Die Deutsche Grammophon hat zum ersten Mal einen Countertenor exklusiv unter Vertrag genommen. Und man hat sich richtig entschieden: Franco Fagioli ist (für mich) der stimmlich flexibelste Kandidat seiner Stimmlage und das beweist er auch auf der neu erschienen und ganz auf ihn zugeschnittenen Gesamtaufnahme von Glucks Orfeo ed Euridice. Zu hören ist die italienische Originalfassung von 1762. Die französische Fassung Orphée et Eurydice von 1774 liegt ebenfalls bei DG-ARCHIV vor und zwar in der großartigen Einspielung Marc Minkowskis aus dem Jahr 2002, bei der der Tenor Richard Croft vorbildlich die Rolle des Orphée sang (und die Stimmung in die originale Tiefe gelegt wurde). Damals wie heute – die vorliegende Aufnahme wurde im Frühjahr 2015 angefertigt – erfolgte die Einspielung im Pariser Théâtre de Poissy. Damals wie heute handelt es sich um eine inspirierte und beachtenswerte Einspielung, die für Gluck-Freunde eine Bereicherung des Repertoires darstellt. Ein Rivale dieser Neueinspielung ist 2001 bei harmonia mundi erschienen: René Jacobs‘ Referenzaufnahme der italienischen Version mit dem Freiburger Barockorchester besetzte die ursprünglich für den italienischen Kastraten Gaetano Guadagni geschriebene Rolle des Orfeo mit der Mezzosopranistin Bernarda Fink. Der Verdienst und die Stärke dieser Neueinspielung liegen darin, dass man mit Fagioli die für mich bisher beste Aufnahme mit einem Countertenor vorlegen kann.
Wer Franco Fagioli bereits live erlebt hat, weiß um seinen drei Oktaven umfassenden Stimmumfang, seine Belcanto-Technik, das sensible Vibrato und die atemberaubende Virtuosität, mit der er rasend schnell Koloraturen singen und ein Publikum zum Staunen und Jubeln bringen kann. Bei dieser Neueinspielung setzt Fagioli verschiedene Ausrufezeichen und zeigt, dass der Orfeo für ihn eine Paraderolle ist, bei der er seine außergewöhnliche Stimme in Szene setzen kann: verführerisch und schmeichelnd (besonders schön in der 1. Szene des 2. Akts), sensibel und voller Ausdruck (z.B. in „Che puro ciel“ oder „Che faró senza Euridice“), und mit klarer Höhe und in typischer Manier Fagiolis („Addio, o miei sospiri“). Auch wer Fagiolis Timbre gewöhnungsbedürftig findet, muss den stimmlichen Fähigkeiten des Argentiniers hier seinen Tribut zollen. An Fagiolis Seite finden sich die schwedische Sopranistinnen Malin Hartelius als Euridice
und Emmanuelle de Negri als Amore. Stimmlich kontrastieren und ergänzen sich die drei Sänger sehr gut; sie haben, wie auch Chor und Orchester, diese Oper bereits seit 2013 in identischer Zusammensetzung aufgeführt. Gespielt wird auf historischen Instrumenten. Die französische Dirigentin Laurence Equilbey, die Nicolaus Harnoncourt als ihren Mentor nennt, leitet das von ihr gegründete Insula Orchestra und den tadellos klingenden Choeur Accentus. Zu hören ist eine sehr gute, feinfühlige, anteilnehmende, die Ausdrucksmöglichkeiten zwischen Trauer, Hoffnung, Gedenken und Verzweiflung auslotende Interpretation, die den Originalklang-Klassikern (z.B. der oben erwähnte René Jacobs oder auch Sigiswald Kuijken mit La Petite Bande) wesensverwandt ist, ohne sich davon deutlich abzusetzen oder sie zu übertreffen. Die Box enthält drei CDs und überraschenderweise ist die Gesamtoper auf der zweiten und dritten CD. Die erste CD ist ein 66minütiger Querschnitt der Höhepunkte der vorliegenden Einspielung, ergänzt durch drei zusätzliche Stücke der Pariser Version (1774). Hier kann man dann den Reigen seliger Geister, den Tanz der Furien sowie die Bertoni-Arie „Addio, o miei sospiri“, als Bravourstück für Fagioni, hören. Diese Einstiegs-CD ist sowohl sehr guter Appetitanreger als auch zusammenfassende Highlight-CD für Fagioli-Fans oder die, die es werden wollen. (ARCHIV Produktion, 3 CDs, 479 5315). Marcus Budwitius