Der Stunde der Anna Girò

 

Freunde der Barockmusik werden das Wiederaufleben der Vivaldi-Edition bei naïve begrüßen, denn nach fast dreijähriger Pause ist jetzt als Vol. 55 Dorilla in Tempe erschienen (OP 3060, 2 CD). Ungewöhnlich ist die Gattungsbezeichnung des Werkes, das nicht als dramma per musica oder opera seria untertitelt ist, sondern mit dem blumigen Begriff melodramma eroico-pastorale. Die Einspielung muss sich dem Vergleich mit einer Aufnahme von 1993 aus Nizza unter Gilbert Bezzina bei der Firma Pierre Verany stellen. Wie diese verwendet auch die Neueinspielung Vivaldis Version aus dem Jahre 1734. Denn uraufgeführt wurde die Komposition 1726 im Teatro Sant’Angelo von Venedig, danach aber mehreren Revisionen unterzogen: 1728 für  das Teatro Santa Margherita, ebenfalls in Venedig, 1732 für das Teatro Sporck in Prag und schließlich 1734 noch einmal für das Theater der Uraufführung. Diese letzte Version ist ein Pasticcio, denn Arien mehrerer anderer Komponisten (Hasse, Giacomelli, Leo und Sarri) wurden eingefügt und erklingen anstelle von denen Vivaldis. Die meisten sind dem Hirten Elmiro vorbehalten. Und in der Rolle der Nymphe Eudamia, der seconda donna des Stückes, trat erstmals die Mezzosopranistin Anna Girò auf, die später in Vivaldis Leben und Schaffen eine zentrale Rolle einnehmen sollte. Dorillas wunderbare Arie „Il povero mio cor“ anektierte die Sängerin für sich und nahm sie als „Koffer-Arie“ (aria di baule) mit auf ihre Tourneen.

In der Neuaufnahme bei naïve leitet der ausgewiesene Barock-Spezialist Diego Fasolis das Ensemble I Barocchisti. Er garantiert ein vitales, temperamentvolles Spiel, das allerdings mit seinen extremen Rhythmen gelegentlich auch manieriert wirkt. Die dreisätzige  Sinfonia bringt im letzten Allegro das berühmte Frühlings-Thema aus den Quattro stagioni, auch der Eingangschor nimmt es auf; der Coro della Radiotelevisione svizzera singt es mit munterem Schwung. Dagegen ist „Gemiti e lagrime“ ein Trauergesang, „Lieta, o Tempe“ am Ende des 1. Aktes dann wieder fröhlicher Jubel. Heftige Attacke verlangen „Con eco giuliva“ und „Si beva“ im 2. Akt. Diesen beschließen die von Fasolis  ungemein heftig angegangene Sinfonia al ballo und der Chor „Alla caccia!“.

Die Besetzung umfasst nicht weniger als vier Mezzosoprane und einen Alt, was im Klanggefüge eine gewisse Gleichförmigkeit mit sich bringt. Der Einsatz von Countertenören hätte hier vielleicht Abhilfe geschaffen. Denn in der Uraufführung sangen der Soprankastrat Filippo Finazzi den Schäfer Nomio und der Altkastrat Domenico Giuseppe Galetti den Schäfer Filindo. Ungewöhnlich ist auch die Zuordnung des Admeto, König von Thessalien und Vater Dorillas, der in der Premiere von dem Tenor Lorenzo Moretti gesungen wurde, für einen Bariton. Christian Senn gibt ihn mit weichem, sonorem Klang, verleiht aber seiner furiosen Auftrittsarie „Dall’orrido soggiorno“ dennoch gebührend energischen Nachdruck, allerdings nicht das nötige Fundament in der Extremtiefe. Mit „Se  ostinata a me“ von Domenico Sarri ist auch ihm eine Einlage-Arie, gleichfalls von herrischem Duktus, zugeteilt.

„Dorilla in Tempe“: „Hidden Harmonies The Secret Life of Antonio Vivaldi“ von André Romijn im Verlag Roman House Publishers Ltd 2007 gilt immer noch als eines der Strandardwerke zu Anna Girò/ ISBN-10: 0955410010/ ISBN-13: 978-0955410017 (daraus oben ein Ausschnitt aus dem Cover)

Die Titelrolle, die an Andromeda erinnert, soll sie doch einem Ungeheuer geopfert werden, das Tempe zu verwüsten droht, hatte Bezzina in seiner Einspielung mit einem Sopran besetzt, bei Fasolis ist es die italienische Mezzosopranistin Romina Basso. Ihr Auftritt mit „La speranza ch`in me sento“ lässt eine nobel und dunkel timbrierte Stimme mit sinnlichem Reiz hören. Den 2. Akt eröffnet Dorilla mit „Come l’ onde in mezzo al mare“ – einem Bravourstück von hohem Anspruch an die stimmliche Flexibilität der Sängerin. Basso meistert es unangefochten. Wunderbar in ihrer flirrenden Erotik klingt die Stimme in „Se amarti“.  Und im 3. Akt obliegt ihr mit „Il povero mio core“ jene klagende Arie, die später oft von Anna Girò interpretiert wurde.

Dem Hirten Elmiro, in den Dorilla verliebt ist, verleiht die italienische Mezzosopranistin Serena Malfi jugendliche Verve und sinnlichen Klang bei herber Höhe. Die bewegte Eingangsarie „Mi lusinga il dolce affetto“ mit virtuosen Koloraturgirlanden ist eine Einlage von Hasse. Auch das zweite Solo, „Saprò ben“, stammt von diesem Komponisten und verlangt der Interpretin bewegliche Läufe ab. „Vorrei dai lacci scogliere“ im 2. Akt ist eine Komposition Giacomellis, in der vor allem energischer Ausdruck gefragt ist. Die Arie im letzten Akt, „Non ha più pace“, gleichfalls aus der Feder Giacomellis, setzt noch einmal auf Bravour und Rasanz.

Die beiden Schäfer Nomio, der in Wahrheit der verkleidete Apollo ist und das Drachenungeheuer getötet hat, sowie Filindo (denen mit„ Bel piacer“ eine liebliche und mit„Rete, lacci“ eine stürmische Arie von Giacomelli zugedacht sind) haben technisch solide Interpretinnen in den Mezzosopranen Marina de Liso und Lucia Cirillo, wobei letztere auch heulende Töne produziert.

Die Anna-Girò-Partie der intriganten Eudamia nimmt Sonia Prina mit ihrer gewohnt unorthodoxen Tonproduktion wahr. Die Auftrittsarie „Al mio amore“ holpert in ihrem Fluss, „Arsa da rai“ im 2. und „Più non vo’ “ im 3. Akt irritieren durch grobe Effekte.

Ähnlich der französischen Barockoper mit ihren Divertissements beinhaltet auch  Vivaldis Melodramma  am Ende der drei Akte Ballette, die allerdings in der Einspielung nicht enthalten sind. Sie endet mit dem Chor „Il Cielo ancora“, der die Liebe preist. Bernd Hoppe

 

„Dorilla in Tempe“: „The Red Priest’s Annina: A Novel of Vivaldi and Anna Giro“ von Sarah Bruce Kelly im Verlag Bel Canto Press 2009/ ISBN-10: 0578025655/ ISBN-13: 978-0578025650

Im  Booklet zur vorstehend  beprochenen Ausgabe von Vivaldis Dorilla in Tempe bei naive  gibt es einen Aufsatz von Vincent Borel, der  die von Bernd Hoppe erwähnten textlichen  Eigenheiten der Oper ausführlich beleuchtet und der sich mit der Primadonna Vivaldis, Anna Girò beschäftigt: Dorilla – La stagione di Anna Girò. Der 9. November 1726 ist ein Festtag für Venedig. Es ist Martinstag. Die europäische Aristokratie kehrt von ihren Sommerresidenzen zurück. Auf den Weingütern ist die Lese zu Ende; bald wird der junge Wein abgefüllt; die Herbstfrüchte reifen in den Obstkellern und der Zehnte auf die Ernte ist schon eingezogen. Für diese von ihren Renten le­bende Gesellschaft, deren Reichtum sich ebenso sehr auf die Landwirtschaft wie auf den maritimen Fernhandel stützt, ist es an der Zeit, in die Palazzi und in ihr mondänes Leben zurückzufinden. Ihre Treffpunkte, die Theater, die ridotti und die casini, öffnen wieder ihre Pforten.

Dorilla in Tempe wird an diesem Tag im Teatro Sant’Angelo uraufgeführt. Antonio Maria Luchinis Libretto wirkt wie ein Echo auf jenes Landleben: Es bietet weder ein heroisches Drama noch eine Tragödie con lieto fine, sondern ein Schäferstück, das in einem Tal Thessaliens spielt. Die Missgeschicke Dorillas, die an Andromeda erinnern (die von Perseus gerettet wurde), die Liebesintrigen und das dem Ungeheuer darzubringende Opfer geben Vivaldi Gelegenheit zur Entfaltung einer brillanten musi­kalischen Palette, in der Chor und Solisten häufig von Waldhörnern unterstützt werden. Vivaldi wird das Werk an anderen Spielstätten und mit anderen Besetzungen weiterverwerten: 1728 am Teatro Santa Margherita in Venedig, 1732 auf der Sporckschen Opernbühne in Prag und ein letztes Mal 1734, wieder im Sant’Angelo, seinem „Haustheater“ seit 1713. Diese Version von 1734, die einzige, deren Manuskript in Turin aufbewahrt wird, hat die vor­liegende Aufnahme ermöglicht. Dabei handelt es sich um ein Pasticcio, an dem mehrere Komponisten mitwirkten, vor allem Neapolitaner (Vinci, Sarro und Leo), deren Kompositionen an Stelle einiger von Vivaldis eigenen Arien zu hören sind.

Mit Dorilla in Tempe betritt die junge Anna Girò, Vivaldis treueste Interpretin, zum ersten Mal die Bühne von Sant’Angelo. Sie wurde 1710 geboren und debütierte im Teatro San Moise. In Dorilla übernimmt sie an der Seite Anna Maria Fabris die Rolle der Eudamia, der seconda donna. Die für Girö bestimmten Arien zeigen, dass Vivaldi sich bestens auf ihre Gesangstalente versteht. Für sie, die lange Zeit mit ihm durch dick und dünn gehen wird, gibt er der Aufrichtigkeit Vorrang vor der Virtuosität. Die mitreißende Arie „AI mio amore il tuo risponda“ , die sie hier erstmals vorträgt, wird sie in weite­ren Opern aufnehmen. Ein anderer ihrer „Schlager“ ist das klagende Ritornell „II povere mio cuore“ (III, 4). Diese sublime Arie, obschon bei der Uraufführung von der Sängerin der Dorilla interpre­tiert, eignet Anna Girò sich als „Kofferarie“ an, die sie während ihrer ganzen Laufbahn mitsich führt. (Koffearien/arie di baule sind feste Bestandteile im Gepäck der reisenden Sänger, die sie für jede Möglichkeit parat hatten).

„Dorilla in Tempe“: Serena Malfi beim George Enescu Festival (Bukarest) September 2017/ TVR

Bei der Uraufführung wurde die Rolle  der Dorilla von der ebenfalls debütierenden Angela Capuano als prima donna verkörpert; ein anderer junger Musiker, der Tenor Lorenzo Moretti, sang den Admeto. Auch der Soprankastrat Filippo Finazzi (Nomio) und der Altkastrat Domenico Giuseppe Galetti (Filindo) waren Debütanten. Der Impresario Vivaldi wusste die rechten Sänger auszuwählen – die Galetti zuge­dachte, ausdrucksstarke Arie „Col piacer del tuo comando“ (II, 1) beweist es. Diese jungen Talente werden bald die Truppe der Sporckschen Bühne ver­stärken, einer wichtigen Verbreitungsinstanz der Musik des Prete Rosso in habsburgischen Landen. Von den Darstellern der Uraufführung hatte nur Maddalena Pieri (Elmiro), die Mätresse des einfluss­reichen florentinischen Impresario Luca Casimoro degli Albizzi, bereits eine eindrucksvolle Laufbahn zu verzeichnen. Die szenisch wenige spektakuläre Aufführung von Dorilla in Tempe wurde vor allem durch ihre Chöre und Ballette – Raritäten in Vivaldis Opernschaffen – zu einem Publikumserfolg.

Der Président de Brosses, ein hoher Regierungs­beamter aus dem burgundischen Dijon, berich­tet von seiner Reise durch Italien, wie dort im 18. Jahrhundert ein solches Opernhaus betrieben wurde: „Dafür sorgt nicht wie in Frankreich eine bestallte Académie, bestehend aus einem Mitgliederstamm, der bei Bedarf erneuert wird. Hier ersucht ein Unternehmer, der den Winter über ein Opernhaus betreiben will, um die Erlaubnis des Gouverneurs, mietet ein Theater, stellt Stimmen und Instrumente zusammen, ver­handelt mit den Arbeitern und dem Bühnenbildner und macht am Ende oft Bankrott, ganz wie unsere Schauspieldirektoren auf dem Lande. Zur Sicherheit lassen die Arbeiter sich mit Logenplätzen auszahlen, die sie auf eigene Rechnung vermieten“ Die Schilderung dieses wohlinformierten Reisenden gilt für Sant’Angelo ebenso wie für die von Händel oder Porpora in London betriebenen Bühnen.

„Dorilla in Tempe“: Dirigent Diego Fasolis/ Opéra de Lausanne

Das Publikum, das 1726 Dorilla in Tempe ent­deckte, hatte das Privileg, einer der berühmtes­ten Kompositionen Vivaldis zu begegnen: dem „Frühling“. Die melodische Linie dieses Stücks aus den Vier Jahreszeiten ist im dritten Abschnitt der Ouvertüre zu vernehmen; sie wird vom Eingangschor aufgegriffen. In dem Chor „Ogni cor grato si mostri“ aus dem 1. Akt lässt sich eine Chaconne aus dem Chor „II destino, la sorte e il fato“ heraushören, der La Senna festiggiante krönte, eine 1726 verfasste Gedenkserenade. Bei Vivaldi geht nichts verloren, alles wird umgeschaffen.

Der Autor Vincent Borel ist einer der renommierten Musikschriftsteller Frankreichs und zudem Verfasser mehrerer Musikerbiographien wie die über Jean-Baptist Lully ( Ecrivain et journaliste français, Vincent Borel est un ancien élève de sciences Po à Grenoble. Jeune gâgneux féru d’opéra, Borel découvre en venant à Paris le monde de la nuit et de la techno avant de devenir journaliste, puis rédacteur en chef de feu Nova Mag. Il y a quelques années, il revient à ses premières amours classiques et baroques : il se nourrit alors de XVIe et XVIIe siècle et commence un grand projet de retranscription de la Bible de Lefèvre d’Etaples. Il a écrit un livre sur Lully et des romans. Son roman „Antoine et Isabelle“ a été couronné par le prix Page des Libraires 2010./ Source : http://www.chronicart.com)/ Foto Babelio

Die Dorilla-Version von 1734 Ist ein Pasticcio. In der Barockoper sind Wiederverwendung und Selbstzitat gängige Münze. Sie gelten nicht als ästhetischer Mangel. Originalität Ist für einen Künstler des 18. Jahrhunderts ein sehr relativer Wert. Das war schon in der Renaissance nicht anders, als Cristöbal de Morales, Josquin des Pres und Orlando di Lasso auf Volksliedern wie „Mille Regrets“, „L’Homme armé“ oder „Susanne un jour“ Messen aufbauten. Wenn sie der starken Nachfrage des Publikums entspre­chen wollten, hatten Händel und Vivaldi eine ganze Menge Musik zu produzieren.

Die Manuskripte von Dorilla in Tempe enthüllen auch, dass die Kompositionen Vivaldis zwischen 1726 und 1734 an Terrain verloren haben. Während Venedig der Geburtsort der öffentlich aufgeführ­ten Oper blieb, ist Neapel zu deren Konservatorium geworden. Hier züchtet man Kastraten wie am Fließband, und Komponisten wie Leo, Vinci, Hasse und Pergolesi schreiben virtuose Musik nach Maß für sie. Diese Kompositionen privilegieren die Durtonarten, die dekorativer und weniger kon­trastreich sind als das Vivaldische chiaroscuro. In der Gunst des Publikums stehen sie obenan. Bei der letzten Reprise seiner Dorilla macht der Impresario von Sant’Angelo zahlreiche Anleihen bei seinen Rivalen. Das hat mit den Launen neu engagierter Sänger, die das Publikum zu bezau­bern trachten, ebenso sehr zu tun wie mit Vivaldis eigenem Wunsch, nicht den Anschluss an die Mode zu verlieren. So finden sich in der Dorilla von 1734 unter 21 Arien acht Entlehnungen: Drei stammen von Hasse („Mi lusinga il dolce affetto“, „Saprö ben con petto forte“ und „Non ha piu pace“), eine von Domenico Sarro („Se ostinata a me resisti“), eine weitere von Leonardo Leo („Vorrei dai lacci sciogliere“) und drei von Giacomelli („Rete, lacci e strali“, „Bei piacer saria d’un core“ und „Non vo‘ che un infedele“).

Das Teatro Sant’Angelo war weniger renommiert als seine prunkvollen Rivalen, das San Cassiano und das San Giovanni Grisostomo, wo Bordoni und Farinelli Triumphe feierten. Wenn Vivaldi sein kleines Theater füllen sollte, konnte er sich dabei nur auf seine eige­nen Mittel und sein Gespür für neue Talente verlas­sen. Das sollte sich auch nicht ändern, bis er 1739 Sant’Angelo verließ, weil er darauf setzte, in Wien neu durchstarten zu können. Aber sein Asthma, seine Erschöpfung und der Tod des musikliebenden Kaisers Karl VI., eines seiner großen Bewunderer, ließen es nicht dazu kommen. Vincent Borel 2017 (Übersetzung Achim Russer/naive)