Paris 1920

 

„Hier meine schönsten, meine allerschönsten Verse“, heißt es in dem sanftmütigen Gedicht Enfance, das zu den Trois poèmes de Léon-Paul Fargue gehört, die Georges Auric 1940 vertonte. Genau genommen gehört es damit nicht in das L’ Album des Six, das einzige Gemeinschaftswerk der sechs französischen Komponisten (fünf Männer, eine Frau), die sich um 1920 in Anlehnung an die russische Gruppe der Fünf Les Six nannten und mit modernen Formen der Musik beschäftigten. In wechselnden Zusammensetzungen arbeiteten die in den Jahren zwischen 1888 und 1899 geborenen Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius Milhaud, Francis Poulenc und Germaine Tailleferre auch bei anderen Projekten zusammen, doch in diesem Album, dem sich die Schweizer Sopranistin Franziska Heinzen und der britisch-deutsche Pianist Benjamin Mead im Juli 2020 im SRF Studio Zürich widmeten, waren ein einziges Mal alle beteiligt. Louis Durey verließ die Gruppe bald daruf, blieb ihr aber freundschaftlich verbunden. „Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius Milhaud, Francis Poulenc und Germaine Tailleferre repräsentieren mit ihren eigenen, heterogenen Kompositionsstilen die damalige Avantgarde der Metropole Paris anfangs des 20. Jahrhunderts. Alle sechs widmen sich mit unterschiedlichen Ansätzen der Erneuerung der französischen Musik …“

Heinzen und Mead haben das kurze Album quasi als Aufhänger benutzt und um die Quatre mélodies und das Premier Menuet von Erik Satie, der die Funktion eines Mentors übernahm, sowie kleine Liedzyklen der Komponisten zu einem 50minütigen Programm erweitert. Eine kluge Auswahl, die auch auf CD (Solo musica SM 357) überzeugt und bei aller Unterschiedlichkeit der Persönlichkeiten den Anspruch zu einer Abkehr oder Überwindung von romantischen und impressionistischen Traditionen zeigt. Louis Dureys siebenteiliger Zyklus Vergers nach Rainer Maria Rilke von – wie bei den Liedern Aurics handelt es sich um eine Ersteinspielung – könnte beispielsweise durchaus auch als ein Werk von Debussy durchgehen. Milhaud erteilt einen kleinen Moralkurs, Petit cours de moral, auf Gedichte von Jean Giradoux, in Élegie erinnert sich Satie an die lebenslange Freundschaft mit Debussy, Poulenc ist mit den beiden Liedern von Miroirs brulants nach Paul Éluard vertreten und Germaine Tailleferre zeigt in ihrem Liedzyklus Six Chansons françaises, bei dem sie auf ältere Verse aus dem 15. Bis 18. Jahrhundert zurückgriff, eine dezidiert emanzipierte und selbstbewusste Frau „Nein, nein, die Treu war nie was anderes als eine Dummheit“ oder „Mein Ehemann hat mich verleumdet wegen der Liebe zu meinen Liebsten“ usw. Heinzen fühlt sich, wie es auch im dt.-franz. Beiheft zu lesen ist, dem Französischen merklich verbunden, vermittelt Einsicht in die von ihr mit tiefem Stilgefühl gesungenen Lieder, deren unterschiedlichen Geist und Anspruch sie mit ihrem schwebenden Sopran überzeugend einfängt; hier und da mag eine tiefere Stimme wirkungsvoller klingen. Mead wird nicht nur durch die anspruchsvolle Lied-Begleitung, sondern auch die vielen kleinen Klavierstücke, darunter Poulencs brillante Valse in C oder Milhauds neoklassizistische Mazurka, herausgefordert – und macht das virtuos.

 

Vor etwa einem Jahr hatte die Mezzosopranistin Ekaterina Levental mit dem Pianisten Frank Petes ihre erste Ausgabe der auf fünf CDs angelegten Complete Songs von Nikolai Medtner mit Liedern aus den Jahren 1903-14 vorgestellt. In der zweiten Ausgabe (Brillant classics 96061) mit dem Untertitel Sleepless, bezogen auf op. 37/1, schließen sich vier Zyklen aus den Jahren 1915 bis 1924 an, darunter die beiden Puschkin-Zyklen op. 32 und op. 36, dazu die fünf Lieder op. 37 und die 4 Lieder op. 45 auf Gedichte von Tyutchev und Fet sowie wiederum auch Puschkin. Medtner, der sich 1935 endgültig in England niederließ, unterrichte 1915 bis 1919 Klavier am Moskauer Konservatorium, emigrierte nach der Oktoberrevolution 1921 nach Deutschland und lebte bis 1924 in Berlin. Auch ohne Kenntnisse der Gedichte vermögen Levental und Peters dem Zuhörer viel von der Faszination dieser altmodisch spätromantischen, mit Strauss-Anklängen aufwartenden, dabei oftmals eigenwillig einschmeichelnden und lange vernachlässigten Lieder zu vermitteln und im engen kammermusikalischen Miteinander eine besondere Atmosphäre zu schaffen.

 

Ob es Greensleeves oder The last rose of summer, Sail on, sail on oder The Foggy, Foggy Dew, die Benjamin Britten in Amerika an seine Heimat denken ließen, die der Pazifist 1939 verlassen hatte, um 1942 zurückzukehren und als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden, weiß man nicht. In jedem Fall beschäftigte er sich, angeregt durch Peter Pears, in diesen Jahren mit britischen Folksongs, die sich als beliebte Schlusstücke oder Zugaben bei den gemeinsamen Konzerten 1942 und 1943 herausstellten. Britten sammelte nicht einfach, sondern arrangierte und komponierte als seinen es Stücke von ihm. Ab 1943 erschienen bis Ende der 50er Jahre mehrere Ausgaben seiner Folksongs, dazu einzelne Lieder, die erst später in die Ausgaben eingefügt wurden. In Mark Milhofers Einspielung der Complete Folk Songs for voice and piano (2 CD Brillant Classics 96009) findet sich auch eines der beiden Duette, die Britten für Pears und dessen Kollegin Norma Procter schrieb, sowie die Bearbeitung des deutschen Volkslieds „Da unten im Tale“ als „The stream in the Valley“ für Tenor, Cello und Klavier, das für Konzerte mit dem Cellisten Maurice Gendron entstand. Dem vielseitigen Mark Milhofer kommt gewiss seine Purcell-Erfahrung zugute  – er singt genauso Händel, Mozart, Rossini und zeitgenössische Musik – denn er nuanciert fein, fängt die Eleganz der englischen Sprache und die Schönheit der schlichten Melodien ein und kommt in der geschmeidigen Verbindung von Wort und Ton Brittens Vorstellung von einer Wiedergeburt der englischen Musik nahe. Milhofers singt, nicht unapart, mit sentimental schmachtender Tenorsüße und säuselnden Höhen, die bei diesen Liedern einen Großteil der Wirkung ausmachen. Das kann so behutsam wie ein Windhauch im Schilf klingen (Greensleves) oder kauzig und skurril (Oliver Cromwell), breitbeinig (The Crocodile) oder keck (Fileuse) – Milhofer und sein zurückhaltender Pianist Marco Scolastra zeichnen durchgehend hübsche Genreszenen.  Rolf Fath