Gerd Schaller als Bruckner-Interpret: Der Dirigent Gerd Schaller, Leiter des von ihm gegründeten „Ebracher Musiksommers“, hat sich in den letzten Jahren zu einem Bruckner-Spezialisten entwickelt. Im Rahmen „seines“ Festivals entstanden in den Jahren 2007 bis 2011 Live-Aufnahmen der Sinfonien Nr. 1 – 4, 7 und 9 des österreichischen Tonsetzers. Gerd Schaller leitete in den Konzerten die „Philharmonie Festiva“, ein Orchester, dessen Kern die Münchner Bachsolisten sind, die inzwischen ihr Repertoire erheblich erweitert haben und nun gemeinsam mit Musikern und Solisten führender Orchester Münchens auftreten. Die unvollendet gebliebene 9. Sinfonie wurde in der Aufnahme von 2010 mit einem Finale versehen, das William Carragan aus Material der nachgelassenen Kompositionsskizzen erstellt hat, eine Arbeit, die wegen des Rückgriffs auf Themen der ersten drei Sätze und vor allem wegen der Ausflüge in die Klangwelt Richard Strauss‘ umstritten ist.
Nun hat sich Gerd Schaller selbst in verschiedenste Bibliotheken begeben, die vielfältigen Kompositionsskizzen gesichtet und eine neue Fassung erstellt. Dabei hat Schaller sämtliche Entwurfsmaterialien bis hin zu frühesten Skizzen berücksichtigt. Von seiner Erfahrung als Bruckner-Interpret hat er sich auch insoweit leiten lassen, als er Ergänzungen stets in der typischen Bruckner-Stilistik vorgenommen hat. Nach Schallers Überzeugung ging es dem überaus frommen Bruckner darum, mit seiner „dem lieben Gott“ gewidmeten letzten Sinfonie noch einmal die Essenz des gesamten eigenen musikalischen Schaffens zu zeigen. Dies gab Schaller die Rechtfertigung, Material aus früheren Sinfonien und anderen Werken zu verwenden, zumal sich Bruckner im 3.Satz selbst zitiert („Miserere“ der d-Moll-Messe und Themen aus der 8.Sinfonie). Zur gewaltigen polythematischen Schluss-Apotheose im Finale nutzte Schaller neben Zitaten aus den Sinfonien 4 bis 8 auch Material aus den Chorwerken „Helgoland“ und – in einer fragmentarischen Skizze enthalten – aus dem „Te Deum“. So wird die Wandlung des im 1.Satz vorgestellten Moll-Themas der letzten Dinge in D-Dur erreicht, als wollte Bruckner so die Hoffnung auf siegreiches, ewiges Leben verdeutlichen.
Die Live-Aufnahme aus dem Juli 2016 zeigt erneut, wie das in allen Instrumentengruppen vorzügliche Orchester unter der kompetenten Leitung Gerd Schallers trotz der teilweise gewaltigen Klangballungen stets durchsichtig zu musizieren weiß. Zugleich flacht die Spannung der vielen lang gezogenen und ineinander verschränkten Melodiebögen niemals ab, ein Verdienst des erfahrenen Orchesterleiters. Das Scherzo mit seinen eruptiven Ausbrüchen, die im Trio die nur noch schwach durchscheinende Ländler-Idylle fast verschwinden lassen, gelingt ebenso überzeugend wie Bruckners letzter vollständiger Sinfonie-Satz, das feierliche „Adagio“. Die in diesem Konzert uraufgeführte Neufassung des Finales wirkt durch die konsequente Beibehaltung des Brucknerschen Stils sehr geschlossen und hinterlässt in der ausgewogenen Interpretation durch Gerd Schaller und die „Philharmonie Festiva“ einen tief bewegenden Eindruck vom Kompositionsvermögen Anton Bruckners (PH16089, 2 CD).
Im Juli 2015 wurden ebenfalls im Rahmen des „Ebracher Musiksommers“ die so genannte „Große Messe“ f-Moll sowie die Vertonung des 146. Psalms aufgeführt. Gerd Schaller leitete den Philharmonischen Chor München und das bewährte Festival-Orchester, die „Philharmonie Festiva“. In der unter Bruckners Leitung am 16.Juni 1872 zum Hochamt in der Wiener Hofkirche St. Augustin uraufgeführten Messe verschmilzt der Komponist Grundzüge des Barock mit denen der Romantik. So zeigt sich Bruckners enge Beziehung zu Bach in einigen Fugen, von denen die am Schluss des Gloria besonders hervorgehoben werden soll, eine kompositorisch komplizierte und chorisch anspruchsvolle, aber höchst ausdrucksstarke Passage. In den einzelnen Teilen der Messe gibt es immer wieder Hinweise auf Jenseitiges, die dieser Messe ihren unverwechselbaren Ausdrucksstil verleihen. So werden die „Christe“-Anrufe im Kyrie von der Solo-Violine umspielt, was ebenso wie das von Solostreichern umhüllte Tenorsolo im Credo „Et incarnatus est“ in der sphärischen Tonart E-Dur musikalisch über alles Irdische hinausweist. Ähnliches gilt für die Violin-Skalen, die dem „Crucifixus“ ein geheimnisvolles Schweben verleihen, und den instrumental basslosen Beginn des Sanctus. Aber auch Glaubenshoffnung und jubelndes Gotteslob finden sich in der Großen Messe: Die erwähnte Fuge im Gloria mündet ein in strahlendes C-Dur. Im dritten Teil des Credo, der auf den Anfang zurückweist, wird mit den stetig eingeworfenen „Credo“-Rufen fast die musikalische Form gesprengt, bis die „Amen“-Zusammenfassung das Glaubensbekenntnis grandios abschließt. Sanctus und Benedictus werden wie üblich jeweils durch ein geradezu aufjubelndes Hosanna beendet. Im Agnus Dei gibt es noch einmal Brucknersche Klangfülle und fast trotziges Aufbegehren; schließlich aber wird sich dem Willen Gottes ergeben und um Frieden gebeten – ein ruhiger, versöhnlicher Schluss.
All dies findet in der Interpretation von Gerd Schaller beredten Ausdruck: Dabei imponiert der stets ausgewogene und zugleich transparente Klang des Philharmonischen Chors München (Einstudierung: Andreas Herrmann). Es wird ausgesprochen kontrastreich musiziert; meisterhaft sind die feinen Piani des Chors, die fast unverbunden neben gewaltigen Ausbrüchen stehen. Ein im Ganzen gutes Solisten-Ensemble trägt zum positiven Eindruck der Live-Aufnahme bei: Mit angenehm aufblühendem Sopran gefällt Ania Vegry, während Clemens Bieber mit glanzvollen Tenortönen und geschmeidiger Stimmführung aufwartet. Der charaktervolle Mezzo von Franziska Gottwald und der dunkle Bass von Timo Riihonen fügen sich sicher ein.
Weitgehend unbekannt ist die vermutlich um 1860 entstandene Vertonung des 146. Psalms, die erst 1971 uraufgeführt wurde. Auch in diesem gut halbstündigen Werk erkennt man den typischen Bruckner-Stil, der allerdings noch nicht so kunstvoll und kompliziert ist wie in seinen späteren Werken. Neben kompakten Chören enthält die Psalm-Kantate schöne solistische Ariosi sowie eine kunstvolle Schluss-Fuge. Alles erfährt eine gelungene Ausdeutung durch die genannten Künstler und Ensembles.
Die Doppel-CD wird durch sechs im September 2015 eingespielte Orgelstücke von Anton Bruckner ergänzt, die Gerd Schaller versiert auf der Eisenbarth-Orgel der Abteikirche Ebrach vorstellt (PH16034, 2 CD). Gerhard Eckels
Anton Bruckner und Günter Wand, zwei Namen, die zusammengehören. Dennoch tut man Wand unrecht, ihn allein auf Bruckner festzulegen. Dieser Sinfoniker prägte aber nun einmal die letzte Phase seines erfolgreichen Wirkens. Bruckner begleitete ihn bis zum Schluss. Auch ich wollte ihn unbedingt mit Bruckner hören und erinnere mich mit Dankbarkeit an entsprechende Konzerte, die sich mir tief eingegraben haben und Maßstäbe setzten. Noch für 2002 war in Berlin ein Konzert mit den Philharmonikern geplant, bei der die 6. Sinfonie erklingen und aufgenommen werden sollte. Der Tod 2001 vereitelte dieses Vorhaben, was besonders zu beklagen ist, weil diese Bruckner-Sinfonie nie aus dem Schatten des übrigen Werkes herausgetreten ist. Wand hat nie einen Bogen darum gemacht. Es gibt mindesten zwei Einspielungen, die mit dem Deutschen Sinfonie-Orchester Berlin ist auch beim Label Profil Edition Günter Hänssler veröffentlicht worden, das dem Dirigenten große Aufmerksamkeit mit einer eigenen Edition gewidmet hat. Jetzt sind gebündelt nochmals sieben Teile erschienen (PH12044/ 1-7), darunter Bruckners Sinfonien Nummer 3, 7, 8 und 9. Es wurden ausschließlich Aufnahmen mit dem NDR Sinfonieorchester ausgewählt, dessen Chefdirigent Wand von 1982 bis 1991 war. 1987 wurde er zudem zum Ehrendirigenten berufen. Bis zum Ende seines Lebens blieb er diesem Klangkörper eng verbunden.
Die Edition legt ein eindrucksvolles Zeugnis für die Fruchtbarkeit und den hohen künstlerischen Standard dieser Zusammenarbeit ab. Neben Bruckner wurden die Posthorn-Serenade und die g-Moll-Sinfonie von Wolfgang Amadeus Mozart, das Oboenkonzert in c-Moll mit Paulus van der Merwe von Joseph Haydn und das Klavierkonzert von Robert Schumann mit Gerhard Oppitz aufgenommen. Eine sehr gute Mischung. Das späteste Dokument, die gigantische Achte von Bruckner, stammt aus dem Jahre 2000. Aufnahmeort ist durchweg die Hamburger Musikhalle mit ihrer hervorragenden Akustik, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte. Es wird nicht eindeutig ersichtlich aus den Booklet, ob es sich um Liveaufnahmen oder um Produktionen ohne Publikum handelt. Durch Bearbeitungen können heutzutage Beifall und sämtliche Nebengeräusche herausgefiltert werden. Für einige Werke wie die 3. Sinfonie von Bruckner gibt es nur eine Tagesangabe, im konkreten Fall den 23. Dezember 1985, die meisten anderen Aufnahmetermine erstrecken sich über mehrere Tage was für Studiobedingungen spricht. Einige vertiefende Informationen hätten dieser Edition gut getan.
Wands Bruckner ist monumental und lyrisch zugleich. Er nähert sich ihm nicht separat, sondern aus einer großen Traditionslinie heraus, als seien Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und Brahms immer mit im Spiel. Selbst im groß angelegten ersten Satz der 8. Sinfonie gibt es Momente, die an Beethovens Pastorale oder die zarte Besonnenheit in der 3. Sinfonie von Brahms erinnern. Musikalische Steigerungen nehmen bei Wand ihren Ausgangpunkt oft aus fein gesponnenen Gedanken. Sein Bruckner ist durch und durch menschlich. Wer sehr genau hinhören kann und die erforderliche Ausdauer mitbringt, dem werden tiefe Einblicke in Bruckners Seele und seine Gefühlswelt offenbart. Da ist nichts Spektakuläres unterwegs. Dieser Dirigent verlangt, dass man sich einlässt. Deshalb werden ihm Tonträger, so wunderbar sie auch in dieser Edition sind, nicht ganz gerecht. Ich wollte ihn immer auch sehen bei der Arbeit. Ich werde nie vergessen, wie sich dieser zarte, durchgeistigte alte Mann mit sparsamen Bewegungen das riesige Orchester unterwarf, wie alle gleichermaßen in seinen Bann gerieten – die Musiker und die Zuhörer im Saal. AErfreulich ist, dass das Label Hänssler bei seinen Editionen die Zusammenarbeit mit dem öffentlich-rechtlichen Hörfunk sucht. Bei Günter Wand ist der Norddeutsche Rundfunk mit im Boot, sein Logo prangt auf allen CD-Hüllen.
Der Sender ist neben ZDF und 3Sat auch Partner bei Arthaus, wo Wands Deutung der 5. Sinfonie von Anton Bruckner herausgekommen ist (107 243). Es handelt sich um den Mitschnitt des Eröffnungskonzerts des 13. Schleswig-Hollstein Musik Festivals 1998 in Lübeck. Es spielt ebenfalls das NDR-Sinfonieorchester. Berührend an diesem Film ist, dass die nach außen hin sehr sparsame Arbeitsweise des betagten Dirigenten genau eingefangen ist. Das Auge hört sozusagen mit. Die Blumen am Schluss des umjubelten Konzerts überreicht die damalige Ministerpräsidentin Heide Simonis höchst selbst.
Noch einmal zurück zu Hänssler. In der Editionen Staatskapelle Dresden, die inzwischen auf mehr als dreißig Teile angewachsen ist, wirkt der Mitteldeutsche Rundfunk MDR als Partner mit. Dies führt zu einer interessanten Erweiterung des Repertoires. Den Gebühren zahlenden Hörern wird auf diese Weise etwas zurück gegeben. Vol. 34 der Dresdner Reihe ist ein für den Chefdirigenten des Orchesters, Christian Thielemann, sehr typisches Programm mit Ferrucio Busonis Nocturne Symphonique, Hans Pfitzners Klavierkonzert in Es-Dur mit Tzimon Barto, und der Romantischen Suite von Max Reger (PH 12016). Die Werke sind zwar aus zwei unterschiedlichen Konzerten von 2011 zusammengestellt, sie hätten aber auch an einem Abend gespielt werden können. Diesmal lässt das Booklet keine Wünsche offen. Alle Werke werden analysiert und durch literarische Vorlagen wie bei der Reger-Suite nach Eichendorff ergänzt. Komponisten, Dirgent und Solist werden in Wort und Bild vorgestellt. So soll es sein. Rüdiger Winter