Elisabeth Schwarzkopf ist bei Warner angekommen. Eines muss man dem Unternehmen lassen. Es geht allen ursprünglichen Bedenken zum Trotz sorgsam mit den Übernahmen der EMI um. Die Schwarzkopf war allein schon wegen ihrer Heirat mit dem einst mächtigen EMI-Produzenten Walter Legge noch ein bisschen mehr als nur eine Exklusivkünstlerin. EMI und Schwarzkopf, das war eins. Nun wurden Aufnahmen dieser Sängerin aus der Schelllack-Ära, die zwischen 1946 und 1952 entstanden, komplett in einer Edition versammelt (0190295955175). Fünf CDs, randvoll gefüllt. Der silberne Rücken der Box sticht aus dem Regal hervor. Selbst in dieser nur vorgetäuschten Kostbarkeit ist die Aufmachung der Künstlerin und ihrem Programm angemessen. Es ist vielseitig, reicht von Mozart über Puccini, Verdi, Charpentier, Bizet, Beethoven, Händel und Strauss bis hin zu Wolf, Schubert, Schumann, Brahms und Methner. Konturen ihres späteren Wirkens, bei dem sie sich schließlich neben dem Liedgesang nur noch auf wenige Opernpartien konzentrieren sollte, werden bereits deutlich. Übrig bleiben würden vor allem Mozart, Strauss und ein breit aufgestelltes Lied-Repertoire mit Hugo Wolf im Zentrum. Nicht als Anfängerin wurde Elisabeth Schwarzkopf mit ihren damals gut dreißig Jahren unter Vertrag genommen. Bereits 1939 hatte sie für die Teldec erste Aufnahmen gemacht, in diversen Produktionen des Reichsrundfunks Berlin mitgewirkt, sogar in Spielfilmen und gemeinsam mit dem Pianisten Michael Raucheisen viele Lieder erarbeitet. Sie brachte Erfahrungen in Studios mit. Unter diesen Bedingungen fühlte sie sich wohl. Was nicht auf Anhieb gelang, konnte wiederholt werden, einmal, zweimal, dreimal. Bis zur Perfektion, bis zu dem Resultat also, was dafür gehalten wurde.
Mit 106 Szenen Arien, Duetten und Liedern erweist sich die Edition als Fundgrube. Wo anfangen? Bei „Martern aller Arten“ aus der Entführung aus dem Serail. Die Arie vom 23. Oktober 1946 ist der früheste Titel. Eine Woche später, am 2. November, wurde „L’amerò, sarò costante“ aus Il re pastore im Stil einer großen getragenen Konzerarie eingespielt. Vom Italienischen ins Englische wechselt die Sängerin mit der Szene „First and chief on golden wing“ aus Händels Oratorium L’allegro il penseroso ed il moderato, die in schwindelnden Höhen schließt, um dann gleich noch – alles an diesem einen Tag – Mozarts lateinische Motette Esultate, jubilate nachzulegen. Wenn das nicht professionell ist, was dann? Vielfalt ist Programm. In der Kopplung mit Bachs Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ hatte eine spätere Produktion der Motette von 1948 auf LP Kultstatus erlangt. Beide Werke stehen nun auch in der neuen Sammlung als Zwillinge direkt beieinander. Wie nicht anders zu erwarten in einer Schelllack-Kollektion, wird zwischen den Genres, den Sprachen und Aufnahmeorten hin und her gesprungen. Bald wird die Produktion in das berühmte Studio 1 an der Abbey Road in London verlagert. Dort gelangten auch die Arien der Pamina „Ach ich fühl’s“ und der Violetta „È strano!“ in englischer Übersetzung auf Platte. In Covent Garden ist die Sängerin so auch in beiden Rollen aufgetreten. Auf Arien aus Puccinis La Bohème (Mimi), Gianni Schicchi (Lauretta) und Turandot (Liù) folgen – als müsst’s so sein – Weihnachtslieder. Ein ähnlich greller Schnitt wird auf einer anderen CD praktiziert, wenn sich nämlich die englische vorgetragenen „Stille Nacht“ („Silent Night“) versöhnlich an die Szene „Tot denn alles“ aus Wagners Tristan und Isolde reiht. Darin übernahm die Schwarzkopf die Einwürfe der Brangäne (!!!). Aus dem Zusammenhang gerissen hinterlässt diese Besetzung Verwunderung. Ursprünglich ergänzte der Ausschnitt eine Platte des Bassisten Ludwig Weber, in deren Zentrum König Markes Klage stand. Elisabeth Schwarzkopf war mal wieder „eben“ eingesprungen.
In der umfangreichen Diskographie von Elisabeth Schwarzkopf gibt es einige solcher Besonderheiten, die mich immer berührt haben. Ihre erste Aufnahme unter der Leitung von Walter Legge mit der jungen Schwarzkopf war die Gesamtaufnahme der Zauberflöte mit Thomas Beecham am Pult. Sie entstand 1937 und 1938 in der alten Philharmonie in Berlin, die im Krieg zerstört wurde. Die Schwarzkopf sang im Chor. Sie war Mitglied der Favres Solisten Vereinigung, einem aus Solisten bestehenden Ensemble, wie es später in der DDR Helmut Koch beim Berliner Rundfunk als Solistenvereinigung weiterführte. Der Chor in dieser Produktion ist also kein gewöhnlicher Opernchor. Wer genau hinhört und mit der Stimme der jungen Schwarzkopf vertraut ist, wird sie unter Kopfhörern heraushören. Deshalb wird diese Zauberflöte auch in der Diskographie der Sängerin „A Career on Record“ von Alan Sanders und J. B. Steane als frühestes Dokument gelistet. Natürlich gibt es noch mehr Aufnahmen aus dieser Zeit, darunter Verdis konzertante Rundfunk-Alzira aus Berlin, bei der sie im allerletzten Moment für die Hauptrolle einsprang, eben weil sie dieser gut aufgestellten Chorvereinigung angehörte. Sie konnte das ihr unbekannte Stück exakt vom Blatt singen. Szenen aus Boris Godunow entstanden 1950 in London. Das Philharmonia Orchestra wird dabei von Issay Dobrowen geleitet. Legge hatte sich dafür den jungen Boris Christoff geholt, der am Beginn seiner Weltkarriere stand. Für mich gehört diese Aufnahme zum Besten, was Christoff hinterlassen hat, so dicht und authentisch wirkt sie. In der Todesszene lieh Elisabeth Schwarzkopf dem herbeigerufenen Zarewitsch Fjodor ihre Stimme. In den CD-Veröffentlichungen, die ich kenne, wird die Schwarzkopf aber nicht genannt, wohl aber in der erwähnten Diskographie. Ein großes Geheimnis gab es um die hohen Töne, die sie ihrer Kollegin Kirsten Flagstad bei der Tristan–Studioproduktion im zweiten Aufzug lieh. Als das publik wurde, war die Flagstad sehr gekränkt und wollte eigentlich gar keine Aufnahmen mehr machen. Es sollte – zum Glück – anders kommen. Dem Mythos der Aufnahme mit Wilhelm Furtwängler am Pult konnte dieser kleine Trick nie etwas anhaben. Zum Schluss muss noch das wohl seltsamste Dokument in der Schwarzkopf-Diskographie genannt werden. Sie spricht in der Fidelio-Einspielung Otto Klemperers für die Marzelline von Ingeborg Hallstein den Dialog. In den Angaben zu der Produktion ist diese Tatsache diskret beiseite gelassen.
Zurück zur Warner-Sammlung, in der es noch eine dieser typischen Schwarzkopf-Immortellen gibt, bei der sie sich als praktische Aushilfe im Hintergrund zur Verfügung stellte. Herbert von Karajan nahm 1947 im Wiener Musikverein sein erstes Brahms-Requiem auf. „Sie erholte sich gerade von einer Operation und erschien bleich und matt zu den Sitzungen“, zitiert Alan Sanders, der auch als Booklet-Textautor in Erscheinung tritt, Legge. „Als ihr auffiel, dass Karajan und ich am Verzweifeln waren, weil die Soprane im Chor immer wieder schief sagen, erklärte sie sich bereit, sich zu ihnen zu stellen, damit sie den Ton halten konnten.“ Berücksichtigt ist leider nur das Sopran-Solo „Ihr habt nun Traurigkeit“, in dem sich die Rekonvaleszenz der Sängerin als Entrücktheit niederzuschlagen scheint.
„Die glücklichsten Zeiten meines Lebens hatte ich im Aufnahmestudio. Es war wie Bildhauerei oder Malerei, nur eben mit Klang. Ich liebte die Proben, und zwar nicht nur meine eigenen, sondern auch die anderer Künstler“, greift Sanders eine Äußerung der Sängerin in seinem Text auf. Ohne Zweifel, die Wirkung des Resultats dieser Arbeit ist noch immer zu spüren. Auch wenn das stimmliche Ideal, das die Schwarzkopf verkörpert, mit heutigen Vorstellungen und Erwartungen nicht mehr kompatibel ist. Ich staune über ihren Gesang wie über ein Kunstwerk aus vergangener Zeit, das so niemand mehr herstellt oder herstellen kann, das aber gerade aus dieser Tatsache seine Einmaligkeit, Kostbarkeit und seine Wert bezieht. Deshalb ist es nur logisch, wenn sie selbst ihre Arbeit mit Malerei oder Bildhauerei verglich. Für mich bleibt sie ein Bespiel dafür, was Menschen mit ihrer Stimme leisten können, was möglich ist an Klangfarbe und Ausdruck – wenn sie sich denn das Letzte abverlangen. Die Schwarzkopf hat es unter großen Anstrengungen vermocht. Zeugnis davon legt die neue Edition ab. In ihrem Perfektionsdrang war sie gnadenlos, gnadenlos gegen sich selbst. Dabei ist einiges an ursprünglicher Natürlichkeit verloren gegangen. Was ihr Kritiker später als Manieriertheit würden vorhalten, tritt in den frühen Einspielungen noch nicht so deutlich hervor. Ist diese fundamentale Kritik gerecht? Meiner Meinung nach nicht. Denn es hieße, das Phänomen Schwarzkopf zu verkennen, wollte man Schlichtheit erwarten, wo sie hohe Schule des Gesangs am Altar der Kunst zelebrierte. Übersteigerungen und Übertreibungen liegen im Wesen ihrer Stimme und ihres Wollens. Niederungen waren ihre Sache nicht. „Hinauf! Hinauf strebt’s!“ Die Zeile aus Goethes Gedicht Ganymed könnte Wahlspruch ihrer Arbeit gewesen sei. Sie hat das Lied sowohl in der Vertonung von Schubert als auch von Wolf gesungen. Wolf liegt ihr mehr. Im himmlischen musikalischen Aufstieg des Liedes hat die Stimme jenen überirdischen Touch, wie er selbst bei der Schwarzkopf selten ist. Aus der frühen Zeit gibt es keine Aufnahme. Erst 1956 wurde Wolfs Ganymed erstmals eingespielt.
Mit neunzehn Titeln ist Wolf auf schon auf den Schelllackplatten überproportional vertreten, wie die Edition nun offenbart. So sollte es bleiben. Wiegenlied im Sommer und Storchenbotschaft sind zweifach vorhanden. Der Wolf-Visionär Legge hatte schon in den dreißiger Jahren bedeutende Sänger – darunter Tiana Lemnitz, Elisabeth Rethberg, Karl Erb, John McCormak, Helge Rosvaenge, Herbert Janssen und Alexander Kipnis – für seine bis heute einzigartige Hugo Wolf Society gewonnen. Dieses Unternehmen hat sehr viel dazu beigetragen, den Namen des Komponisten in die Welt zu tragen. Darauf konnte die Schwarzkopf aufbauen. Zunächst klingt sie nicht so ausgeklügelt und raffiniert wie später, wo sie die Interpretation gelegentlich auf die Spitze trieb und des Guten zuviel in die Gesänge hineinlegte. Eine gewisse Einfachheit gereicht auch diesem Komponisten zur Ehre. Da sie bis zum Schluss fast ausnahmslos jeden ihrer Liederabende und selbst ihr allerletzte Platte „To My Friends“ bei der Decca, die 1979 abgeschlossen wurde, mit einer üppigen Wolf-Gruppe versah, waren die Möglichkeiten irgendwann ausgereizt.
Technische Wunder sind nicht zu erwarten. Das kann und soll auch nicht sein. Das Wunder ist die Kunst. Schließlich handelt es sich bei den Vorlagen der Zusammenstellung um Schelllacks. Kenner wissen, was das bedeutet. Sie schätzen den originalen Klang und erwarten auch in diesem Fall gar kein gestochenes, verfremdendes Stereo. Was technisch möglich ist, scheint möglich gemacht worden zu sein. Nicht mehr und nicht weniger. Nachdem Warner 2015 zum hundertsten Geburtstag von Elisabeth Schwarzkopf bereits ihre kompletten Recitals, die sie zwischen 1952 und 1974 für die EMI eingespielte, neu vorlegt hat, schließt sich mit dieser Wiederausgabe/Neuerscheinung ein Kreis. Rüdiger Winter
Das große Foto oben ist ein Ausschnitt des Covers der „neuen“ Edition mit den kompletten Schelllackaufnahmen von Elisabeth Schwarzkopf. Es unterscheidet sich nur leicht von der Aufmachung der Warner-Sammlung aller Recitals der Sängerin, die zwischen 1952 und 1974 bei der EMI entstanden und 2015 bei Warner neu herausgekommen sind (inks). Nun lächelt sie geheimnisvoll. Das Foto der Recital-Sammlung mit insgesamt 31 CDs zeigte sie ernster und nachdenklicher. Dazu auch die Besprechung auf operalounge.de.