Wer singt denn nun wann?

Wer auf der Suche nach Aufnahmen mit Ferdinand Leitner ist, sollte sich zuerst die Frage stellen, was er nicht eingespielt hat. Dieser Dirigent war sehr fleißig. Tamerlano von Georg Friedrich Händel hat er – wie sich jetzt herausstellt – auch aufgenommen. Neunzehn Jahre nach seinem Tod 1996 in Zürich wächst die Händel-Abteilung seiner umfangreichen Diskographie damit auf drei Opern an. Der deutsch gesungene Julius Caesar mit Lucia Popp, Christa Ludwig, Walter Berry und Fritz Wunderlich (Bayerischer Rundfunk 1965/Orfeo) sowie Alcina, bereits in der Originalsprache, mit Joan Sutherland, Norma Procter und Wunderlich (WDR 1959/Deutsche Grammophon), dürften in vielen Sammlungen vorhanden sein. Angesichts ihres Wertes gelangten sie erst im Nachhinein auf offizielle Labels. Ihr erstes öffentliches Leben hatten sie unter diversen inoffiziellen Markenzeichen geführt. Die Alcina ist nicht nur wegen der Besetzung interessant. Sie ist auch deshalb etwas Besonderes, weil das begleitende Orchester ein besonderes ist – die Cappella Coloniensis. Unterstützt und gefördert vom mächtigen Westdeutschen Rundfunk, versuchte sie sich seit ihrer Gründung 1954 um Aufführungen im Stil historischer Aufführungspraxis. Das war neu. 1959, als die Alcina in Köln mitgeschnitten wurde, war ein Händel-Jahr. Es wurde seines 200. Todestages gedacht. Leitner hat damals erstmals die Cappella dirigiert und blieb ihr verbunden. Tamerlano war 1966 wieder ein Produkt dieser segensreichen Zusammenarbeit. Tamerlano wurde nun beim Label Profil Günter Hänssler veröffentlicht, was höchst verdienstvoll ist (PH11029), wenngleich die heutige Händelrezeption die Augenbrauen bis ganz kurz unter den Haaransatz angesichts der doch recht historischen Ausführung heben würde. Aber ich gebe zu, ich höre das gerne so! Was vielleicht eine Altersfrage ist.

Im Booklet nimmt der knapp und allgemein gehaltene Einführungstext aber keinen Bezug zu den Hintergründen und Leitners nachhaltiger Beschäftigung mit diesem Repertoire. Da wurde völlig unnötig gespart. Die Produktion erscheint lediglich als eine von zirka 300 Schallplattenaufnahmen, die „seinen exzellenten Ruf als nahezu grenzenloser Dirigent“ untermauerten. So ein Satz ist natürlich nicht falsch. Aber er reicht nicht. Vielmehr offenbart er erhebliche Informationsdefizite. Das Label verschenk viel. Leitner lässt eine stark gekürzte Fassung spielen. Welche? Spätere Produktionen haben bis zu achtzig Minuten mehr Musik. Kürzungen werden aber nicht deutlich gemacht. Ja, es findet sich in der Trackliste nicht einmal vermerkt, wer was singt. Es sind lediglich die Textanfänger der einzelnen Nummern aufgeführt. Damit können nur sehr vorgebildete Händel-Konsumenten etwas anfangen, die das Werk in und auswendig kennen. Für eine erste Begegnung mit Tamerlano reicht dieses Album leider nicht aus.

Man muss schon die Stimme von Helen Donath genau im Ohr haben, um sich ganz sicher zu sein, wann sie als Asteria in Erscheinung tritt. Ist das geklärt, stellt sich allerdings heraus, dass sie sehr gut zurechtkommt mit der Rolle, obwohl Händel in ihrem Repertoire nicht die Nummer eins gewesen ist. Sie verleiht der unglücklichen Sultanstochter, die um ein Haar zur Giftmörderin geworden wäre, am Ende aber Vergebung erfährt, menschliches Format. Die Bässe von Franz Mazura (Tamerlano) und Kieth Engen (Andronicio) wollen auch auseinander gehalten werden. Mazura machte sich vor allem im Wagnerfach, als Pizarro oder Scarpia einen Namen, folglich bringt ihn niemand zwangsläufig in Verbindung mit Händel. Er ist nicht die erste Wahl. Engen hat zumindest durch seine Mitwirkung in vielen Produktionen von Karl Richter Erfahrungen mit Barockmusik, die ihm nun zu Gute kommen.

Bei allem Fortschritt, den die Aufnahme durch einen sehr leichten, flotten und durchsichtigen Orchesterklang markiert, wird sie durch die Besetzung der beiden männlichen Partien stilistisch zurück geworfen – wirkt inzwischen doch sehr historisch, eben wie man in den 1960ern besetzte. Harnoncourt oder Jacobs waren noch nicht auf dem Plan. In der Uraufführung der Oper 1724 in London wurden beide Rollen von Kastraten gesungen. Eine Praxis, an die in der Neuzeit mit Altstimmen bzw. Countertenören angeschlossen wird. Zwei aus Finnland stammende Sänger, die erfolgreiche Karrieren hatten, auf Tonträgern aber nur selten zu finden sind, komplettieren das Ensemble: die Mezzosopranistin Raili Kostia als Irene und der Bariton Kari Nurmela als Leone.

Wo also auf die Schnelle ein Libretto hernehmen, um der Aufnahme doch noch mit Gewinn folgen zu können? Im Buchhandel scheint es gar nicht verfügbar. Rettung kommt – wie inzwischen so oft – aus dem Netz. Im Wikipedia-Eintrag über Tamerlano ist unter Weblinks eine italienische Ausgabe abrufbar, die sich als PDF herunterladen lässt. Jetzt heißt es, immer den richtigen Anschluss zu finden, die Kürzungen auszumachen. Dazu braucht es eine gute Maus, denn der Text muss heftig gescrollt werden, will man ihn nicht auf vielen Seiten ausdrucken.

Rüdiger Winter