Hinter den Spiegeln

 

Es muss ein riesiges Vergnügen gewesen sein. In der Inszenierung von Antony McDonald feierte Covent Garden im Februar 2020 den Kinderbuchautor und viktorianischen Wortzauberer Lewis Carroll mit einer theatralischen Großtat. Den Anlass bot Gerald Barrys sechste Oper Alice’s Adventures Under Ground, die beide Alice-Romane Alice’s Adventures in Wonderland und Through the Looking-Glass in einer kurzweiligen Opern tour de force verbindet und alle Voraussetzungen hat, ebenso erfolgreich wie beispielsweise Barrys The Importance of Being Earnest nach Oscar Wilde zu werden. Die konzertante Uraufführung der 2013-15 entstandenen Oper hatte 2015 in Los Angeles stattgefunden, im Frühjahr 2020 dirigierte Barrys prominenter Kollege Thomas Adès die szenische Uraufführung an Covent Garden. Sie entstand in Koproduktion mit der Irish National Oper, wo im Mai 2021 der Mitschnitt mit der Besetzung der Londoner Uraufführung entstand (Signum SIGCD695). Das einzige Problem von Alice ist ihre Kürze. Mit einer Spielzeit von unter einer Stunde würde sie im Theateralltag normalerweise nach einem zweiten Stück verlangen. Trotz der Kürze scheint Barry in seinem selbst geschriebenen Text und seiner Musik nichts vergessen zu haben: sieben, am Ende vermutlich total erschöpfte Sänger sind im rasenden Wechsel damit beschäftigt, insgesamt 54 Partien, im Fall des Tenors Peter Tantsits sind es immerhin elf Rollen, auszufüllen.

Mit wahnwitzigem Tempo springt Barry in die Handlung und begleitet Alice von ihrem Sturz in den Bau des weißen Kaninchens bis zu ihrer Krönung: In Panik schreit der weiße Hase, „I shall be too late“ und schon fällt Alice (Claudia Boyle) mit dem hysterischem Koloratur-Kikeriki von zahllosen hohen Cs ins Bodenlose, „Down!, Down! Down! Will the fall never end?“, und damit in eine unendliche Geschichte bar jeden Sinns und jeder Logik. Mit überschäumendem Temperament springen die Figuren von Episode zu Episode, überschlagen sich Situationen und Erzählungen, Witze und Anspielungen, wobei sich die scharfkantige, skurril bizarre Musik Barrys ideal zu den Nonsens-Geschichten fügt. Barrys geschliffene, moderne Buffa schreit geradezu nach dem Theater. Das ist nicht nur brillant, funkenstiebend komisch, absolut virtuos in den Plappergesängen – das Textheft ist leider nur englisch –sondern etwa in Humpty Dumptys Gedicht (der Bassist Alan Ewing) mit dem Zitat der Ode an die Freude auch melancholisch und berührend. Ein hohes Maß an musikalischer Absurdität wird in dem auf Russisch, Französisch und schließlich Deutsch („Ein! Zwei! Und durch und durch und durch und durch. Sein vorpals Schwert zerschniferschnück“) gesungenen Jabberwocky-Gedicht erreicht. Mit ihrem orchestralen Anspruch ist Alice alles andere als eine Kinderoper für Nebenbei.  André de Ridder und das Irish Chamber Orchestra sind sich bewusst, ein vergnügliches kleines Meisterwerk zur Wirkung zu bringen. Neben den Genannten werden Clare Presland, Hilary Summers, Gavan Ring und Stephen Richardson den Anforderungen mit hoher Präzision gerecht (02.12.21).   Rolf Fath