtstages des Komponisten am 22. November 2016 veröffentlicht“. Doch was hat es mit Lotte Lehmann auf sich? Da hilft das schmale Beiheft weiter. „Ich darf Ihnen“, so der liebeswürdige Julian Prégardien, „mit freundlicher Genehmigung der University of California in Santa Barbara ein Geschenk überreichen: Lotte Lehmann nahm 1956 Rezitationen der Winterreise-Gedichte von Wilhelm Müller auf. Ebenso fertigte sie Aquarell-Zeichnungen zu den 24 Liedern an“. Es folgen die angekündigten Aquarelle.
Doch mehr interessiert Lehmanns Rezitation, die ich nicht kannte. Es ist schön, Lotte Lehmann so klar und deutlich zu hören, wie sie möglicherweise bei ihren Gesangsstunden sprach, als Generationen von angehenden und schon arrivierten Sängern nach Santa Barbara pilgerten, und wie man sie auch von ihrem „Radio Recital Cycle“ von 1941 kennt. Der Vortrag (23:33) freilich wirkt, nun ja, ein wenig antiquiert, wort- und akzentdeutlich, mit überstarken Betonungen („fall ich selber mit zu Boden“, ), leidenschaftlich bebend, stark empfunden, flüsternd, raunend, mit intensivem „r“, federndem „l“ („sind wir selber Götter!“), gemahnend, ein bisschen Maria Becker, aber eben doch beispielhaft in der starken und sinnhaften Wortbehandlung. Sie wusste, was sie sang. Schön wäre es gewesen, den Gesangs-Zyklus, den sie 1940/41 mit Paul Ulanowsky aufgenommen hatte, anschließend ebenfalls zu hören.
Sodann „Inspiration“, d.h. Zenders „komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester“, die am 22. Januar 2016 als Koproduktion des Saarländischen Rundfunks, Südwestrundfunks und P.Rhéi mit der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter Robert Reimer entstand (2 CDs) und zu der Julian Prégardien einen schöne Einführung verfasste, die auf die zahlreichen persönlichen Bezüge und Konstellationen verweist, so war Zender in den 1970er Jahren Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Saarbrücken, aus dem ebenjene Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern hervorging, Hans Zender wiederum hatte 1993 die Uraufführung seiner Version der Winterreise dirigiert, war 1999 an der Aufnahme mit Julians Vater Christoph Prégardien beteiligt und hatte eine szenische Produktion am Grand Théatre de Luxenbourg betrieben, die dieser Studioaufnahme direkt vorausgegangen war. Starke szenische Impulse gehen somit auch von Julian Prégardiens meisterlicher und packender Interpretation aus, die in Zenders suggestiv farbiger Klangsprache von einer elementaren theatralischen Kraft und großen darstellerischen Intensität zeugt, stimmlich manchmal ätherisch zart und verhauchend, dann wieder wütend und grell auftrumpfend, fast knarzend, sprechsingend, doch immer mit einem keuschen Schmelz und leuchtendem Klang. Das ebenfalls im Beiheft abgedruckte sehr informative Podiumsgespräch vom Tag der Aufführung mit Hans Zender, Thomas Seedorf und Prégardien unterstreicht den hohen Anspruch der Edition.
Und noch eine Überraschung. „Imagination“. „Wir stellen uns vor“, ist zu lesen, „wie die Pianistin Clara Schumann und der Sänger Julius Stockhausen die Winterreise vom Salon auf das Podium des Konzertsaals tragen. Eine Zeitreise in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Julian Prégardien und Michael Gees orientieren sich an historischen Konzertprogrammen und stellen Franz Schuberts Liedzyklus Klavierwerke von Johann Sebastian Bach, Domenico Scarlatti und Felix-Mendelssohn zur Seite“. Das Konzert nach dem Vorbild eines historischen Programms – abgedruckt ist im Beiheft ein Programmzettel vom 27. November 1862 – fand am 28. November 2015 statt, also fast genau 150 Jahre später, wobei Michael Gees den Lied-Zyklus durch kraftvoll kurze Improvisationen sowie die ebenfalls recht kurzen Stücke der erwähnten Komponisten – eine kleine Sonate, eine Gavotte, ein paar Lied ohne Worte – ergänzte, worauf der Abend im Kloster Muri auch nur gut 90 Minuten dauerte (2 CD). Und wieder liest man sich auch in den guten Texten im Beiheft fest. Packend in ihrem wahrhaftigen Ausdruck auch hier wieder die Leistung Prégardiens, dem für diesen knapp 3 ½ stündigen Auftakt seines „P.Rhéi“-Projekts mehr als nur Anerkennung gebührt. Rolf Fath