Giuditta spielt in Süditalien und Libyen. Aktueller können Orte von Handlungen nicht sein. Mit einen gewichtigen Unterschied zur Gegenwart. Damals – wir schreiben 1930 – ging die Reise mit dem Schiff von Europa über das Mittelmeer nach dem Norden Afrikas. Und nicht umgekehrt. „Lustig, ohne Sorge in die schöne weite Welt…“ Afrika bedeutet noch Verheißung in der Operette von Franz Lehár. Hoffnung auf ein besseres Leben, wie es in der Inhaltangabe der Neuerscheinung heißt, die bei cpo herausgekommen ist (777 749-2). Zumindest bei der arbeitenden Bevölkerung, die im Stück als Obsthändler Pierrino und seine Geliebte, das Fischermädchen Anita auftreten. Bei der etwas geheimnisumwitterten Titelheldin Giuditta und ihrem Hauptmann Octavio sind die Gründe der Sehnsucht nach dem fernem Kontinent weniger ökonomisch bedingt. Sie versprechen sich dort die Erfüllung ihrer Liebe, folgen also dem innern Triebe. Giuditta ist unglücklich verheiratet mit Manuele Biffi. Ihre Mutter stammt von dort, wo sie es nun mit unheimlicher Kraft hinzieht. Viel mehr erfährt man nicht.
Die Geschichte endet ohne Happy End. Octavio, der gleichnamigen Figur in Mozarts Don Giovanni an Unentschlossenheit nicht unähnlich, hat das letzte Wort: „Es war ein Märchen.“ Giuditta war Lehárs letzte Operette. Mit ihr zog er in die Wiener Staatsoper ein, womit sein lebenslanger Traum in Erfüllung ging. Die Uraufführung fand 1934 statt. Im Booklet erzählt der Musikwissenschaftler Stefan Frey, ein ausgewiesener Lehár-Kenner, die Geschichte sehr anschaulich. Er spricht – wohl in einem doppelten Sinne – von einem „Werk des Abschieds“. Es sollte nur noch vier Jahre dauern, bis die deutschen Nationalsozialisten Österreich – als Anschluss getarnt – annektierten. Jarmila Novotna, die erste Giuditta und Richard Tauber, der erste Octavio gingen wie auch der Librettist Paul Knepler ins Exil. Sein Mitautor Fritz Löhner-Beda, Jude wie er und Tauber, fiel den Nazis in die Hände und wurde 1942 in Auschwitz ermordet. Gleich einer schwere Hypothek lastet dieser historische Hintergrund auf dem Werk. Sie lässt sich nicht abschütteln, zumal auch der Komponist selbst bei Hitler in hohen Gunsten stand. Der hat Lehárs Musik mehr geliebt als die Musikdramen Wagners, die er vor allem ideologisch als Umrahmung seiner politischen Ziele verstand.
Es kann nicht schaden, sich diese Hintergründe immer wieder ins Bewusstsein zu rufen. Versuche, Werke Lehárs auf der Bühne mit geschichtlichen Katastrophen ihrer Entstehungszeit auch szenisch zu verbinden, haben sich als problematisch erwiesen. Wer sich dem Werk zuwendet, ist gut beraten, es zu nehmen wie es ist. Ulf Schirmer, der Dirigent der neuen Einspielung und durch seine vielen Aufführungen dieses Genres ausgewiesener Fachmann dafür, gelingt es, in dem Werk die opernhaften Elemente aufzuspüren und deutlich zu machen. So, wie es Lehár vorgeschwebt haben mag, der seine Giuditta eine musikalische Komödie in fünf Bildern nannte. Eine Assoziation zu der in der selben Spielzeit – nämlich 1933/1934 – im Haus am Ring uraufgeführten Arabella von Richard Strauss, einer lyrischen Komödie, stellt sich ganz von selbst ein. Strauss kam an den Erfolg von Lehár nicht annährend heran. – ebenfalls nachzulesen im feinsinnigen Booklet-Text von Frey. Schirmer sollten Kränze geflochten werden für seine cpo-Aufnahmen von Operetten Lehárs. Giuditta markiert den hoffentlich nur vorläufigen Abschluss einer ganzen Serie (mit Das Land des Lächelns, Der Zarewitsch, Friedericke, Schön ist die Welt und Das Fürstenkind).
Der Charme und die Bedeutung dieser Produktionen bestehen darin, dass Schmalz und allerlei Nettigkeiten herausgespült wurden. Das tut Lehár gut. Dialoge, oft wie ein Melodram von Musik unterlegt, sind gnädig bearbeitet. Es genügt eben auf Dauer nicht, sich immer wieder auf Hilde Güden (Decca), Teresa Stratas (ZDF) oder Edda Moser (EMI) berufen zu müssen – nahmhafte Sängerinnen, die sich der Titelrolle angenommen haben in Gesamteinspielungen mit Partnern wie Waldemar Kmentt, Rudolf Schock und Nicolai Gedda. Eine Aufnahme in englischer Sprache mit Deborah Riedel und Jerry Hadley unter Richard Bonynge (Telarc) hat wegen ihrer Exotik überlebt. Selbst die Wiener Rundfunkproduktion von 1942 mit Franz Lehár am Pult, in der Jarmila Ksirova und Karl Friedrich eine Vorstellung davon vermitteln, wie es bei der ersten Aufführung geklungen haben mag, verharrt ästhetisch in ihrer Zeit, so als würde man sich den Blauen Engel mit der Dietrich wieder einmal anschauen. Mir kommt es immer so vor, als alterten Operettenaufnahmen in der Wahrnehmung viel schneller als Opern oder Lieder, weil Gefühle und Emotionen in einer Weise angesprochen werden, die wir so nicht mehr haben. Ich glaube, es sind die eingesperrten Gefühle meiner Großeltern, die keinen Dostojewski gelesen und keinen Freud studiert hatten. Während die sich ewig nach etwas sehnten, und das noch heimlich und unausgesprochen, hatten wir es uns längst viele Male erfüllt.
An die fünfzehn Jahre alt ist indessen die bislang jüngste Produktion von den Seefestspielen in Mörbisch mit Natalia Ushakova und Mehrzad Montazeri (Videoland, Capriccio). Um die Highlightes – „Meine Lippen, die küssen so heiß“ oder „Freunde, das Leben ist lebenswert“ – muss man sich indessen nicht sorgen. Sind haben längst auch Eingang ins Repertoire von Anna Netrebko oder Jonas Kaufmann gefunden, ohne dass die Raffinesse, mit der einst Elisabeth Schwarzkopf das Idiom dieser Musik zwischen Traum und Wirklichkeit genau erfasste, je übertroffen worden wäre (EMI). Aber das kann man den gegenwärtigen Sängern nicht vorwerfen.
Bei cpo ist Christiane Libor die Giuditta. Während ihre berühmten Kolleginnen in dieser Rolle vornehmlich im lyrischen Fach unterwegs waren, singt sie Sieglinde, Brünnhilde oder Isolde. Das hört man auch und soll es auch hören. Manche Töne schleudert sie tatsächlich mit der Kraft der irische Königstocher heraus. Stimmlich gibt sie der Giuditta Schmackes. Ich höre viel Selbstbewusstsein. Der extrem hoch gelegene Auftritt ist perfekt. Die Libor überzeugt, weil sie ganz anders ist. Schirmer, der als Chef der Leipziger Oper mit der Sängerin auch im Ring des Nibelungen zusammengearbeitet hat, ist mit seiner Wahl bestens bedient, wenngleich ich mir etwas mehr Deutlichkeit in der Diktion gewünscht hätte. Mit dieser Sängerin gibt es übrigens noch einen Bezug in die Vergangenheit hinein. Sie studierte an der Berliner Musikhochschule „Hanns Eisler“, die 1950 von Georg Knepler, dem Sohn des Librettisten dieser Operette, gegründet wurde. Nikolai Schukoff, der aus Graz stammt und den Octavio singt, hat ebenfalls Wagner-Erfahrung, von der er Gebrauch zu machen versteht. Mitunter fehlte es seiner Gestaltung bei knapper Höhe etwas an Struktur. Dafür ist er sehr leidenschaftlich.
Laura Scherwitzl gibt die Anita, Ralf Simon den Gemüsehändler Pierrino. Beide sind entzückend als das obligate Buffo-Paar. Es singt der Chor des Bayereischen Rundfunk, es spielt das flexible und vielgelobte Münchner Rundfunkorchester, dessen Chef der umtriebige Ulf Schirmer ebenfalls ist. Dass es sich im eine Live-Aufnahme handelt, stellt sich nicht so sehr beim Hören ein als beim Lesen der entsprechenden Information auf der Rückseite des Albums. Nur ganz selten ist so etwas wie ein Publikumsgeräusch zu vernehmen, getreu dem Credo von cpo, die ja lieber „kalt“ aufnehmen. Als Daten werden der 21. und der 22. Januar 2012 genannt. Ort der Aufführung ist das Prinzregentheater in München. Ein Mitschnitt ist gelungen, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist. Rüdiger Winter