Zum 75.Geburtstag des berühmten Bassbaritons hat Warner Classics in der Reihe „autograph“ eine umfassende Übersicht über das künstlerische Schaffen José van Dams herausgegeben. Die Box mit 10 CDs enthält Musikbeispiele aus den mittleren 30 Jahren seines 50 Jahre währenden Bühnenlebens, wobei der Schwerpunkt seines umfangreichen Repertoires auf französischen Werken liegt. So kam es nicht von ungefähr, dass er sich im Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie 2010 in der Rolle des Don Quichotte (Massenet) von der Bühne verabschiedete.
Auf der 10. CD ist ein Interview von Jon Tolansky mit dem belgischen Sänger zu hören, in dem van Dam Kommentare zu einzelnen Opernrollen und Liedern gibt. Leider ist die Tonqualität der Sprechenden durch den Aufnahmeort, eine gut besuchte Hotelbar, doch etwas beeinträchtigt. Entscheidend an van Dams Aussagen ist, dass für ihn beim Singen der Fokus stets auf dem Wort liegt, erst danach kommt die Musik: „Man muss die Konsonanten singen! Für einen Künstler reicht Stimme allein nicht!“ So ist neben dem prachtvollen Bass-Bariton, der durch phantastische Atemführung und gekonntes Legato-Singen besticht, vor allem seine Textverständlichkeit in allen Sprachen zu konstatieren. Jon Tolansky steuert kurze Berichte zu Entstehung oder Inhalt der Werke bei, zu denen sich der Sänger äußert. Ein dreisprachiges, instruktives Beiheft gibt weitere Informationen. Die Aufnahmen selbst stammen (soweit Opern-Ausschnitte) aus Aufnahmen von van Dams „Heimatfirma“, der ehemaligen EMI, und der Erato, beide inzwischen im Besitz der Warner Classics.
Auf den übrigen 9 CDs sind Opernszenen oder Lieder unter allgemeinen oder besonderen Aspekten zusammengestellt: Die erste CD mit dem Titel „Devils“ („Teufel“) enthält Ausschnitte aus Berlioz‘ „La Damnation de Faust“, Gounods „Faust“ und Offenbachs „Les Contes d’Hoffmann“. Da werden in der Interpretation die verschiedenen Farben der Mephisto-Charaktere deutlich: Bei Berlioz ist er eher sarkastisch angelegt mit Tendenz zur Romantik; im Gegensatz zu
dem fast übermütigen „Une puce gentille“ (Flohlied) präsentiert van Dam in „Voici des roses“ seine unglaublich dichte Legatotechnik. Bei Gounod dagegen ist Mephisto eher ein „menschlicher“ Teufel, was der Sänger an mehreren Ausschnitten deutlich macht; die subtil ausgesungenen „Il était temps“ und das ironische „Qu‘attendez-vous encore?“ sind beste Beispiele für die variable stimmliche Gestaltungskraft. Bei Offenbachs „Bösewichten“ lässt er als zwielichtiger Coppélius seinem Ärger freien Lauf, ist ein Miracle mit gefährlichen Untertönen und schlägt als Dapertutto einen eleganten, leichteren Ton an; Höhepunkt ist hier mit sattem Klang „Scintille, diamant!“
Allzeit gültige Schwierigkeiten in Vater-Sohn- oder Vater-Tochter-Beziehungen sind Thema der mit „Fathers“ betitelten CD 2. Da führt van Dam in Glucks „Iphigenie en Aulide“ als innerlich zerrissener Agamemnon seine Stimme schlank und klar, aber auch mit der notwendigen Attacke. José van Dam empfindet Verdis „Don Carlos“ in der italienischen Fassung als Oper, in der französischen dagegen als Drama, als Verbindung von Theater und Musik. Mit entsprechend intensiver Gestaltung überzeugt er in der Rolle des ungeliebten Königs, so dass man wenige Schwächen in der Tiefe gern in Kauf nimmt; großartig sein „Elle ne m’aime pas“ wie auch die Auseinandersetzung mit dem Großinquisitor und später der Dialog mit Carlos (eindrucksvoll Roberto Alagna)! Die weiteren Szenen unterschiedlichster Vater-Konflikte aus Delibes‘ „Lakmé“, Massenets „Manon“, Charpentiers „Louise“ und Poulencs „Dialogues des Carmélites“ werden durch den intelligenten Einsatz der weich fließenden Stimme und die Ausdrucksvielfalt van Dams zu speziellen Charakterstudien.
Einer seiner Lieblingsrollen, dem Don Quichotte, ist CD 3 der Sammlung gewidmet. Massenets Quichotte ist für van Dam ein naiver, verliebter Träumer und Künstler, der „alles hat, was man braucht, um ein guter Mensch zu sein“. Mit gekonnten crescendi und decrescendi sowie sauberen Intervallen und klingenden Konsonanten kostet er „Quand aparaissent les étoiles“, „Elle m’aime et va me revenir“ und „Je suis le chevalier errant“ genussvoll aus. Die jeweils aus vier bzw. drei Chansons bestehenden kleinen Liedzyklen zum Thema Don Quichotte von Ibert und Ravel erfahren hier eine interessante, vergleichende Wiedergabe, d.h. einmal mit Klavierbegleitung und einmal als Orchesterlied; mir persönlich gefallen die Orchesterlieder Iberts sehr gut, da die aparte Orchestrierung viele Farben für die impressionistischen Lieder benutzt und dem Sänger damit viel Raum zur Gestaltung lässt; dagegen wirken die Ravel-Lieder prägnanter in der originalen Klavierfassung.
Die nächsten drei CDs (4-6) geben – etwas anfechtbar annonciert – einen Überblick über 200 Jahre Oper von Rameau bis Enescu und Landowski. Da gelingen van Dam Isménors Arien („Dardanus“/Rameau) mit schlanker Stimmgebung ebenso gut wie die kurzen Einblicke in Don Alfonsos intrigantes Wesen („Cosi“/Mozart). Ich erinnere mich an seine treffende Leporello-Interpretation 1976 in der Noelte-Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin (u.a. mit Gundula Janowitz als Donna Anna). Als Fliegender Holländer beweist er eindrucksvoll, welch großen Umfang seine Stimme hat; auch Feinstdifferenzierung vom dreifachen piano bis zum fortissimo kommen zur Geltung, dabei immer bei bester akzentfreier Diktion. Das gilt gleichermaßen für Amfortas („Parsifal“/Wagner), den er am Ende der CD berührend singt. Die folgende Szene aus Gounods „Mireille“ mit van Dam als eifersüchtigem Ourrias gefällt ebenso wie zwei Mönchsdarstellungen („Don Carlo“/Verdi; „Roméo et Juliette“/Gounod), die aufnahmetechnisch 17 Jahre auseinander liegen: Stimmschmelz mit balsamischen Übergängen und tragende Tiefe sind weitgehend erhalten geblieben, nur der Kern ist etwas viriler geworden. Bizet ist durch den enttäuschten Ralph („La Jolie Fille de Perth“) und den locker protzenden Escamillo („Carmen“) vertreten.
CD 5 umfasst die große Szene aus Strauss‘ „Salome“, in der der standhafte Jochanaan den Verführungsversuchen Salomes widersteht, und das gleich zweimal: Zuerst erklingt die gewohnte deutsche Fassung (u.a. mit der großartigen Hildegard Behrens Wien 1977), im Vergleich dazu dasselbe in französischer Sprache (mitreißend Karen Huffstodt, Lyon 1990). Beide Fassungen haben ihre Vorzüge: Ist die deutsche doch genau auf die Sprache komponiert, so klingt in der Übersetzung einiges durch andere Vokale und Silbenverteilung auf einzelnen Tönen ganz neu. Die Erotik der Szene kommt im Französischen mehr zum Tragen.
Der Fokus der CD 6 liegt auf Débussys Konversationsoper „Pelléas et Mélisande“, in der Gesang im Sprech-Rhythmus zelebriert wird; vor allem die sechs Gespräche Golauds mit Mélisande vermitteln in van Dams Interpretation einen guten Einblick in das Seelenleben dieser Figur bis hin zu dem großen Ausbruch in „Une grande innocence“. Mit dem kurzen, süffigen Auszug „Où suis-je?“ aus Albéric Magnards „Guercoeur“ stellt van Dam einen hier weitgehend unbekannt gebliebenen französischen Komponisten (1865-1914) vor, bevor er den köstlich listigen Gianni Schicchi grandios zu Wort kommen lässt. Einen Ausflug in die franzöische Operette wagt er erfolgreich als Duparquet in Hahns „Ciboulette“, die musikalisch mit ihren weichen Aufschwüngen und Bögen an Léhar-Melodien erinnert. Schließlich ist noch die klassische Moderne mit Szenen aus Enescus „Edipe“ und Landowskis „Le Fou“ eindrucksvoll vertreten.
Die CDs 7 – 9 sind Liedinterpretationen vorbehalten, wobei es sich ausnahmslos um französisches Liedgut handelt, das José van Dam besonders am Herzen liegt. Da gelingen Berlioz‘ „Les Nuits d’été“ ebenso farbenreich wie die verschiedenen Lieder von Saint-Saens, Gounod und Massenet, die allesamt durch expressive perfekte Diktion überzeugen. Der häufig ausladende Klaviersatz wird von Jean-Philippe Collard mitatmend ausgebreitet. Bei den Ravel-Liedern sind die „2 Mélodies hébraiques“ eine interessante Abwechslung zu den übrigen; ist man doch mit dieser Musik in unserem Kulturkreis viel zu wenig vertraut. Etwas Besonderes sind auch die „Quatre Poèmes d’après l’Intermezzo de Heinrich Heine“ von Joseph Guy Ropartz (1864-1955), einem bei uns ebenfalls wenig oder gar nicht bekannten französischen Komponisten, die van Dam zu kleinen Szenen formt. Poulencs
teils satirisch verspielten, teils ernsthaften Klavier-Lieder „Chansons gaillardes“ und Orchester-Lieder „Le Bal masqué“, (intelligente Musik, die nicht schockt, wie van Dam es in seinem Interview beschreibt), runden die CDs 7 und 8 ab.
Nach drei bekannten Fauré-Liedern ist der Rest der CD 9 dem Oratorium vorbehalten. Da gibt es zunächst „Sechs Monologe aus Jedermann“ von Frank Martin, die zwischen Deklamation und Gesang schwanken, beides von van Dam grandios beherrscht. Als Herodes in Berlioz‘ „L’Enfance du Christ“ bewährt sich abermals die absolut sichere Atembeherrschung verbunden mit hoher, klangvoller piano-Kultur. Davon lebt auch Brahms‘ „Herr, lehre doch mich“ aus dem „Deutschen Requiem“ das van Dam nachdrücklich aussingt. Dagegen dürfte Gounods mit „Geistliche Tragödie“ bezeichnetes Oratorium „Mors et Vita“ in unseren Breiten eine Rarität sein; van Dam macht uns hier mit drei Bariton-Soli bekannt. Den Abschluss dieser CD bilden das „Libera me“ aus Faurés „Requiem“ (Toulouse 1984) und der gleiche Teil aus dem „Requiem“ von Duruflé (ein Live-Mitschnitt aus Paris 1984), in denen van Dam Glaubenssicherheit erlebbar macht (Warner Classics 10 CD, 0825646190492). Marion Eckels