Francoise Pollet

 

Eine meiner ganz großen Sängerlieben gehört zweifellos Francoise Pollet, die ich vielfach und mit größter Bewunderung live gehört habe. In Erinnerung bleiben mir ihre wunderbare Valentine in den Huguenots in Montpellier neben Leech unter Diederich, wovon es auch die Live-CD bei Erato gibt – wie ihre Solo-CD ebendort eines der ganz bedeutenden Dokumente französischen Operngesangs. Ich sah sie in den Troyens in New York, und ihre Didon auf der Decca-Aufnahme unter Dutoit gehört zu den immortellen Verkörperungen der Partie neben Marisa Ferrer, Régine Crespin und Josephine Veasey. Ihre Mitwirkung in Reyers Sigurd in Marseille war für mich ebenso ein Erlebnis wie ihre Madame Lidoine oder Ariane. Ihre Stimme ist ein echter Falcon. Dunkel, etwas kehlig im Timbre und von unerhörter Leuchtkraft in den oberen Bereichen, dabei von bemerkenswerter Wortdeutlichkeit. Nur wenige wissen, dass Francoise Pollet  ihre ganz frühen Auftritte im Staatstheater Lübeck als Marschallin oder Fremde Fürstin hatte. Daher auch ihr ganz exzellentes Deutsch. Über viele Jahre bin ich ihr nachgereist, habe mehrfach ihre Nuits d´été im Konzert erlebt und sie in manchen Rollen, auch italienischen wie Leonora/Trovatore, gehört – was für eine Stimme, was für eine wirklich bedeutende Künstlerin, was für eine bedeutende Frau.

Francoise Pollet/ OBA/ Pollet

Francoise Pollet/ OBA/ Pollet

Heute unterrichtet Francoise Pollet, und es ist uns eine große Freude, ein Interview mit dem Chefredakteur Philippe Banel vom französischen Opern-Website-Tutti-Magazine übernehmen zu können, das uns der Autor freundlicher Weise überlassen hat (Ingrid Englitsch war wie stets für die Übersetzung aus dem Französischen zur Stelle; Credits nachstehend). Darin geht es zwar in erster Linie um ihre Lehrtätigkeit am Konservatorium von Lyon, aber sie hält auch mit ihrer sehr dezidierten Meinung zum Gesang, zu Sängerkarrieren heute und vielen anderen Erscheinungen des modernen Gesangslebens nicht zurück. Was für eine bemerkenswerte, unverwechselbare Frau. Vive la Grande Pollet! G. H.

 

Francoise Pollet in New York 1994 vor ihrem Poster an der Met/ Pollet

Francoise Pollet in New York 1994 vor ihrem Konzert-Poster an der Met/ Pollet

Sie sind seit 2002 Gesangsprofessorin am Conservatoire National Supérieur Musique et Danse von Lyon. Wie sind Sie zum Unterrichten gekommen? Ich habe sehr früh zu unterrichten begonnen, was mir erlaubt hat, diesen Wunsch, mein Wissen zu teilen, der schon immer in mir war, zu befriedigen. Der erste, der mich dazu initiiert hat, ist der Schweizer Tenor Ernest Haeffliger. Eine französische Sängerin hat sich ihm vorgestellt, um in die Hochschule München einzutreten, wo er lehrte, und er hat sie mir anvertraut, dass ich mit ihr arbeitete… So befand ich mich vor der Schwierigkeit, das Mittel zu finden, mein Wissen weiterzugeben. Welche Worte waren geeignet, um mich verständlich zu machen? Diese Sängerin hatte übrigens eine ganz andere Stimme als ich. Ich war damals noch lyrischer Sopran…

Als ich wenig später mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks arbeitete, traf ich auf Musikstudenten, die Gesangslehrer suchten. Die Praxis war Teil ihrer Studien und sie mussten verpflichtend Chorstunden nachweisen,  ob talentiert oder nicht. Diese Studenten mussten also ein Minimum an Technik erwerben, und ich habe sie unterrichtet. Aber meine Anfänge als Pädagogin, gestehe ich Ihnen, waren nicht besonders.

 

Fracoise Pollet als Strauss´Marschallin in Genua/ Pollet

Francoise Pollet als Strauss´Marschallin in Genua/ Pollet

Sie galten als ein Sopran spinto, aber zu der Zeit waren Sie noch lyrischer Sopran… So ist es. Ich habe für den Bayerischen Rundfunk mit Arien der Liù und der Pamina vorgesungen. Damals befolgte ich den Rat eines Agenten, der mir gesagt hatte: „Ihre Stimme entspricht nicht Ihrem Aussehen. Kommen Sie wieder, wenn Sie das singen, wonach Sie aussehen!“ Ich war jung und hatte einer so harten Bemerkung nichts entgegenzusetzen.  Wobei er ja nicht Unrecht hatte.  Die Tätigkeit von sechs Stunden Gesang pro Tag beim Chor ließ meine Stimme langsam immer schwerer werden, und ich wurde vom lyrischen Sopran zum Spinto-Sopran bzw. zum jugendlich-daramatischen Sopran, wie es so schön heißt. Mit Hilfe des Unterrichts, den ich nahm, hat sich dann alles natürlich entwickelt. Es ist nicht sinnvoll, mit Gewalt eine tessitura haben zu wollen, die nicht die eigene ist. Ich wiederhole es immer meinen Schülern: Es geht nicht um das Wollen, sondern um das Können!

 

Haben Sie nach Ihrer Tätigkeit bei den Chören des Bayerischen Rundfunks weiter unterrichtet? Ich war drei Jahre in Lübeck engagiert, danach kehrte ich nach Paris zurück. Meine Karriere entwickelte sich rasch, so dass ich keine Zeit mehr zum Unterrichten fand, obwohl mich das Bedürfnis dazu nie verlassen hat. Ich hatte einfach keine Zeit dafür. Die Einladung von Jean-Louis Petit, dem Direktor des Konservatoriums in Avray, die Klasse von Micheline Granger 1995 zu übernehmen, hat es mir dann erlaubt, mich wieder dem Unterrichten zuzuwenden, während ich noch bis 2006 weitersang.

Francoise Pollet als Glucks Alceste an der Opéra Bastille in Paris/ Pollet

Francoise Pollet als Glucks Alceste an der Opéra Bastille in Paris/ Pollet

Durch eine Anzeige in Télérama erfuhr  ich, dass das Conservatoire National Supérieur von Lyon einen Gesangsprofessor suchte. Im Dezember 2000 wurde ich zu einem Gespräch eingeladen und auch dazu, zwei Studenten von unterschiedlicher Stimmlage und unterschiedlichem Niveau zwei Kurse von 20 Minuten zu geben. Henry Fourès, der Direktor, rief mich noch am selben Abend an, um mir die gute Nachricht mitzuuteilen. Ich gestehe, dass ich ein wenig überrascht war. Ich wusste, dass es für diese Stelle zahlreiche Kandidaten gab und einige von ihnen auch renommiert waren, was ich ihm sagte. Er antwortete mir: „Sie waren brillant, wussten Sie das nicht?“ Wie soll man so etwas wissen? Ich war nie selbstzufrieden, und ich wusste nicht, dass ich „brillant“ war, Ich hatte in den Kursen und im Gespräch nur ausgedrückt, was ich glaubte sagen müssen, und ich habe es im richtigen Moment gesagt. Ich wurde also Anfang 2001 Professorin in Lyon.

Anfangs bin ich wöchentlich zwischen Avray und Lyon hin- und hergefahren. Das hat zwei Jahre gedauert. Dann begriff ich, dass  nicht nur praktisch mein ganzes Gehalt für die Reisen und das Hotel draufging, sondern dass auch die Müdigkeit durch den ständigen Ortswechsel enorm war. Ich unterrichtet montags und dienstags in Lyon und donnerstags und freitags in Avray… Ich übersiedelte also 2003 nach Lyon.

Folgen Unterrichtende eigentlich den Spuren ihrer eigenen Lehrer? Als ich zu unterrichten begann, sicher. Aber nach und nach bildet man sich im Laufe der beruflichen und persönlichen Erfahrungen eine eigene Identität, und schließlich war ich sicher, eine Unterrichtsart entwickelt zu haben, die dem ähnelt, was ich dank einer 30-jährigen Karriere geworden bin. Ich gestehe das Glück zu haben, am CNSMDL gute Leute unterrichten zu können, von denen einige sicher Karriere machen: Solisten, Choristen oder Gesangsprofessoren, fast alle sind im Gesangsbereich professionell tätig.

Françoise Pollet interprète Reiza dans Oberon à Montpellier 1988. © Vincent Pereira/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet interprète Rezia dans Oberon à Montpellier 1988. © Vincent Pereira/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Die Meisterkurse, die ich im Opernstudio der Opéra National du Rhin von Straßburg ungefähr zehn Jahre lang gegeben habe, haben mir erlaubt, Beziehungen zu jungen Sängern zu knüpfen, die von Zeit zu Zeit zu mir kommen, um mich um Rat zu fragen. Andere Interpreten, die weiter fortgeschritten sind, suchen mich auf, um mit mir zu arbeiten, wenn sie auf der Reise nach Lyon kommen. Das ist zum Beispiel bei dem Bariton Jean-Sébastien Bou und der Mezzosopranistin Ève Maud Hubeaux der Fall. Die Beziehungen, die ich mit so guten Sängern unterhalte, geben mir sehr viel.

 

Man weiß ja, wie ein Gesangslehrerr seine Schüler beeinflussen kann. Glauben Sie, dass, umgekehrt, ein Unterrichtender durch seine Schüler beeinflusst werden kann? Ich bin sicher, dass die Erfahrungen, die jeder Lehrer  mit seinen Schülern macht, dazu beitragen, aus dem Pädagogen das zu machen, was er ist.  Unter den Sängern, die ich unterrichtet habe, haben mich einige stets durch ihr Timbre und ihre Sensibilität berührt. Wenn ich sie wiedersehe, fühle ich immer noch dasselbe. Es kommt vor, dass die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler weniger gut verläuft, aber diese Schüler beeinflussen mich dennoch. Es ist mir – selten – passiert, eine Klasse von Studenten zu haben, deren Niveau ich für einen Eintritt in ein CNS für ungenügend hielt. Ich liebe es nicht, zu versagen.

Eine so genannte „höhere“ Institution sollte das Vorzimmer des beruflichen Lebens sein, und die aufgenommenen Studenten sollten das Recht haben, zu glauben, dass sie das Potential für eine Karriere haben. Leider ist das aber nicht immer der Fall. Es ist mir schon passiert, dass ich meine Meinung über einen Studenten geändert habe. Doch mein Instinkt hat mich selten getäuscht.

 

Françoise Pollet (Amelia) et Alain Fondary (Simon Boccanegra) dans Simon Boccanegra de Verdi à Avignon en 1992/ Pollet/ tutti-magazine.fr

Françoise Pollet (Amelia) et Alain Fondary (Simon Boccanegra) dans Simon Boccanegra de Verdi à Avignon en 1992/ Pollet/ tutti-magazine.fr

 Was halten Sie von den Gesangswettbewerben? Wie auch immer die Jury zusammengesetzt ist, die Jury lässt sich hoffnunglos bluffen. Sänger, die sich präsentieren und und mit ihrem ganzen Körper vom Kopf bis zur Sohle singen, können weniger gut bewertet werden, wenn ihr Gesang ohne Ziererei und Affektiertheit wirkt. Andererseits kann ein Sänger, der seinen Körper nicht beherrscht und nicht das besitzt, was ich „ihn im Gleichgewicht halten“, auch große Zustimmung erreichen. Doch was kann ein solcher Sänger auf der Bühne geben, und was sind für ihn selbst die Konsequenzen für sein Instrument?

Ich erinnere mich an eine Episode, als ich Cassandre in den Troyens an der Met in New York sang. Meine Zweitbesetzung durfte laut Vertrag eine Vorstellung singen. Ich musste ihr also meinen Platz überlassen und befand mich für alle Fälle in den Kulissen. Als ich sah, was sie auf der Bühne anstellte, welches Erstaunen! Bei jeder hohen Note, die sie nicht herausbekam, verwandeltete sich diese in einen Schrei, den sie in die Kulissen tat, mit dem Rücken zum Publikum. Am Ende der Vorstellung bekam sie Ovationen vom Publikum! Sie können sich fragen, was zählt…

Das ist ein Thema, das ich oft bei meinen Studenten anspreche, wobei ich versuche, ihnen den Respekt vor dem Komponisten und dem Dichter zu übermitteln. Ich sage ihnen auch scherzhaft, dass sie für die hohen Töne bezahlt werden. Wenn ein Sänger eine hohe Note vier Takte lang aushält, die einen Takt lang geschrieben ist, erregt das Begeisterung im Saal. Es ist mir passiert, dass ich der auch Versuchung erlag und eine Art Vergnügen bei dem starken Applaus empfand. Ein Vergnügen, das aber mit Scham verbunden ist, weil man die Partitur nicht respektiert  hat. Ich glaube aber auch, dass es wichtig ist, Kompromisse einzugehen. Aber wenn ich an Haefliger oder Fischer-Dieskau denke, sie hätten um nichts auf der Welt so gehandelt. Sie wären „anständig“ geblieben. Das ist wahrscheinlich ein Phänomen der dieser Sängergeneration.

 

Françoise Pollet (Cassandre) et Thomas Hampson (Chorèbe) dans Les Troyens dirigés par James Levine par en 1993/ Pollet/ tutti-magazine.fr

Françoise Pollet (Cassandre) et Thomas Hampson (Chorèbe) dans Les Troyens dirigés par James Levine par en 1993/ Pollet/ tutti-magazine.fr

Ihr Interesse am Text erklärt wahrscheinlich Ihre Leidenschaft für das Lied… Sicher. Ich erinnere mich an eine Kritik von Sergio Segalini, ich glaube, es war nach dem Trovatore im Capitole von Toulouse. Er meinte, dass ich nicht viel von diesem Repertoire verstehe, weil ich dem Text zu viel Bedeutung beimaß, den man nicht so sehr beachten müsse. Das ist wahrscheinlich bestreitbar, aber ich konnte nicht anders. Auch das ist eine Sache des Kompromisses. Wer wird einem schönen Legato, einer guten Stimmführung, starken und leisen Tönen, die nicht geschrieben sind, es vorziehen, zu verstehen, was Leonora in „Tacea la notte placida“ sagt.

 

Ist es dasselbe, eine Frau oder einen Mann zu unterrichten? Ich könnte Ihnen mit einem Scherz antworten: Es gibt nur eine Technik, nämlich die gute! Dennoch hat mir mein erster Kontratenor- Schüler etliche Fragen aufgeworfen… Das war in Montpellier, wo ich während meiner Zeit in Lyon einen Meisterkurs gab. Unter meinen Schüler gab es einen Kontratenor. Zuerst habe ich mich gefragt, was ich ihm sagen könnte, und bald habe ich begriffen, dass ich nur einen Sänger wie die anderen vor mir hatte und dass die Technik des Gesangs, des Atems und der Stütze auch für ihn galten. Für ihn wie für die anderen habe ich versucht, nicht zu viel zu tun, die richtige Energie zu finden.

 

Françoise Pollet (Donna Anna) et Raul Alvarez (Don Ottavio) dans Don Giovanni au Teatro Colon de Buenos Aires en 1994. © Arnaldo Colombaroli/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet (Donna Anna) et Raul Alvarez (Don Ottavio) dans Don Giovanni au Teatro Colon de Buenos Aires en 1994. © Arnaldo Colombaroli/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Wenn Sie mit jemandem an einer Rolle oder einer Arie arbeiten, die Sie selbst gesungen haben, kommen Erinnerungen oder Reflexe auf? Das ist ja lustig, denn erst gestern habe ich mit jemand die Arie derZerbinetta gearbeitet. Die Erinnerungen, die mir kamen, waren nicht meine, sondern die von Sopranen, die diese Rolle neben mir gesungen haben. Ich erinnere mich an alle diese Partnerinnen, von Sumi Jo bis Dilbèr (Yunus)  und an die Art, wie sie die Schwierigkeiten der Partie bewältigten. Ich denke auch, dass die Erinnerungen an die Bühne eine Seite sind, die man rasch umblättern muss, sonst wird die wehmütige Erinnerung allgegenwärtig. Erinnerungen sind Erinnerungen, nicht mehr. Ich bin zu etwas anderem übergegangen, auch wenn mir einige Schüler mir manchmal sagen, dass ich beeindruckend sei. Meine starke Persönlichkeit verdanke ich wahrscheinlich den Jahren, in denen ich die großen Heroinen gesungen habe. Sie haben Spuren hinterlassen…

Ich habe Probleme, zu verstehen, was an mir „gebieterisch“ ist, aber offenbar kommen manche meiner Studenten nach vier Jahren Unterricht immer noch mit Herzklopfen in meine Stunden. Ich empfinde mich selbst aber nicht mehr als eine Bühnendarstellerin, sondern nur als Pädagogin., die darauf bedacht ist, die  Verwundbarkeit meiner Schüler nicht zu verletzen, eben Gesangslehrerin zu sein, die fordert, die viel Einsatz von seinen Studenten verlangt. Diese Forderung, denke ich, verliert sich in unserer schnelllebigen Zeit…

Françoise Pollet (Alice Ford) et Dan Musetescu (Falstaff) dans Falstaff de Verdi à Lübeck en 1986/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet (Alice Ford) et Dan Musetescu (Falstaff) dans Falstaff de Verdi à Lübeck en 1986/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Ich erinnere mich an die Bemerkungen eines großen Sängers, dass  die Karrieren heute nicht mehr das sind, was sie waren, seitdem man das Flugzeug hat und nicht mit dem Schiff den Ozean überquerte. Die Zeitumstellungen bringen Schäden mit sich. Die zu raschen Karrieren heute: Man muss jung sein, schön und möglichst eine Modelfigur haben. Doch warum darf die Bühne nicht dem Leben und seinen  unterschiedlichen äußeren Gestalten gleichen? Die Opern-Vorstellungen, die TV-Übertragungen  lassen mich viele Fragen über die Besetzungen, das technische Niveau gewisser Interpreten, die Vorbereitung anderer stellen…
Tatsächlich habe ich nicht mehr sehr viel Lust, ins Konzert oder in die Oper zu gehen. Ich gehe lieber in die Generalproben, um einen Schüler oder Sänger  zu hören. Glauben Sie aber nicht, dass ich überheblich bin. Denn der Grund, der mich von Opernbesuchen zurückhält, ist, dass das Niveau so gesunken ist. Etliche Sänger erwecken auf der Bühne den Eindruck, dass ihre Technik noch nicht ausgereift ist. Wie oft habe ich mir gesagt, dass dieser oder jener Sänger es an Wahrheit, Tiefe, Reife…fehlen lässt. Dennoch sieht es nicht so düster aus, denn die großen Künstler und Interpreten sind nicht verschwunden. Es geht aufwärts. Die Ablösung ist da!

 

 

Françoise Pollet dans le rôle de Brunehilde à l'Opéra de Marseille en 1995/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet dans le rôle de Brunehilde à l’Opéra de Marseille en 1995/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Wie erklären Sie es sich, dass es heute üblich ist, zu junge Sänger für Rollen zu engagieren, die ihre Stimmen zu früh verbrauchen? Einerseits weiß ich es, weil das mein Beruf ist, aber ich bin nicht sicher, dass die Operndirektoren sich der Risiken bewusst sind. Andererseits, wenn sie es wissen, ist es ihnen egal. Was die Sänger betrifft, wenn sie wissen, welche Risiken sie eingehen, gehen sie das Risiko bewusst ein. Erst neulich habe ich mit Fassungslosigkeit festgestellt, dass Operationen des Kehlkopfbereichs nicht selten sind. Kortison reicht offenbar nicht mehr aus! Denn etliche dieser Probleme hängen direkt mit einer schlechten Arbeitsweise zusammen. Man muss den Unterschied machen zwischen einer Zyste, einem Polypen und einem Knötchen. Eine Zyste ist meist genetisch bedingt. Wie ein kleines Sandkörnchen in der Auster schließlich eine Perle wird, trägt man eine winzige Zyste mit sich, die schließlich größer wird. Sie entwickelt sich nicht speziell auf den Stimmbändern, sondern kann sich irgendwo im Körper entwickeln. Ein Polyp entsteht aus einer stimmlichen Müdigkeit, die man nicht beachtet. Dieses kleine Bläschen füllt sich mit Flüssigkeit. Die Operation ist einfach: Man entfernt es, es bleibt ein oberflächlicher chirurgischer Akt. Das Knötchen schließlich kommt von einer schlechten Technik, die immer wieder denselben Platz betrifft. Ein Sänger, der zum Beispiel schlechte Attacken wiederholt, misshandelt sein Organ und kann durch die Wiederholungen einen Knoten bekommen. Es versteht sich von selbst, dass man die Konsequenzen aus einem solchen Alarmsignal ziehen muss. Ich würde sogar sagen, dass, egal welche Operation angewendet wird, die Rekonvaleszens-Zeit unbedingt zum Nachdenken genutzt werden soll. Drei Monate Pause sind nötig. Die erste Woche ist absolutes Schweigen verordnet. Dann beginnt man langsam wieder mit dem alltäglichen Sprechen, dann in kleinen Dosen der Gesang.

Françoise Pollet (Ariane) face à Gabriel Bacquier (Barbe-Bleue) dans Ariane et Barbe-Bleue de Paul Dukas au Théâtre du Châtelet en 1991. © Marie-Noëlle Robert/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet (Ariane) face à Gabriel Bacquier (Barbe-Bleue) dans „Ariane et Barbe-Bleue“ de Paul Dukas au Théâtre du Châtelet en 1991. © Marie-Noëlle Robert/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Angesichts all dessen, werden Sie verstehen, was ich ständig meinen Schülern sage: der Körper zuerst! Man singt nicht mit seinen Stimmbändern, sondern mit seinem Körper. Den ganzen Körper einzubringen, wenn man singt, erlaubt es, technische Probleme zu vermeiden. Ich hätte dreimal die Marschallin im Rosenkavalier singen können, ohne stimmliche Probleme festzustellen. Doch meine Beine, meine Waden, meine Schenkel, mein Rücken hätten es nicht ertragen. Das bildet das Gerüst, das alles trägt. Natürlich muss man diese notwendige Struktur außerhalb des Gesangs zu üben. Deshalb lege ich Wert darauf, dass meine Studenten auch Kurse mit körperlichem Training absolvieren. Aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass die Hälfte der Studenten das nicht tut?

 

Sie waren am Beginn Ihrer Karriere drei Jahre am Staatstheater Lübeck in Deutschlanden. Ist das eine Erfahrung, zu der Sie jungen Sängern raten?  Das ist sogar eine unumgängliche Erfahrung! Dank dieses Ensembles habe ich meinen Beruf gelernt. In Lübeck war ich geborgen, geliebt und unterstützt. Heute sollte ein junger Sänger nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz gehen, um in einem Ensemble zu arbeiten. Ich verstehe nicht, warum Strukturen wie Saint-Étienne, Angers, Tours und viele andere nicht als Ensembletheater funktionieren. In Lübeck waren wir nicht mehr als 14 Sänger mit Jahresvertrag, die nicht weniger ala 5 oder 6 Opernproduktionen, eine Operette und ein Musical herausbrachten. Eine Gruppe von Sängern für 2 Jahre zu bezahlen und ein Repertoire zu konstituieren kostet zweifellos weniger als Produktionen herauszubringen, bei denen man Sänger von Fall zu Fall für nur drei Vorstellungen zu engagieren. Das wäre eine Möglichkeit, ihre Zahl zu erhöhen, ohne Hotelkosten usw..

MI0000965415Als ich in Lübeck ankam, ließ  ich nach 6 Jahren den Chor vom Bayerischen Rundfunk hinter mir, was einem Aufstieg auf der Karriereleiter entsprach. Ich  verdiente dort 4200.- DM pro Monat. Ich verließ diese Position, um all die  interessanten Rollen in Lübeck zu singen.  Vom ersten Jahr an die Marschallin, die Fremde Fürstin in Rusalka, die Mutter in Hänsel und Gretel, Giulietta in Hoffmanns Erzählungen und die Santuzza! Aber dafür, dass ich diese Rollen singen konnte, fiel mein Gehalt auf 3100.- DM pro Monat, das heißt um 1000 DM weniger als wenn ich Choristin geblieben wäre. Dieses Gehalt in Lübeck enthielt natürlich nicht die Kosten für Wohnung und Leben, und auch nicht die Gesangskurse. Dafür hatte ich Coachingstunden, und das Erlernen der Rollen spielte sich gemeinsam mit den Partnern ab. Fünf Personen kümmerten sich um uns, an deren Spitze die Studienleiterin stand. Ich erinnere mich, dass die Proben zum Rosenkavalier am 1.  August begannen, also hatte ich die Rolle der Marschallin in München lernen und mit jemandem arbeiten müssen. Der Zufall kommt einem manchmal zugute. Das war beim Chorchef der Fall, der Coach von Kim Borg für den Ochs in Glyndebourne gewesen war! Man muss sich an den speziellen Stil von Strauss gewöhnen, an diese Art von Konversation, wo das Wort perfekt mit dem der Partner zusammengehen muss. Es ist viel leichter, eine Mozart-Oper zu lernen als eine Strauss-Oper. Die zweite Strausspartie war dann für mich viel leichter zu lernen…

Françoise Pollet (la cantatrice) et Dale Duesing (le Comte) dans Reigen de Philippe Boesmans à La Monnaie de Bruxelles en 1993/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Françoise Pollet (la cantatrice) et Dale Duesing (le Comte) dans „Reigen“ de Philippe Boesmans à La Monnaie de Bruxelles en 1993/ tutti-magazine.fr/ Pollet

Sowie ich in Lübeck ankam, warteten drei Tage Arbeit mit dem Klavier auf mich, denn die Verantwortliche wollte sich vergewissern, dass ich die Rolle konnte. Danach begannen die Bühnenproben. Wir waren gerade beim 2. Akt, als man mich schon für Rusalka mit einem Co-Repetitor eingeteilt hatte, denn ich musste die Fremde Fürstin nur eine Woche nach meiner ersten Marschallin singen. Außerdem musste ich diese Rolle ohne Bühnenprobe übernehmen, weil es eine Reprise war. Bezüglich Hänsel und Gretel begannen die Proben drei Wochen nach dem Rosenkavalier. Diese Aufeinanderfolgen bewirken, dass Sie sozusagen nicht allein arbeiten müssen oder sehr wenig. Sie haben ständig etwas zu singen oder zu proben. Das scheint natürlich hart, aber ich kann Ihnen versichern, dass das ein wunderbares Mittel ist Partien zu lernen. (…)

 

Juin 2015, dernier cours au CNSMDL. Françoise Pollet est entourée de ses élèves et de quelques "anciens", dont le ténor Rémy Mathieu et le baryton Mathieu Gardon/ Tutti-magazin.fr/ Pollet

Juin 2015, dernier cours au CNSMDL. Françoise Pollet est entourée de ses élèves et de quelques „anciens“, dont le ténor Rémy Mathieu et le baryton Mathieu Gardon/ Tutti-magazin.fr/ Pollet

Sie geben oft Meisterkurse. Was ist Ihr Ziel, wenn Sie Sänger für kurze Zeit unterrichten? Ich werde Ihnen so ehrlich wie möglich antworten: die Hoffnung, dass von diesen wenigen Tagen etwas bleibt! Oft werde ich sehr desillusioniert, wenn ich feststelle, dass nichts bleibt. Wenige Tage Arbeit  sind selten ausreichend. Außerdem können diese Studenten nicht genügend konzentriert sein, oft innerlich nicht bereit sein, das anzunehmen, was ich ihnen sage. Als ich im Rahmen der Académie Internationale de Musique Maurice Ravel, arbeitete, dauerte der Meisterkurs 15 Tage und ich dachte, das würde genügen. Ich stellte mit Schrecken fest, dass alles, worauf ich bestand, vor allem die französische Prosodie, verschwunden war. Ich wiederholte immer wieder meinen Studenten, dass man das „r“ locker rollen muss, denn es guttural auszusprechen ist das sicherste Mittel, dass der Ton nach hinten rutscht. Die „r“ sind eine Sache, das stumme „e“ ist eine andere, wenn man französisch singt, und man soll es vor allem nicht zu stark betonen. Die Silbe vor dem stummen „e“ ist verlängert. Das beste Beispiel ist die Art zu sagen  „je t’aime“. Man singt „je t’aièème“ und nicht „je t’aimeee„. (…)

 

Von einem Sänger zu verlangen, seine Gewohnheiten zu ändern, ist wahrscheinlich keine Sache, die leicht akzeptiert wird... Man muss bereit sein, sich zu entwickeln. Wie es der ungarische Pianist und Pädagoge György Sebök in der Dokumentation „Eine Musiklektion“ so perfekt sagt. Man muss, wenn man sich auf einen anderen Sessel setzen will und bereits sitzt, aufstehen und den Sessel wechseln. Man kann nicht gleichzeitig in zwei Sesseln sitzen! Also  muss man, wenn man sich entwickeln will, eine alte Auffassung hinter sich lassen. Denn genau dasselbe gilt für den Sänger und seine Stimme. Ich habe im Moment eine Schülerin, die nicht atmen kann, und es ist klar, dass man in einem solchen Fall sehr rasch auf psychologische Probleme stößt, die den Sänger in seiner Entwicklung blockieren. Manchmal gibt es glücklicherweise auch sehr anspornende Zeichen. Ich habe kürzlich mit dem jungen Tenor Rémy Mathieu gearbeitet, der am CNSMDL mein Schüler gewesen war. Ich habe bemerkt, dass sich in Bezug auf den Beruf des Opernsängers viel in seinem Körper geändert hat. Ich sehe darin ein Zeichen einer positiven Entwicklung. Aber ich stelle auch mit einer gewissen Angst fest, dass manche Sänger glauben, auf ihren eigenen Problemen „surfen“ zu können und vorwärts zu kommen, ohne sich Fragen zu stellen, während doch der Schlüssel der Entwicklung in der Konfrontation mit den eigenen inneren Dämonen liegt. (…)

 

pollet cd eratoSie wollen sich auch im Coaching von professionellen Sängern spezialisieren. Wie gehen Sie diese Tätigkeit an? Viele Faktoren können einen Sänger dazu veranlassen, mit mir arbeiten zu wollen. Ein professioneller Sänger kann bemerken, dass ein kleines Problem nicht gelöst ist und dass man es lösen muss. Ich würde diesen Sänger gern in seiner Vorgangsweise unterstützen. Im Übrigen ist es häufig, dass der Sänger nicht in der Lage ist, selbst die Art seines Problem zu erkennen. ich beobachte ihn, wenn er singt, um zu erkennen, wo sein Problem leigt, und um die Vorgangsweise zu bestimmen. Eine andere Art der Arbeit ist das Rollenstudium, denn eine neue Rolle stellt dem Sänger viele Fragen. Ich komme auf die französische Prosodie zurück, die so vielen Interpreten nicht klar ist. Das ist eine Arbeitsrichtung, die mich begeistert, und ich bin stets bereit, die Erfahrungen, die ich gemacht habe, weiterzugeben, indem ich meinen Kollegen helfe, die richtige Aussprache zu finden, die auch der Stimme erlaubt, sich am besten auszudrücken.

 

 

Und nun auch einmal ein Foto unserer tapferen und stets arbeitswilligen Übersetzerin Ingrid Englitsch aus Wien - Danke!

Und nun auch einmal ein Foto unserer tapferen und stets arbeitswilligen Übersetzerin Ingrid Englitsch aus Wien – Danke!

Ihr Vertrag in Lyon läuft demnächst aus – was wird nun? Mein eigenes Leben, so stelle ich fest, besteht aus vielen Leben. Ich war zuerst Musiklehrerin an Gymnasien, parallel zu meinen Studien am CRR von Versailles, wo ich einen einstimmigen ersten Preis und die Glückwünsche der Jury erhielt. Dann bin ich nach Deutschland gegangen, wo ich wieder meine Studien aufnahm, die ich durch kleine Jobs finanzierte. Nach dem „Staatsexamen für Solo-Gesang“ wurde ich zuerst Choristin. Dann gab ich diese Sicherheit auf, um in das Ensemble von Lübeck zu gehen, bevor ich nach Frankreich zurückkam als freie Sängerin. All das habe ich aufgegeben, als meine Tochter 13 Jahre alt wurde. Die Ereignisse des Lebens brachten es mit sich, dass ich ruhiger werden wollte, für sie und für mich. Nach dem Konservatorium bin ich nun bereit, wieder in ein neues Leben zu treten, das sechste, ebenfalls im Unterricht und im Austausch. Ich hoffe, es wird reich an Begegnungen sein…

 

Das Interview fanden wir in dem französischen website-Magazine Tutti-Magazine.fr , dessen Chefredakteur Philippe Banel uns den Text und die Fotos von Frau Pollet dankenswerter Weise überließ. Mehr zu Francoise Pollet hier:  francoisepollet.com. Und natürlich geht der große Dank wieder an Ingrid Englitsch in Wien, die in Rekordzeit den langen Text für uns übersetzte. Merci Madame! G. H.