Er ist regelmäßig zu Gast in München, Wien und Salzburg, in London, Paris und New York. Bis zum Saisonende ist er noch Generalmusikdirektor am Nationaltheater in Mannheim und seit Beginn der neuen Saison Chefdirigent der Stuttgarter Philharmoniker. Mit dem Israeli Dan Ettinger (44) sprach Hanns-Horst Bauer über Stars und Stress, Verantwortung und Vertrauen.
Ende September vergangenen Jahres haben Sie an der Bayerischen Staatsoper eine Repertoire-Aufführung von Verdis Aida mit sensationeller Topbesetzung dirigiert: Krassimira Stoyanova als Aida und Publikumsliebling Jonas Kaufmann als Radames, beides auch noch szenische Rollendebüts. Wie gehen Sie mit weltweit gefeierten Stars um? Hat man da nicht doch vielleicht etwas Lampenfieber? Mit Jonas Kaufmann habe ich in München schon vor vier Jahren zusammengearbeitet, damals war er Don José in „Carmen“. Für mich also kein Problem! Ich kenne seine Arbeit, seine Art des Singens. Bevor ich mit einem Künstler arbeite, muss ich allerdings schon wissen, was er braucht. Das kann ich bei den Klavierproben vorab herausbekommen, von denen es allerdings vor Repertoire-Aufführungen leider immer weniger gibt. Deshalb ist es für mich sehr wichtig, auch bei den szenischen Proben mit Klavier dabeizusein, um die Sänger besser kennzulernen, um, ganz wichtig, zu sehen und zu spüren, wie sie atmen. Dann kann ich zum Beispiel entscheiden, was für ein Tempo ich vorgeben muss. Da ich vor meiner Laufbahn als Dirigent selbst zehn Jahre lang auf der Bühne gesungen habe, weiß ich sehr wohl, um was es geht, worauf es ankommt. Natürlich können Sänger und Dirigent da unterschiedliche Vorstellungen haben.
Wie bereiten Sie sich auf eine Aufführung mit Topstars vor? Eine Aufführung mit einem Topstar ist natürlich immer eine Herausforderung, die aber die musikalische Arbeit beflügelt. Allerdings versuche ich, mir gar nicht zu viele Gedanken zu machen, das würde nur Stress bedeuten. Auch wenn das wie ein Klischee klingt, für mich ist jede Vorstellung wichtig, egal, wer da in einer Aufführung singt.
Kritiker sind an einem solchen Abend vielleicht besonders kritisch. Denken Sie daran, zumindest im Hinterkopf? Natürlich kann man nie wissen, wer in einer Vorstellung sitzt. Auch in Aufführungen nach einer Premiere kann man keinen Knopf aufmachen und locker entspannt sein. Zudem kann heute jeder im Internet ein Kritiker sein und in seinem Blog schreiben, wie und warum ihm eine Aufführung gefallen hat oder nicht. Für mich ist jede Vorstellung die wichtigste, egal wer im Parkett sitzt. Allerdings muss ich schon zugeben, dass der Stress-Level in unserem Beruf schon ziemlich hoch ist.
Trotzdem lieben Sie ihn? Was ist denn das Schöne, das Besondere, das Aufregende am Dirigent-Sein? Ein Ergebnis live zu hören, das man jahrelang nur in seinem Kopf gehört hat. 80, 120, 200 Musiker zu überzeugen und zu inspirieren, ein Werk zu 90 oder gar 100 Prozent so zu spielen, wie ich mir das vorstelle, das zu erleben, ist wirklich ein unvergleichliches Erlebnis.
Kommt da beim Dirigieren nicht auch ein bisschen ein Gefühl der „Macht“ ins Spiel? Mich fasziniert die Verantwortung, durchaus auch eine Art von Macht, die ich für die Musiker und natürlich auch für die Sänger auf der Bühne habe. Die Verantwortung für ein Werk teilen Sie in der Oper mit dem Regisseur, der für die meisten Kritiker wichtiger ist als das Musik-Team? Wie empfinden Sie diese Verschiebung? Das bedauere ich sehr, denn manchmal vergessen die Regisseure ja, dass schon jemand vor ihnen das Libretto ganz grundsätzlich interpretiert hat, und das ist der Komponist! Wenn ein Regisseur das vergisst und versucht, einen Text eigenständig zu deuten, ohne zu respektieren, was der Komponist in der Musik bereits interpretiert hat, das stört mich. Das tut richtig weh.
Sie dirigieren an großen Häusern in aller Welt und sind dabei mit vielen unterschiedlichen Inszenierungen konfrontiert worden. Welche Regisseure haben Sie wirklich überzeugt? Einer der Höhepunkte war für mich ganz sicher der Zyklus von Wagners „Ring“ in Mannheim, bildgewaltig inszeniert von Achim Freyer. Ihn zu erleben, war für mich eine äußerst wichtige Lebenserfahrung. Er hat alle 200-prozentig überzeugt, auch wenn seine Arbeit uns anfangs etwas fremd war.
Im Repertoire-Betrieb werden Sie nicht nur mit den unterschiedlichsten Regie-Arbeiten konfrontiert, sondern sicher auch immer wieder mit Überraschungen? Ganz sicher. An der Met in New York musste ich im vergangenen Jahr La Bohème in Franco Zeffirellis legendärer Inszenierung, die ich zu diesem Zeitpunkt noch nie gesehen hatte, ohne jegliche Probe vorab dirigieren. Wie packt man so etwas? Mit viel Vertrauen auf die eigenen Möglichkeiten. Ich muss da meiner eigenen Erfahrung vertrauen, aber auch auf Risiko arbeiten, es geht einfach nicht anders. Ich bin Fatalist. Wenn´s funktioniert, super, wenn nicht, dann lerne ich daraus. Ich habe so viel Repertoire mit mittlerweile über 40 Opern im Gepäck gemacht, um mich an den Häusern zu positionieren, von denen ich immer geträumt habe, wobei ich damals als junger Musiker in Israel eigentlich davon ausgegangen bin, dass das ohnehin nie passieren würde. Mittlerweile versuche ich, älter geworden, an festen Stellen mehr meine eigenen Sachen zu machen, hier in Deutschland etwa als Generalmusikdirektor des Nationaltheaters in Mannheim oder jetzt aktuell der Stuttgarter Philharmoniker. Ich brauche neben dem vielen Reisen rund um den Globus einfach ein Zuhause. Mit einem „eigenen“ Orchester eine eigene Sprache zu entwickeln, das macht mich glücklich.
Wie kamen Sie denn überhaupt zum Dirigieren? Eher zufällig. Ich habe zunächst an der Israeli Opera in Tel Aviv eine Sängerkarriere als Bariton gemacht, bis man mir eine Stelle als Chordirektor angeboten hat. Zum Glück hatte ich die Chuzpe zu sagen, wenn schon denn schon, dann will ich den Beruf des Dirigenten auch richtig erlernen. So hat es langsam begonnen. Dabei hat mir Daniel Barenboim, der mich als Assistent und Kapellmeister an die Berliner Staatsoper geholt hat, mit auf den Weg gegeben, dass man schon gute zehn Jahre dirigiert haben müsse, um zu verstehen, um was es geht und sagen zu können: Ich bin ein Dirigent. Und nach zehn Jahren habe ich gemerkt, er hatte recht. Barenboim war, ist und wird es auch immer sein: meine größte Inspiration.
Wer hat Sie in Ihrer Kindheit zur Musik inspiriert? Zu Hause habe ich immer klassische Musik und Jazz gehört und natürlich Klavier gespielt, später am Musikgymnasium auch noch Kontrabass. Aber das musikalische Talent habe ich von meiner Großmutter Erna mitbekommen, die Schauspielerin war und auch Geige gespielt hat. So hat sie mit meinem Vater zusammen damals den Holocaust überlebt. Ihr Talent hat sie und meinen Vater im Lager gerettet. Wie genau, darüber haben wir nie gesprochen. (Dan Ettinger zeigt auf seinem iPhone ein Foto seiner Großmutter, der er, wie er sagt, wirklich sehr ähnlich sieht.)
Richard Wagner, dessen kompletten Ring Sie in Mannheim und Tokyo dirigiert haben, ist in Ihrer Heimat Israel nach wie vor verpönt. Ein Problem für Sie? Der Holocaust ist für uns ein Trauma, das man nicht bekämpfen kann. Ich habe nie versucht, Wagner in Israel zu spielen. Wofür? Für einen Skandal? Trotzdem kritisiere ich dieses Tabu, weil wir dadurch eine Riesenlücke in unserer musikalischen Ausbildung haben. Aber eine Riesenlücke hat damit auch unser Publikum.
Sie verlassen Mannheim zum Ende der laufenden Spielzeit. Welche Erfahrungen haben Sie an Ihrer ersten Stelle als Generalmusikdirektor und Chefdirigent gemacht? Ich kann gar nicht beschreiben, wieviel ich in diesen sieben Spielzeiten gelernt habe, und das nicht nur, was die Musik betrifft. Die Dimensionen übersteigen das Einstudieren einer Partitur. Toll und gleichzeitig schwer ist die Kombination zwischen künstlerischer und menschlicher Verantwortung.
Worin liegt der Reiz, Chefdirigent eines Orchesters zu sein, noch wenige Monate in Mannheim und seit Beginn der neuen Spielzeit für vorerst mal drei Jahre in Stuttgart bei den Philharmonikern? Dass alle meine musikalische Sprache reden, ohne dass ich jedesmal erklären muss, um was es geht. Da bin ich, wie vorher schon gesagt, zu Hause.
Wie vermitteln Sie dem Orchester diese Ihre Sprache? Früher war es mehr körperlich mit Mimik und Gestik, heute kann ich vieles aus der Lebenserfahrung heraus mit Worten erklären. Mein Dirigat im Konzert ist allerdings auch weiterhin sehr körperbezogen, wobei ich meine „Choreographie“ überhaupt nicht vorbereite, wie mir manchmal vorgeworfen wird. Die kommt einfach aus der Musik heraus.
Ihre erste Begegnung mit den Stuttgarter Philharmonikern… …war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Wir haben uns sofort gut verstanden. In den ersten Monaten meiner Arbeit hier fühle ich mich darin bestätigt. Mein Ziel ist es, das Orchester in vertrauensvoller Zusammenarbeit weiter voranzubringen, neu zu profilieren und auch im Rahmen der finanziellen Mittel verstärkt international zu präsentieren.
Dirigenten arbeiten meist bis ins hohe Alter. Deshalb sei abschließend die Frage erlaubt, welchen Traum Sie sich in ferner Zukunft noch erfüllen wollen. Der Traum hat ganz sicher etwas mit Oper zu tun. Aber zunächst will ich nach einem Burnout im vergangenen Jahr etwas kürzer treten und mich spirituell wieder zu mir selbst zurückbringen.
Vita: Dan Ettinger wurde am 10.Juni 1971 in Cholon (Israel) geboren und wohnt heute in Mannheim. Seine musikalische Ausbildung erhielt er an der Thelma Yellin High School of the Arts in Giv’atayim. 1993 gewann er den ersten Preis als Bariton beim François Shapira Wettbewerb und war von 1995 – 1998 Mitglied der Israeli Opera Tel Aviv, wo er wichtige Rollen des lyrischen Baritonfachs verkörperte. 1999 wurde er Chorleiter und Dirigent an der New Israeli Opera Tel Aviv und war von 2002-2003 Erster Gastdirigent beim Jerusalem Symphony Orchestra. Von 2003-2009 arbeitete er als Kapellmeister und Assistent von Daniel Barenboim an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. Während dieser Zeit war er auch ein Jahr lang Chefdirigent des Israel Symphony Orchestra, dessen Erster Gastdirigent er heute noch ist. 2009 übernahm er die Stelle des Generalmusikdirektors am Nationaltheater Mannheim. Von 2010-2015 war er zusätzlich Chefdirigent des Tokyo Philharmonic Orchestra. Mit Beginn der Saison 2015/16 übernahm er das Amt des Chefdirigenten und Generalmusikdirektors der Stuttgarter Philharmoniker. Dan Ettinger gastiert regelmäßig an der Bayerischen Staatsoper, der Wiener Staatsoper, Royal Opera Covent Garden London, Opéra National de Paris, Metropolitan Opera New York und bei den Salzburger Festspielen.
CD und DVD (Auswahl): Wagner Der Ring des Nibelungen in der Inszenierung von Achim Freyer (Arthaus 7 DVDs), Wagner Der Symphonische Ring (2CDs), Diana Damrau Coloraturas (Virgin Classics 1CD), Adrianne Pieconka Puccini (Orfeo 1CD). Foto oben: Dan Ettinger © Hanns-Horst Bauer