Von Farinelli zu Jommelli

 

16 Jahre (von 1753 bis 1769) war der Neapolitaner Niccolò Jommelli (1714-1774) Hofkapellmeister des württembergischen Herzogs Karl Eugen (Schiller flüchtete 1782 vor dem Despoten), für den er jährlich zwei Opern komponierte (zu dessen Namens- und Geburtstag), 28 soll er für den Herzog geschrieben haben, mehr als 60 zeitlebens. The Jommelli Album – Arias for alto des florentinischen Countertenors Filippo Mineccia umfasst acht Arien und ein Instrumentalstück aus den Jahren 1749 bis 1769, die für Neapel, Rom, Turin und den deutschen Fürsten entstanden. Die Arien stammen aus Opern und geistlichen Werken, wer allerdings unvorbereitet zuhört, wird das kaum bemerken – die sakralen Gesangsstücke klingen hier profan.  Auch bei der Auswahl der Musikstücke setzt man auf Bewährtes: Einige Arien findet man bereits zuvor interpretiert, von Ersteinspielungen ist im Beiheft genauso wenig die Rede wie von Recherche-Tätigkeiten und Gründen für die Arien-Zusammenstellung. Jommelli war Zeitgenosse des früh verstorbenen Pergolesi (1710-1736) sowie Glucks (1714-7187), ein Jommelli-Album sollte vor der Frage stehen, ob der Komponist auch Neuerer oder Reformer war und welche Auswirkungen das auf seine Musik hatte. In der vorliegenden Aufnahme, die 2014 in Madrid aufgenommen wurde, wird dieser Aspekt nur gestreift, eine umfassende Einordnung ist im Beiheft nicht enthalten. Dirigent Javier Ulises Illán und die 15 Musiker (lediglich Streicher und Generalbass) des Ensembles Nereydas finden an manchen Stellen eine ungewöhnliche und individuelle Interpretation, das Cembalo klingt im Vordergrund, neben der Theorbe wird auch eine Gitarre verwendet und verleiht bspw. dem einleitenden „Fra il mar turbato“ (Bajazet – Turin 1753) ein frischen, vorwärtsstrebenden Charakter; das aufgewühlte Meer war bei vielen Komponisten der Zeit beliebtes Thema von Gleichnisarien – Jommelli reiht sich hier nahtlos in große Vorbilder ein. Ein Höhepunkt der CD ist bspw. die lateinische Arie „O vos omnes“ (Lamentazioni per il Mercoledì Santo – Rom 1751) bei der Jommelli die 2. Violinen stetig ein Motiv wiederholen lässt, das bei Illán einen „minimalistisch“ wirkenden Charakter erhält und dadurch eine ungewohnte Binnenspannung entsteht. Hier lohnt der Vergleich mit einer älteren Einspielung: Bei Christophe Rousset hört sich „O vos omnes“ wie Kirchenmusik an (Rousset spielte die „Lamentazioni per il Mercoledì Santo“ mit den Sängern Véronique Gens und Gérard Lesne  sowie „Il Seminario musicale“ ein). Die über zehnminütige Arie des Sesto „Se mai senti spirarti sul volto“ (Stuttgart 1753) beruht auf Metastasios La Clemenza di Tito und wurde mehrfach vertont. Jommellis Version entstand fast zeitgleich mit der Glucks (Neapel 1752), beide ähneln sich im Ansatz, Jommelli ist idyllischer, Gluck etwas dramatischer – es fällt schwer, der einen oder anderen den Vorzug zu geben. Schöne Werke, mal ernster, mal fröhlicher, sind „Come a vista“ (La Passione di Nostro Signore Gesú Cristo – Rom 1749), „Pastor son’io“ (Cantata per la Natività della Beatissima Vergine – Rom 1750), „Ritornerà fra voi“ (La Passione di Nostro Signore Gesú Cristo – Rom 1749) und „Parto, ma la speranza“ (La Schiava Liberata – Ludwigsburg 1768). Die große Arie „Salda rupe“ (Pelope – Stuttgart 1755) beendet diese interessante Einspielung. Mineccia hat eine schöne, stets zentriert klingende Stimme, die den Ausdruck plastisch gestaltet, doch noch nicht jeder Ton ist farbig, die Koloraturen bspw. in „Salda rupe“ klingen ein wenig zu pauschal. Überzeugend sind die Ausdauer fordernden Passagen mit vielen lang gehaltenen Tönen wie in „Se mai senti spirarti sul volto“. Als Instrumentalstück wird von Nereydas eine kurze „Sinfonia a due violine e basso“ makellos und spannend gespielt. (Pan Classics, PC10352)

Metastasio beschrieb Jommelli in einem Brief als Person mit einem „heiteren, ruhigen Charakter, der die Zeit bevorzugt damit verbringt, sich in der Rundlichkeit eines wohlgenährten Körpers zu befinden“‚. Adressat dieses Briefes war der berühmte Kastrat Farinelli. Farinelli heißt auch die Jubiläums-CD des Ensembles Les Talens lyriques, das vor 25 Jahren im Jahr 1991 von Christophe Rousset gegründet wurde und zur Feier eine Live-Aufnahme eines Konzerts aus Bergen vom 26. Mai 2011 veröffentlicht, die sich an den Kostüm- und Historienfilm Farinelli (1994) anlehnt, zu dem Rousset und Les Talens Lyriques die Filmmusik einspielten. Damals wurde die Singstimme elektronisch kombiniert aus denen des Countertenors Derek Lee Ragin und der Sopranistin Ewa Małas-Godlewska. Beim Live-Konzert hatte man Ann Hallenberg verpflichtet, die ihrer Aufgabe als Farinelli mit beweglicher und koloratursicherer Stimme souverän gerecht wird. Wer virtuose Barock-Arien in ihrer ganzen Pracht mag, der wird hier fündig, der Klang ist gut, die Bühnensituation ist allerdings hörbar. Vier Komponisten sind vertreten: Farinellis Bruder Riccardo Broschi mit „Son qual nave ch’agitata“ (Artaserse) und „Ombra fedele anch`io“ (Idaspe), Farinellis Lehrer Porpora mit „Si pietoso il tuo labro“ (Semiramide riconosciuta), dem berühmten „Alto Giove“ (Polifemo) und als Konzertabschluß koloraturvirtuos mit „In braccio a mille furie“ (Semiramide risconosciuta), Geminiano Giacomelli mit „Già presso al termine“ und  „Passagier che incerto“ (beide aus Adriano in Siria) und Leonardo Leo mit „Che legge spietata“ und „Cervo in bosco“ (beide aus Catone in Utica). Als Zugaben beim Konzert erklangen zwei Arien, die Farinelli nie gesungen hat, und zwar von Händel  „Lascia ch’io pianga“ (aus Rinaldo) und „Sta nell’Ircana“ (Alcina). Die 24 Musiker (Streicher, Generalbass sowie Oboe, Horn und Fagott) begleiten und gestalten abwechslungsreich mit vollem Klang, Hasses Ouverture zu Cleofide vervollständigt die CD. Farinelli ist die Live-Aufnahme eines Konzerts, bei der das Publikum begeistert gewesen sein muss. Das Beiheft beinhaltet eine mehrseitige Biographie Farinellis in Englisch und Französisch, (aber wie immer natürlich nicht in Deutsch)… (aparte, ap117)
Marcus Budwitius