Ochs erfüllt ganz sein Klischee

 

Dieser Rosenkavalier ist schon seit Jahrzehnten in Umlauf. Zunächst als Schallplattenkassette, zwischenzeitlich sogar als Opernquerschnitt, zuletzt auf CD bei Gala. Jetzt haben das Deutsche Rundfunkarchiv und der Mitteldeutsche Rundfunk die originalen Bänder herausgerückt und zur Veröffentlichung bei Profil Günter Hänssler freigegeben. Ihre Logos stehen vielsagend auf dem Cover. Die Aufnahme ist im Rahmen der Dresdner Semperoper-Edition erschienen (PH16071). Eingespielt wurde sie 1950 mit der Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Rudolf Kempe. Im selben Jahr war der Dirigent als Nachfolger Joseph Keilberth zum Generalmusikdirektor von Oper und Kapelle aufgestiegen. Bereits 1953 ging Kempe in den Westen, blieb Dresden aber bis zu seinem Tod verbunden. Mehrfach kehrte er zu Plattenaufnahmen und Aufführungen zurück. In die späte Phase dieser fruchtbaren Zusammenarbeit fallen die sinfonischen Dichtungen von Richard Strauss bei der EMI, jetzt Warner. Ein Zyklus von Opern des Komponisten blieb im Ansatz stecken. Kempe starb 1977 und konnte nur die Ariadne auf Naxos mit Gundula Janowitz (Titelpartie), Sylvia Geszty (Zerbinetta) und James King (Bacchus) abschließen. Eine Produktion, die sich ihre Frische und ihren Zauber bewahrt hat und bis heute als maßstäblich gelten darf.

„Der Rosenkavalier“ unter Kempe von 1950 in seiner LP_Erstausgabe bei Urania/ OBA

Für die Neuerscheinung, die vom Kempes entfesseltem Schwung und genauer Partiturkenntnis lebt, hat Hänssler vier CDs springen lassen, drei für die Oper, eine für den Bonus, der sich aus unterschiedlichen Aufnahmen mit Bezügen zu Dresden zusammensetzt, wo der Rosenkavalier 1911 uraufgeführt worden war. Darunter finden sich vier Szenen mit daran beteiligten Sängern. Margarethe Siems ist die Marschallin, Eva Plaschke von der Osten der Octavian und Minnie Nast die Sophie. Der feine Ton der Siems im gekürzten Monolog vermittelt immer noch eine genaue Vorstellung ihrer Wirkung und ihres Erfolgs in dieser Rolle, die sie bis zum Ende ihrer Karriere nie mehr loswurde. Tiana Lemnitz ist auszugsweise in zwei Versionen als Octavian zu hören, nämlich von 1936 und 1942. In dieser Rolle wurde sie auch – inzwischen dreiundfünfzig Jahre alt – für die Gesamtaufnahme herangezogen. In Dresden hatte es 1948 den ersten Nachkriegs-Rosenkavalier gegeben, der ästhetisch noch sehr an der Uraufführung in den Dekorationen von Alfred Roller klebte. Als Marschallin war Dora Zschille besetzt. Sie kam aus dem Westen nach Sachsen, hatte Engagements in Duisburg und Hannover hinter sich und hielt Dresden, wo sogar eine Straße nach ihr benannt ist, bis zu ihren Bühnenabschied 1971 die Treue. Die Zschille sang alles, was ihre Stimme, die sich vom lyrischen zum hochdramatischen Sopran entwickelte, hergab. Sie blieb weitgehend eine lokale Erscheinung und wurde lediglich für einige Rundfunkaufnahmen herangezogen, in denen sie sich als tüchtige Kammersängerin erweist. Frauen wie die Zschille waren damals die Stützen jedes Ensembles.

Und auch auf CD gab es den „Rosenkavalier“ von 1950 unter Kempe bei Gala, wenngleich wohl nicht von den originalen Masterbändern/ OBA

Für die Aufnahme, die nach ihrer Urania-LP-Erstausgabe natürlich im Westen bekannt war und auf weiteren Labels kursierte, wurde ihr Margarete Bäumer vorgezogen, die in einer ganz anderen Liga spielte, ihre besten Tage allerdings hinter sich hatte. Sie klingt betulich und bedient das Klischee der alternden Fürstin, die sich aus dem Leben zurückzieht und fortan nur noch „in die Kirch’n“ geht und mit Onkel Greifenklau, der „alt und gelähmt ist“, zu Mittag speist. Auch für die Lemnitz kam die Rolle viel zu spät. Den Jahren nach könnte sie die Großmutter des stürmischen adligen Jünglings aus großem Hause sein, den die Marschallin in Liebesdingen unterweist. Stimmlich ebenfalls. Sie klingt überreif und vermag sich nicht einen Tag jünger zu machen, als sie ist. Ja, es scheint sogar, als verblühte sie mit Fortschreiten der Aufnahme noch mehr. Im Zweiten Aufzug droht sie mit der intriganten Annina verwechselt zu werden, im dritten bekommt ihr der zweifache Rollentausch, dieses raffinierte Markenzeichen der Oper, gar nicht. Sie gurgelt vor sich hin, einer Parodie nahe. Mikrophone sind gnadenlos. Und es stellt sich die Frage, warum nicht die viel jüngere burschikose Christel Goltz, die den Octavian auf der Bühne sang, genommen wurde? Einzig Ursula Richter, deren Geburtsdatum für die Kurzbiographie im Booklet offenbar nicht zu ermitteln war, kommt mit ihrem Sopran der munteren Sophie nahe.

Und der Ochs? Der wurde von Kurt Böhme damals regelrecht in Beschlag genommen. Er hatte ein Abo auf die Rolle, schien darin zu baden und wurde dafür auch von Karl Böhm in der zweiten Gesamtaufnahme aus Dresden, die 1958 für die Deutsche Grammophon entstand, herangezogen. Er ist ein polternder Schwerenöter und als solcher beim Publikum sehr beliebt gewesen. Die Vorstellung, dass mit Ochs ein feister alter Fettwanst aus der entlegensten Provinz in das kaiserliche Wien einfällt, um dort einem vermeintlichen jungen Stubenmädchen unter den Rock zu greifen, hat sich bis heute gehalten. Ochs ist aber auch Opfer. Der steinreiche Armeelieferant Faninal ist scharf wie Dracula auf sein adliges Blut und will nur deshalb seine Tochter mit ihm verkuppeln. In seiner ländlichen Beschränktheit lässt sich Ochs erbarmungslos vorführen. Er ist „diesem Wien“, diesem Schlangennest, nicht gewachsen, sieht die Fallen nicht, die ihm gestellt werden und tapst prompt hinein.

Sogar Highlights aus dem „Rosenkavalier“ 1950 unter Kempe gab es bei Urania/ OBA

Im Entstehungsprozess der Oper haben Strauss und sein Textdichter Hugo von Hofmannsthal der Figur, die nach meiner Auffassung zu ihren genialsten Schöpfungen gehört, viel Aufmerksamkeit gewidmet. Sie war zeitweise sogar als Titel für das Werk im Gespräch und dürfte am meisten zu singen haben. Ausgezählt habe ich die Zeilen allerdings nicht. Ochs ist nach dem Willen der Autoren Mitte dreißig und damit nicht nur dem Alter nach der Marschallin ebenbürtig. Er ist es auch durch seine adelige Herkunft, er ist ein Verwandter, der Vetter. Sie hört seine deftigen Schilderungen des Landlebens im Heu der Ställe nur allzu gern. Ihr gegenüber kann er sich diese ungenierte Offenheit erlauben. Man ist schließlich unter sich. Für ihr eigenes riskantes Liebesleben bevorzugt sie allerdings das seidene Lager des Boudoirs. Böhme ist für mein Gefühl zu eindimensional, zu sehr auf den lüsternen Wüstling festgelegt. Er wirft mit den Speckseiten des reichen Schweinezüchters Zsupán aus dem Zigeunerbaron um sich. Dadurch bietet er die Folie, auf der sich die Marschallin zu vorderst als fromme Dame darstellen kann, die sie nicht ist. In der Aufnahme passiert zumindest akustisch genau das. Wer derlei Überlegungen ausklammert, wem die hörbaren Generationsverschiebungen egal sind, der hält eine stimmungsvolle Einspielung in den Händen, deren Anschaffung unbedingt zu empfehlen ist. Auch mit ihren eingeschränkten Mitteln führen die Bäumer und die Lemnitz an vielen Stellen vor, was mit Noten und Text alles möglich ist. Wie Böhme erfassen sie den wienerischen Ton, welcher der ganzen Opern sein unverwechselbares Flair gibt. Akustisch ist die Aufnahme in ihrer Zeit belassen worden. Sie klingt sehr präsent, gelegentlich etwas robust, an den passenden Stellen herrlich polternd.

Üppig ist die auf feines Papier gedruckte Beilage ausgefallen. Sie enthält allerlei erklärende Texte in Deutsch und Englisch und viele historische Fotos, die allein den Kauf der Box lohnen. Interessant ist auch die spannende Geschichte der Masterbänder, die inzwischen der Mediathek der Sächsischen Landes-, Staats- und Universitätsbibliothek Dresden „zur dauerhaften und sicheren Verwahrung übereignet wurden“. Dass sich Dresden mit der Neuerscheinung auch selbst feiert, nimmt der aufmerksame Leser  nachsichtig zur Kenntnis. Sind „halt a so“, die Dresdner. Einige Beiträge, die eins zu eins aus der bei Sammlern bis heute gesuchten Dresdner Schriftenreihe „Gestaltung und Gestalten“ aus den fünfziger Jahren übernommen wurden, halten heutiger Prüfung nicht stand. In dem Bericht „Wo Richard Strauss lebte“ von Ernst Krause heißt es über seine Villa in Garmisch: „Das Haus Zoppritzstraße 42 wird heute in würdiger Form als Gedenkstätte bewahrt und ist das Ziel der Strauss-Freunde aus der ganzen Welt.“ Abgesehen davon, dass es sich – damals wie heute – um die Zoeppritzstraße handelt, ist das Gebäude mitnichten eine zugängliche Gedenkstätte. Es befindet sich nach wie vor samt originaler Einrichtung in Familienbesitz und kann nur von außen in Augenschein genommen werden, wie mir erst dieser Tage auf Anfrage im Rathaus von Garmisch-Partenkirchen bestätigt wurde. Krauses Beitrag ist ein recycelter Artikel …

„Der Rosenkavalier“ von 1950 unter Kempe in seiner westdeutschen LP-Erstausgabe bei Accanta/ Fonoteam/ OBA

Und wer ist der Autor Ernst Krause? Ein vor allem in der DDR bekannter Kritiker und Musikschriftsteller, der auch eine Strauss-Biographie hinterließ, in der er mit den Verstrickungen des Komponisten mit den nationalsozialistischen Machthabern sehr nachsichtig umging. In seinem oft aufgelegten Buch „Opern A bis Z“ gab er sich – was die Aufführungspraxis anbelangt – gern etwas besserwisserisch und belehrend. Schallplattenaufnahmen der behandelten Werke wurde nur dann angeführt, wenn sie in der DDR offiziell zugänglich waren. Daraus ergaben sich Zerrbilder vom internationalen Musikmarkt. Krause lebte von 1911 bis 1997 und war zeitweise Vizepräsident der Internationalen Richard-Strauss-Gesellschaft. Er war immer in der Staatsoper Unter den Linden anzutreffen und ließ sich freundlich auf Gespräche mit anderen Besuchern ein. Ich selbst erinnere mich gern an solche Begegnungen. Bei den Opern von Strauss war für ihn nichts verhandelbar. Krause plädierte dafür, den Rosenkavalier komplett zu geben. In seinem Opernführer (2. Auflage 1978) lehnt er Kürzungen der so genannten Mädge-Erzählung des Ochs im ersten Aufzug „aus inhaltlich-strukturellen Gründen“ ab. Sie könnten nicht gebilligt werden. Ob ihrer Freizügigkeit hatte diese Szene noch vor der Uraufführung den Unwillen der Intendanz auf sich gezogen. Gutsbesitzer Ochs schildert darin, wie die jungen Mädchen „aus dem Böhmischen herüber“ kämen, nicht nur als Erntehelferinnen. Wie sich das mische, das „junge, runde, böhmische Völkel, schwer und süß“, mit „dem deutschen Schlag scharf und herb wie ein Retzer Wein“. Und überall stehe was und lauere und schleiche zueinander und liege beieinander usw. usf. In der Aufnahme von 1950 sind die besonders gepfefferten Passagen weggelassen. Es bleiben aber noch genug Zeilen stehen, die in anderen Plattenaufnahmen – zum Beispiel in der berühmten EMI-Produktion mit Otto Edelmann unter Herbert von Karajan – weggelassen werden. Insofern haben wir es hier mit einer Mischfassung zu tun, die mir in dieser Form noch nicht untergekommen ist. Im Booklet wird darauf allerdings nicht eingegangen, was schade ist. Rüdiger Winter