Wer, bitte, ist Tannenhäuser? Der Grafiker, der die Box mit den Opernmitschnitten unter Wilhelm Furtwängler gestaltete, muss ein Verehrer von Ludwig Tieck sein. In dessen Geschichte vom „Getreuen Eckhard“ kommt ursprünglich jemand dieses Namens vor – inzwischen aber längst der Schreibweise angepasst, wie sie auch Richard Wagner für seinen aufmüpfigen Minnesänger wählte – Tannhäuser. Dieser und kein anderer ist natürlich gemeint. Der Druckfehler auf der Außenseite dieser als Würfel gestalteten Neuerscheinung von The Intense Media (600168), der sich auch im Innern hartnäckig hält, ist der Rede nicht wert. Denn Furtwängler hat die Oper gar nicht komplett dirigiert hinterlassen. Es geht lediglich um knapp zwanzig Minuten aus der Wiener Staatsoper, dazu noch verteilt auf die Jahre 1935 und 1936. In die Besetzung der Titelrolle teilen sich Max Lorenz und Gotthelf Pistor. Sie treten nur fragmentarisch in Erscheinung. Die Romerzählung fällt aus. Dafür betet der ungarische Bariton Alexander Sved seinen Abendstern in höchster Verzückung an, was auch nach gut achtzig Jahren noch zu Herzen geht.
Ohne Druckfehler geht es auch in der Trackliste nicht ab. Wenn Tannhäuser im Sängerkrieg die Venus anruft, tut er es in der gedruckten Form mit „Die Göttin der Liebe“. Das könnte ein Schlager sein. Es liegt auf diesem Werk grafisches Ungemach, das sich bei anderen Opern in Petitessen verliert. Wenn beispielsweise im dritten Aufzug des Tristan aus die „alte ernste Weise“ plötzlich die „alte erste Weise“ wird, dann Schwamm drüber. Wenigstens ist Frida Leider richtig geschrieben in der Besetzungsliste von Szenen aus der Londoner Götterdämmerung von 1936 – nämlich ohne das sonst oft übliche und falsche -ie-. Das versöhnt. Auf Furtwängler käme man bei den Tannhäuser-Szenen nicht. Die sehr eingeschränkte Akustik gibt es gar nicht her. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem Sinn der Veröffentlichung, die aufs rein Dokumentarische beschränkt bleibt. Eine so große Furtwängler-Edition sollte auch durchgehend nach Furtwängler klingen. Damit sind die kritischen Aspekte weitgehend abgehandelt.
Alles andere steht auf der positiven Seite. Der bislang im heimischen Regal vorhandene, gut halbe Meter Opern-Furtwängler schrumpft plötzlich auf knappe vierzehn Zentimeter, ein großer Vorteil solcher Boxen. Für das Label stellt sich die Ausgangslage des Materials günstig dar. Es kann in die Vollen greifen. Alle Werke sind – wenn auch über viele Jahre verstreut – bereits auf dem Markt gewesen, mitunter gar unter namhaften Etiketten. So hatte die EMI schon bald ihre schützende Hand auf Liveaufnahmen von Furtwängler gehalten, was gar nicht hoch genug anzurechnen war. Damit wurde ein Gegengewicht zu den Angeboten des grauen Marktes geschaffen, der zwar erst mit den Titeln bekannt gemacht hatte, in der klanglichen Aufbereitung aber an Grenzen stieß. Plötzlich klang Furtwängler wieder ihm gemäßer. Mozarts Hochzeit des Figaro, 1953 in deutscher Sprache in Salzburg mitgeschnitten, erschien 1996 offiziell in der EMI-Festspielreihe, gleiches gilt für die Zauberflöte, Verdis Otello (beide 1951) und Beethovens Fidelio mit Kirsten Flagstad (1950). Eine Aufnahme, die nun beim sehr willkommenen Wiederhören erneut großen Eindruck macht. Die Flagstad, damals schon Mitte fünfzig, lässt ihre stimmlichen Malaisen durch Ausdruck und Eindringlichkeit der Gestaltung vollkommen vergessen. Bei den Salzburger Festspielen wurde Don Giovanni unter Furtwänglers Leitung dreimal mitgeschnitten. Rechnet man den berühmten Film dazu, der auch auf DVD zu haben ist, und bei dem es sich um eine Mischfassung handeln soll, kommt man auf vier Dokumente. Intense Media hat sich – und das ist gut so – für die Aufnahme von 1950 entschieden, die sich in einigen tragenden Partien von den übrigen unterscheidet. Ljuba Welitsch ist die Donna Anna, Tito Gobbi der Don Giovanni und Irmgard Seefried die Zerlina. Die EMI veröffentlichte 1986 den Mitschnitt von 1954 in dem die genannten Partien – wie im Film – von Elisabeth Grümmer, Cesare Siepi und Erna Berger verkörpert wurden. Mit Ausnahme des Films singt Elisabeth Schwarzkopf immer die Elvira.
Was noch aus Salzburg? Der unheimliche Freischütz von 1954 mit der bis zur Unerträglichkeit gespannten Ouvertüre in bester akustischer Verfassung. Elisabeth Grümmer ist die Agathe, Rita Streich das Ännchen, Hans Hopf der Max und Kurt Böhme der Kaspar. Sie brauchen viel Atem und Ausdauer, um dem Dirigenten, der es nicht eilig hat, folgen zu können. Wie nicht anders zu erwarten bei Furtwängler, stellt Richard Wagner die umfangreichste Abteilung der Edition. Überraschungen sind erwartungsgemäß nicht dabei. Tristan und Isolde ist in Auszügen zweimal vorhanden. Einmal von 1947 aus dem Berliner Admiralspalast, dem Ausweichquartier der zerbombten Staatsoper, als sich Frida Leider als Regisseurin versuchte. Zur Erinnerung: Erna Schlüter ist nun die Isolde, Ludwig Suthaus der Tristan. In der Wiener Staatsoper wurden bereits 1941 und 1943 unter ziemlich abenteuerlichen Umständen große Teile aus allen drei Aufzügen festgehalten mit der nicht eben höhensicheren Anny Konetzni und Max Lorenz. Sie sind vor zwanzig Jahren im Rahmen der legendären Edition Wiener Staatsoper – live beim Label Koch/Schwann erstmals erschienen und offenkundig von dort in der selbenTrack-Einteilig übernommen worden. In der Gesamtaufnahme der Meistersinger von Nürnberg von den Bayreuther Kriegsfestspielen 1943 konnten die Fehlstellen – die Szene „Verweilt! Ein Wort“ nach dem Einleitungschor der Gemeinde und das Quintett in dritten Aufzug – auch nicht ergänzt werden. Wie denn auch? Sie scheinen endgültig verloren.
Kein Ruhmesblatt in der umfangreichen Diskographie Furtwänglers sind die Meistersinger, die er 1938 in Nürnberg beim Reichsparteitag der Nationalsozialisten leitete. Sie sind mit vier Szenen dokumentiert, darunter der Fliedermonolog des Sachs (Rudolf Bockelmann), seine Szene „Gut’n Abend, Meister“ mit Eva (Tiana Lemnitz) und der Wach-auf-Chor. Wie mag Furtwängler sich dabei gefühlt haben? Im Publikum langweilten sich reihenweise Funktionäre, denen das Interesse an Wagner erst durch Hitler befohlen werden musste. In seinem Buch „Heroische Weltsicht“ berichtet Sebastian Werr bemerkenswerte Einzelheiten über das „fehlende Interesse an Wagner innerhalb der Bewegung“. Auf der Rückseite der entsprechenden CD-Hülle ist etwas verkürzt die Rede davon, dass die Vorstellung anlässlich des Reichsparteitages nach dem Anschluss Österreichs im März/April 1938 stattgefunden habe. Das ist zwar grundsätzlich richtig. Der Zusammenhang beider historischer Ereignisse ergibt sich aber daraus, dass der Parteitag in diesem Jahr erstmals Reichsparteitag Großdeutschlands genannt wurde. Es sollte übrigens der letzte sein. Nach dem Krieg wurde Furtwängler auch die Teilnahme an dieser gigantischen Propaganda-Veranstaltung der Nationalsozialisten scharf angelastet.
Fünfzehn von insgesamt einundvierzig CDs belegt der Ring des Nibelungen von 1950 aus der Mailänder Scala. Das schafft. Als es noch keine CD gab, kam die erste Veröffentlichung auf Schallplatten einer Sensation gleich. Bis dahin hatte es keinen kompletten Ring als Livemitschnitt auf Tonträgern gegeben. Frühere Dokumente sind erst lange danach an die Öffentlichkeit gelangt. Inzwischen sind mehrere komplette Veröffentlichungen dieses Ringes auf CD zustande gekommen, die mit der Zeit immer besser im Klang wurden. Davon profitiert auch die Edition. Noch einmal versammelte sich die von Furtwängler angeführte Sängergeneration, die bald abtreten würde, um ihr Zeugnis dafür abzulegen, wie Wagner zu singen ist. Bis heute lässt sich – für Künstler wie für schlichte Opernfreunde – daraus Honig ziehen. Die Aufnahme gleicht einem Monument. Ein Jahr später wurden die ersten Bayreuther Festspiele nach dem Krieg abgehalten, die auf dem Grünen Hügel – und nicht nur dort – eine neue Zeitrechnung im musikalischen Umgang mit Wagner einleiteten. Die wenigsten Sänger, die in Mailand dabei waren, schafften es in diese Zukunft. Lorenz sprang nur noch zweimal ein, Treptow nahm seinen Mailänder Siegmund nur für die ersten beiden Bayreuther Jahre mit, danach verlegt er sich auf kleinste Rollen. Einzig der 1899 geborene Ludwig Weber, der als Fafner, Hunding und Hagen an der Scala mit dabei war, sang in Bayreuth bis 1961 in allen Rollen, die Wagner Opern für seinen schweren dunklen Bass hergeben.
Die Edition wirbt damit, „erstmals den Versuch“ zu unternehmen, „alle erhalten gebliebenen Tonaufnahmen der von Furtwängler geleiteten Opernaufführungen in Komplettfassungen oder Ausschnitten zu dokumentieren“. Solches Selbstlob kennt man, es ist erlaubt. Klingeln gehört nun mal zum Geschäft. Stimmen tut es nicht. Als Versuch um Vollständigkeit kann die schöne Sammlung durchaus gelten. Es gibt aber – wie bereits angedeutet – noch etliche Mitschnitte mehr, darunter Don Giovanni, Zauberflöte, Fidelio. Oft mehrfach. Und vielleicht kommt ja irgendwann noch etwas dazu.
Rüdiger Winter