Wieder gibt die SONY/deutsche harmonia mundi in ihrer Reihe „Opern aus den Archiven der Welt“, die von Bayer Kultur und dem Ensemble l’arte del mondo unter seinem künstlerischen Leiter Werner Ehrhardt initiiert wurde, eine Weltersteinspielung heraus – Glucks La clemenza di Tito. Metastasios Textbuch zählt zu den meistvertonten Libretti (u. a. von Caldara, Hasse und natürlich Mozart); Glucks Version erlebte ihre Premiere 1752 in Neapel. Sie zeigt noch die bekannten stilistischen Elemente der opera seria mit ihrem strengen Formschema – den Dacapo-Arien und anspruchsvollen Bravourstücken. Für den berühmten Kastraten Caffarelli, der als Sesto besetzt war, schrieb Gluck zwei virtuose Nummern. Und ihm fiel das berühmteste Stück der Oper zu, welches am Ende des 2. Aktes erklingt – „Semai senti spirarti sul volto“ – und das der Komponist viele Jahre später noch einmal für die Arie „O malheureuse Iphigénie!“ der Titelheldin in Iphigénie en Tauride verwendete. Aber auch Sestos erste Arie, „Opprimete i contumaci“, ist ein furioses Bravourstück, das dessen emotionale Situation plastisch schildert. Die Primadonna Caterina Visconti als Vitellia wurde ebenfalls mit zwei effektvollen Auftritten bedient. Hier singen die Sopranistinnen Raffaela Milanesi und Laura Aikin die beiden Rollen, erstere mit etwas dunklerem und recht strengem Timbre, letztere heller und jugendlicher im Ton. Aber insgesamt unterscheiden sich die Stimmen nicht wesentlich von einander, ein hoher Counter hätte da für einen reizvollen Kontrast gesorgt. Aber wenigstens ist der Annio mit einem solchen besetzt – und Valer Sabadus (der das Barna im einstigen Doppelnamen inzwischen abgelegt hat) ist dann auch das vokale Ereignis der Einspielung. Seine erste Arie, „Io sento che in petto“, lässt die vibrierend-sinnliche Stimme mit ihrem Höhenglanz, der Koloraturbrillanz und den schmeichelnden Trillern sogleich bestens zur Wirkung kommen. Betörend auch sein zweites Solo, „Ah! Perdona al primo affetto“, in seiner verführerisch kosenden Stimmgebung sowie das „Ch’io parto reo“ im 2. Akt mit den mirakulösen Höhenausflügen. Schließlich sorgt er auch im 3. Akt mit dem flehentlich vorgetragenen „Pietà, signor“ nochmals für einen vokalen Höhepunkt. Milanesi singt den Sesto mit Aplomb und Verve, riskiert auch manch schneidenden, gar hässlichen Ton. Das bekannte „Parto, ma tu, ben mio“ als eine Schlüsselszene der Handlung gibt es natürlich auch hier, ist aber verhaltener, besitzt nicht die Vehemenz wie in Mozarts Oper. Virtuose Koloraturläufe und exponierte Spitzentöne erfordert das „Fra stupido e pensoso“ in der Mitte des 2. Aktes, dem dann das berühmte „Semai senti spirarti sul volto“ folgt. Milanesi singt es in einer Mischung aus Strenge und Innigkeit, erreicht mit ihrem existentiellen Vortrag große Wirkung. Aikin entfaltet Vitellias große Szene mit Rezitativ und Arie, „Che angusta è questa!/Quando sarà quel di“, mit alertem Ton und gebührender Bravour. Furios beginnt ihre Arie im 2. Akt, „Comer potesti, o Dio!“, wird aber immer wieder von lyrisch-introvertierten Einschüben kontrastiert, und die Sängerin erfüllt beide Aspekte gleichermaßen überzeugend. Effektvoll beendet sie den 2. Akt mit dem ausgedehnten „Tremo fra’ dubbi miei“, in welchem der aufgewühlte Seelenzustand der Figur mit rasenden Koloraturrouladen und virtuosen staccati geschildert wird, was die Sängerin bestechend umsetzt. Ihr letzter Auftritt beginnt mit dem identischen Rezitativ („Ecco il punto“) wie bei Mozart, weicht aber in der Arie ab. Hier hört man „Getta il nocchier talora“, wo das im Barock häufig erscheinende Bild des Steuermannes inmitten tobender Wellen gebraucht wird. Die Titelrolle war bei Mozart ein cavallo di battaglia für Rainer Trost, und er überzeugt auch bei Gluck durch ein reifes, differenziertes Charakterporträt mit individuellem Timbre, energischer Entschlossenheit und lyrischer Empfindsamkeit. Seine erste Arie, „Di quel sublime soglio“, zeigt die Stimme des Tenors in schönem Fluss, mit sensibler und nur gelegentlich etwas bemühter Höhe. Titos „Ah! Se fosse intorno“ hat bei Gluck nicht den stürmischen Drang wie bei Mozart, ist bedächtiger und introvertierter, gibt dem Interpreten aber Gelegenheit für feine und anspruchsvolle Verzierungen, die Trost gelegentlich auch leicht in Bedrängnis bringen. Das betrifft auch die hohe Lage in der energisch vorgetragenen Arie „Tu, infedel“ des 2. Aktes sowie in Titos „Se all’ampero“ des 3. Aktes, welches wiederum einen gänzlich anderen Duktus besitzt als in Mozarts Oper, weniger stürmisch und vehement, mehr kontemplativ und zögernd. Als Servilia gefällt Arantza Ezenarro mit jugendlich-lyrischem Sopran von entschlossenem Vortrag und schöner Flexibilität. Überraschend entfaltet sich die Arie im letzten Akt „S’altro che lagrime“ ganz anders als bei Mozart, schwingt sich nicht auf zum großen Melodiebogen, tönt drängend, nervös, erregt, was die Sopranistin plastisch gestaltet. Publio bringt nicht wie bei Mozart die kontrastierend dunkle Farbe ein, sondern ist ebenfalls mit einem Counter besetzt. Flavio Ferri-Benedetti lässt allerdings einen recht larmoyanten Klang mit hysterischen oder jaulenden Spitzentönen hören.
Die einleitende Sinfonia verweist in ihrem nervösen, aufgewühlt-erregten Duktus auf den dramatischen Konflikt der Handlung und Ehrhardt arbeitet diesen Aspekt plastisch heraus. Federnd und mit imposanten Affekten begleitet er die Sänger und bereitet ihnen die dramatisch-emotionale Folie für ihre lebendige Gestaltung. Die Musik besitzt auch die gebührend pompöse Festlichkeit in den Märschen und im auftrumpfenden finalen Chor „Che del Ciel“, der das lieto fine feiert.
Bernd Hoppe
Christoph Willibald Gluck: La clemenza di Tito (Trost, Aikin, Milanesi, Ezenarro, Sabadus, Ferri-Benedetti; l’arte del mondo, Werner Ehrhardt) SONY/dhm 88843031432; 4 CD