Als einziger seiner Kollegen der Komponistengilde wohnte Emmerich Kálmán am 2. Juni 1944 in New York der Trauerzeremonie für Bruno Granichstaedten bei. Auch Kálmán war erst 1940 nach New York gekommen, und wie Granichstaedten konnte er in Amerika nicht mehr richtig Fuß fassen. Mit Beiträgen zur Austrian Sylvester Cavalcade 1942, zu der auch seine einstigen Konkurrenten Paul Abraham, Ralph Benatzky und Robert Stolz Musik beisteuerten, hatte sich Granichstaedten in den USA ein letztes Mal Gehör verschafft. Die Einladung zu der Silvester-Gala der Wiener Operette hatte ihn geradezu in Euphorie versetzt; stolz verschickte er am nächsten Tag an Freunde und Kollegen Autogrammkarten mit der Widmung „Vom Wiener Herz am Sternenbanner“, die auch den Titel der neuen Granichstaedten-Biografie abgab, die jetzt Ernst Kaufmann, der Neffe von Granichstaedtens zweiter Frau Rosalie, vorlegte, und die, wie wir es von Biografien Benatzkys, Abrahams und Kálmáns kennen, einmal mehr das Schicksal eines in Wien und Europa gefeierten und in der Emigration entwurzelten Komponisten aufrollt.
Dabei durfte sich Granichstaedten berechtigte Hoffnung machen, auch in der Neuen Welt an seine Wiener Erfolge anknüpfen zu können, war er doch bereits 1930, nachdem er durch den Börsenkrach 1929 sein Vermögen verloren hatte, nach Hollywood gereist und hatte gemeinsam mit Nacio Herb Brown die Musik zu zwei Filmen geschrieben. Zehn Jahre später wollte dort keiner mehr etwas von ihm wissen. 1940 waren Rosalie Kaufmann und er nach New York gekommen. Vorausgegangen waren die Inhaftierung durch die Nazis und eine abenteuerliche Flucht über Luxemburg, wo für Granichstaedten die alte Operettenwelt nochmals kurz aufblühte. Als der schwer Herz leidende Granichstaedten die beschwerliche Reise von New York nach Hollywood auf sich nahm, fertigten ihn die Bosse kurz ab. Das traurige Schlusskapitel einer glänzenden Karriere, auf deren Höhepunkt Granichstaedten mit seinem 1925 uraufgeführten und bis zum Zweiten Weltkrieg über 2000 mal gespielten Der Orlow einer der wesentlichen Vertreter der Silbernen Operette war; Granichstaedten meinte später übrigens, dass er mit seinem Orlow und der die Geschichte eines nach Amerika geflüchteten russischen Großfürsten, dem als einziges Erbstück der Orlow-Diamant verblieben ist, Lehár zu seinem Zarewitsch inspiriert habe. Über dem Lied „Für dich mein Schatz, für dich“ stand zum ersten Mal in einer Operettenpartitur „Tempo di Blues“. Der Orlow war auch die einzige von Granichstaedtens Operetten, die später nochmals aufgegriffen wurde, darunter 1959 am Raimundtheater mit Johannes Hesters und 1963 an der Wiener Volksoper mit Eberhard Waechter. Für den Orlow hatte der Kettenraucher Granichstaedten auch das Zigarettenlied mit dem Refrain „Schicksal hau zu, ich halt was aus!“ geschrieben. Unvergänglich dürfte indes einzig das Lied des Zahlkellners Leopold „Zuschau’ n kann i net“ bleiben, Granichstaedtens Beitrag zu Benatzkys Operette Im weißen Rössl.
Begonnen hatte alles wie in einer Operette: Als der aus einer kunstsinnigen jüdischen Familie stammende Bruno Granichstaedten 1879 getauft wurde, war Alexander Girardi sein Taufpate. Bereits mit fünf Jahren erhielt er Klavierunterricht bei Anton Bruckner und mit 16 Jahre wurde er gelegentlich von Hugo Wolf unterwiesen. Er begann ein Musikstudium in Leipzig und erhielt noch während seiner Ausbildung das Angebot, als Korrepetitor an die Münchner Hofoper zu kommen, eine Stelle, die er bald verlor, weil er sich in der Kabarettszene um Frank Wedekind profilierte. Mit großem Erfolg wird 1908 in Wien seine erste Operette uraufgeführt. Von nun an geht es Schlag auf Schlag: fast jedes Jahr folgt eine neue Operette, manchmal sogar mehrere, wenige sind Flops. Die größten Erfolge – neben Der Orlow – sind 1915 Auf Befehl der Kaiserin, deren 500. Aufführung der kriegsverletzte Komponist mit schweren Schmerzmitteln und Stützkorsett dirigierte, 1921 Indische Nächte. Granichstaedten war ein Vorreiter. Herbert Prikopa schreibt in seinem Vorwort, „man vergisst vor allem, dass Granichstaedten es war, der alle modernen Tänze, alle modernen, meist aus Amerika kommenden Klänge mit der Operette musikalisch verband. Er scheute sich nicht, zusammen mit einem normalen Theaterorchester auch eine Jazzband auftreten zu lassen, Saxophon und Vibraphon gehörten zu seinen Schlagern und diese wurden wegen der neuen Instrumentation und der Verwendung von Blues und Shimmy bejubelt“. In seinem Buch setzt Ernst Kaufmann dieses Leben romanhaft in Szene – mit vielen Dialogen und Erlebnissen als habe er immer hinter dem Sessel gehockt und alles fleißig aufnotiert. Was ein bisschen anmutet, wie die fantasievollen Künstler-Biografien der 1930er und 40er Jahren erhält durch Kaufmanns familiären Hintergrund seine Berechtigung, „Rosalie, die nach dem Krieg in Amerika geblieben war, besuchte Granichstaedtens Grab regelmäßig und verbrachte jeden Sommer einige Wochen in Wien. Ich erinnere mich lebhaft an ihre Erzählungen, durch die sein Leben, sein Zugang zu Musik und die Kreise, in den er sich bewegte, ein Teil meines Denkens wurden“. Rolf Fath
Ernst Kaufmann, Wiener Herz am Sternenbanner. Bruno Granichstaedten Stationen eines Lebens.; 314 Seiten, Edition AV, ISBN 978-3-86841-096-9
Beim Hamburger Archiv für Gesangskunst sind zwei Operetten Granichstaedtens in historischen Aufnahmen herausgekommen und in operalounge.de besprochen worden: Auf Befehl der Kaiserin und Der Orlow.