Verzweiflung und Übermut

 

Singt eigentlich Felicity Palmer noch? Ja, sie singt noch. Für Mai 2020 war die inzwischen Fünfundsiebzigjährige als Maria Thins in der Uraufführung der Oper Girl with e Pearl Earring von Stefan Wirth am Opernhaus Zürich angekündigt. Ob daraus aus gegebenem Anlass etwas wird, muss sich erst noch zeigen. Nun taucht ihr Name auf einer neuen CD mit Liedern und Balladen auf, die im Wesentlichen von Stéphane Degout bestritten wird. Erschienen ist sie bei harmonia mundi (HMM 902367). In „Edward“ von Johannes Brahms ist sie Partnerin des französischen Baritons. Die Ballade ist ein abgründiger Dialog zwischen Sohn und Mutter um Vatermord. Die aus Schottland stammende Textvorlage wurde von Johann Gottfried Herder ins Deutsche übersetzt. Von dem schaurigen Stoff hatte sich der junge Brahms nach eigenem Bekunden bereits für die erste seiner „Vier Balladen für Klavier op. 10“ inspirieren lassen. Später griff er den Text in seinen „Balladen und Romanzen für zwei Singstimmen op. 75“ direkt auf. Er lässt mit verteilten Rollen singen. Das macht die Interpretation eindeutig. Die Palmer stattet ihren Part mit den Resten ihrer einst schönen Stimme opernhaft aus und macht sehr deutlich, wer in der Geschichte die treibende Kraft ist.

Degout ist dadurch die Möglichkeit gegeben, den Sohn als fremdbestimmte tickende Zeitbombe darzustellen, verdruckst wie eine Shakespeare-Gestalt. Die Wirkung ist stark – und ganz anders, als das zum Beispiel Brigitte Fassbaender und Peter Schreier in der berühmten Einspielung der Deutschen Grammophon hinbekommen. Und wenn es um Balladen geht, ist auch Carl Loewe nicht weit, dessen Werk zu einem erheblichen Teil aus dieser musikalischen Form besteht. In jüngster Zeit wenden sich Sänger verstärkt diesem Komponisten zu. Das ist überaus erfreulich. Loewe tritt aus seinem Schatten heraus, in den er auch durch einen falsch verstandenen und sehr betulichen Interpretationsansatz historischer Gesangschulen geraten war. Degout singt auch seine „Edward“-Version und drückt damit der CD gemeinsam mit seinem Pianisten Simon Lepper den Stempel des Besonderen auf. Den Vortragenden stellt sie vor große gestalterische Herausforderungen, weil die Dichtung nicht mit verteilten Rollen ausgeführt wird sondern als innerer Monolog erscheint. Es ist, als ob der Sohn die Stimme der Mutter wie im Wahn in sich hört und sich dazu angestiftet fühlt, das Schwert gegen den Vater zu erheben. So klingt es denn auch. Degout gelingt eine packende und gnadenlose Wiedergabe, die in der umfangreichen Loewe-Diskographie ihresgleichen sucht. Was ist noch am Angebot? „Belsatzar“ und „Die beiden Grenadiere“ von Robert Schumann, „Der Feuerreiter“ von Hugo Wolf und jede Menge Franz Liszt, darunter „Die drei Zigeuner“ und „Es war ein König in Thule“. Bei der Ballade „Die Nonne und der Ritter“, die Nummer eins in den „Vier Duetten op. 28“ tritt die Mezzosopranistin Marielou Jacquard hinzu.

 

Als einen Zyklus verstehen der libanesisch-amerikanische Tenor Karim Sulayman und seine Pianistin Yi-heng Yang ihre CD mit Liedern von Franz Schubert, die bei Avie erschienen ist (AV2400). Der Titel: „Where only stars can hear us“. Wie der Sänger im Booklet verkündet, wollen sie mit und in den Liedern das „das Licht finden“. Diesem ambitionierten Anspruch folgt die Zusammenstellung des Programms. Eingeleitet wird es vom „Lied eines Fischers an die Dioskuren“, das den Nachthimmel über dem Meer beschwört, gefolgt von „Die Sterne“ und „Die Sternennächte“. „Alinde“ wird bang, wenn die Sonne im Meer versinkt. Die „Nacht und Träume“ könnten nach einem gelungenen Auftakt noch etwas mehr schweben – in Ruhe schweben. Insgesamt sind siebzehn Lieder zu hören. Zuletzt schließt sich an den „Nachtgesang“ nach Goethe das von Klopstock gedichtete „Rosenband“ an. Nicht immer werden die musikalischen Linien gehalten. Die Höhe ist oft knapp, der Anstieg unstet. „Geuß, lieber Mond, geuß deine Silberflimmer“, heißt es im Lied „An den Mond“ nach einem Gedicht von Ludwig Christoph Heinrich Hölty. Geuß, geußen? Das ist wieder ein Fall für das Wörterbuch der Brüder Grimm. Dort wird es mit verschwenden im Sinne von etwas verschenken gedeutet. Sulayman singt es sehr genau, und deutet es stimmlich so, dass sich der Sinn wie von selbst ergibt. Vom Timbre her hat sein Tenor viel zu bieten, auch wenn er mitunter etwas rau klingt. Dieser Sänger ist nicht auf Schönheit aus, sondern auf Wahrhaftigkeit im Ausdruck. Schubert kann das vertragen. Im „Erlkönig“ aber verselbständigt sich der hochdramatische Ansatz dann doch zu sehr. „Yi-heng und ich bieten Ihnen einen Blick in unsere kollektive Einsamkeit und Trauer als Menschen auf dieser schönen Erde“, schreibt der Sänger im Booklet.

 

Unter den Titel „Reine de Couer“ haben die Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller und die Pianistin Juliane Ruf fünf Liederzyklen gestellt: „Sechs Gesänge op. 107“ sowie „Sechs Gedichte und Requiem op. 90“ von Robert Schumann, „La courte paille FP 178“ und „Fiancailles pour rire FP 101“ von Francis Poulenc, sowie „Walzer-Gesänge nach toskanischen Liedern von Ferdinand Gregorovius op. 6“ von Alexander von Zemlinsky. Erschienen ist die CD bei Pentatone (PTC 5186 810). Es ist guter Brauch geworden, dass sich Interpreten in Booklets sehr persönlich zur Programmgestaltung äußern. Das war in der Vergangenheit nicht so. Was mitzuteilen ist, sollte sich einzig in der Interpretation vermitteln. Ein neues und individuelles Mitteilungsbedürfnis über den Gesang hinaus dürfte den Erfahrungen mit sozialen Medien geschuldet sein. Hanna-Elisabeth Müller weiß sich gut zu erklären. Die Idee zu dem Album, in dem „die Liebe und das Leben, die Höhen und Tiefen der menschlichen Seele im Mittelpunkt stehen“ habe sie schon lange begleitet. „Wie unterschiedlich die Dichter und Komponisten mit diesen Themen umgegangen sind!“ Der tiefe Schmerz in Schumanns „Herzeleid“ oder die drängende Ungeduld der „Schwalbe“ von Zemlinsky „zeigen zwei Seiten der Liebe – Hoffnung und Verlust, Verzweiflung und Übermut“. Tatsächlich vermag die Sängerin auch darzustellen, was ihr durch den Kopf gegangen ist. Schumann gelingt ihr besonders gut. Stimmungen und Gefühle, mitunter nur angetippt, geraten in ihrer Interpretation auffällig zeitlos. Als ob eine junge Frau von heute Einblick in ihrer Seele gibt, auch wenn die Mädchen – wie bei Schumann – in der Spinnstube sitzen, was sie längst nicht mehr tun. Rüdiger Winter