Bezauberndes für die Königin

 

Immer wieder überrascht Naxos mit unbekannten Werken, auch Opern aus Südeuropa (so Almeidas Spinalba oder Trionfo d´Amore).  Bereits 2015 veröffentlicht, aber im deutschsprachigen Raum wenig beachtet, ist die L´Angelica,  Serenata per Musica da incantarsi  von Joao de Suza de Carvalho, einem portugiesischen Komponisten von großem Renommée  Ende des 18. Jahrhunderts in Portugal und dem iberischen Raum. Bislang auf modernen Veröffentlichungen eher hervorgetreten mit geistlicher Musik wie seinem Requiem (das in den Sechzigern  auf Deutsche Grammophon Archiv in elegantem Klapp-Grau und den Kräften des Lissaboner Gulbenkian Instituts mit beiliegender musikwissenschaftlicher Information in die Welt Carvalhos einführte), erscheint nun Carvalho auch als eindrucksvoller Verfasser von vokaler Unterhaltungsmusik.

Denn die vorliegende Aufnahme bei Naxos ist bezaubernde leichte Kost für den königlichen Hof. Pedro Castro dirigiert ein gefälliges Ensemble (Joanna Seara, Lidia Vinyes-Curtis, Fernando Guimaraes, Maria-Luisa Lavirgen und Sandra Medeiros zusammen mit dem Concerto Campestre auf originalen Instrumenten, das Ganze 2014 in Lissabon aufgenommen (Naxos 2 CD 8.573554-55, Libretto im Netz zum downloaden). Dies ist nicht die erste Oper Carvalhos auf CD, bereits 1990 dirigierte René Clemencic eine etwas verdächtige Aufnahme von Testoride argonauti bei Nuova Era, die in der Folge sich bis heute bei verschiedenen Labels gehalten hat, die aber doch stilistisch und stimmlich zu wünschen übrig lässt. So ist Angelica doch die Favoritin für Liebhaber der iberischen vokalen Spät-Barockmusik. Trotz des wirklich grässlichen, asiatisch angehauchten Covers! G. H.

 

Zu „Angelica“: Joao de Suza de Carvalho

Wer war nun Sousa de Carvalho, dessen Name den wenigsten geläufig sein wird?  Er wurde 1745 in Estremoz geboren und starb 1798 in Lissabon. Er begann seine musikalischen Studien am 23. Oktober 1753 in Villa Viçosa und setzte seine Ausbildung später am Lissaboner Real Seminário de Música da Patriarcal fort. Im Alter von fünfzehn, am 15. Januar 1761, trat er in das Conservatorio di San Onofrio in Neapel ein, wo ihm (neben den Brüdern Jerónimo Francisco und Brás Francisco de Lima sowie einigen weiteren portugiesischen Musikern) von José I. ein Stipendium gewährt wurde.

1766 wurde seine Oper La Nitteti, ebenfalls basierend auf einem Libretto von Metastasio, in Rom aufgeführt. Im folgenden Jahr kehrte Carvalho nach Portugal zurück und schloss sich der Bruderschaft von St. Cäcilia in Lissabon an. Er lehrte dann Kontrapunkt am Seminário da Patriarcal; zu seinen Schülern zählten António Leal Moreira und Marcos Portugal. 1778 folgte er David Perez als Hofkomponist und Musiklehrer der portugiesischen Königsfamilie nach. Von da an schuf er regelmäßig Serenaden für königlichen Geburtstage und andere höfische Feierlichkeiten.

Verschiedene Musikwissenschaftler (Sampayo Ribeiro 1938, Santos Luís 1999, Stevenson/Brito 2012) stimmen darin überein, dass Carvalho der wichtigste portugiesische Komponist seiner Generation war. Vier der zehn Opern, die von portugiesischen Komponisten während seiner aktiven Zeit geschrieben wurden, stammen von ihm selbst; zehn der 36 Serenaden, die unter Maria I. entstanden, stammen ebenfalls aus seiner Feder.

Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hieß der Direktor der Königlichen Theater in Portugal Pinto da Silva. In einem auf das Jahr 1783 datierten Brief an den portugiesischen Botschafter in Italien, dessen Pflichten auch die Rekrutierung geeigneter Künstler für Portugal umfasste, beklagte Pinto da Silva die zunehmende Schwierigkeit, italienische Sänger zu finden, die gut genug waren, um den hohen Ansprüchen des Königshauses zu genügen. Auf der anderen Seite betonte er, dass es gegenwärtig keinen anderen Komponisten gäbe, der an João de Sousa Carvalho heranreichte. Er fügte hinzu, dass sowohl dieser als auch sein Schüler António Leal Moreira kürzlich exzellente Serenaden komponiert hätten.

„Kein Königshaus in Europa war damals so musikalisch wie jenes von Portugal“ – so verkündet Nathaniel Wraxall in seinen Historical Memoirs of My Own Time (erschienen 1815, wenngleich er über einen Besuch dieses Landes im Jahre 1772 schreibt). Er fährt fort: „Joseph [José I.] selbst spielte mit beachtlichem Geschick Violine; und die drei Prinzessinnen, seine Töchter, waren alle mehr oder weniger bewandert im Umgang mit verschiedenen Instrumenten.“ Josés älteste Tochter folgte ihm schließlich als Maria I. nach; ihre Regierungszeit sah zwar weniger großangelegte öffentliche Opernproduktionen, jedoch eine größere Zahl an Musikdramen, die im königlichen Palast anlässlich der Geburts- und Namenstage wichtiger Mitglieder des Königshauses aufgeführt wurden. Im Allgemeinen handelten diese Dramen von Heldentaten antiker Herrscher und zeigten einen Protagonisten, der die Tugend und die Vornehmheit eines modernen Mitgliedes des Königshauses widerspiegelte. Auf eine Weise ist die Wahl des hier vorliegenden Librettos erstaunlich, in welchem die hübsche Angelica ihren verführerischen Charme einsetzt, um dem edlen Orlando ihre Liebe vorzugaukeln, nur um anschließend stattdessen vielmehr mit Medoro das Weite zu suchen.

Joao de Suza de Carvalho: Maria I. von Portugal/ Wiki

Wir müssen uns gleichwohl vor Augen halten, dass die Widmungsträgerin dieses Werkes, Prinzessin Maria Francisca Benedita, die Schwester der Königin – und, glaubt man den Zeitgenossen, „schöner und künstlerisch begabter“ als dieselbe –, kürzlich Anwärterin auf den Thron geworden war und insofern von der Monarchin in Sachen Ethik und Moral geschult wurde. In der Geschichte der Angelica entwickelt sich alles nach ihren Vorstellungen und sie bekommt, was sie will, aber freilich sind die Konsequenzen ihres Handelns ernst und ungerecht. Sich der Eigenschaften und Fähigkeiten ihrer Schwester bewusst, wollte die Königin womöglich vermitteln, dass Schönheit und Intelligenz in einer angemessenen und moralisch akzeptablen Weise benutzt werden sollten. Die etwas unvorhersehbare Wendung in der Handlung, als Orlando den Göttern und Sternen aus kranker Eifersucht heraus Vorhaltungen macht, fügt einen Touch von Feinsinnigkeit zur Beziehung zwischen der fiktiven Heldin und der realen Prinzessin hinzu. Just in dem Moment, als alles verloren erscheint, sieht er einen „gütigen“ Stern, der ihm die Geburt einer noblen und tugendhaften Prinzessin voraussagt. Dies bringt ihn dazu, die licenza der Serenade, ein Widmungsstück, zu singen, in welches am Ende alle Solisten schlusschorartig lobpreisend einstimmen.

Joao de Suza de Carvalho: „Angelica e Medoro“/ Stich von Herissant, Paris 1781/ Wiki

Der Komponist von L’Angelica, João de Sousa Carvalho, war kürzlich als Nachfolger von David Perez Musikmeister der königlichen Prinzessinnen geworden; dies war seine erste Gelegenheit, ein höfisches Musikdrama zu schreiben, wobei ihm ein Text des großen italienischen Librettisten und Dichters Metastasio als Grundlage diente. Seine Fähigkeit, die Emotionen der Charaktere in den begleitenden Rezitativen zum Ausdruck zu bringen; seine Fertigkeit, Ornamente und Variationen in den sich wiederholenden Teilen der Arien einzubauen; die dramatische Intensität der Duette am Ende des ersten Teils und die Subtilität des Ausdrucks in Medoros zweiter Arie entzückte die Ohren und Herzen des Hauses Braganza über die Maßen, dessen anspruchsvoller und kultivierter Musikgeschmack weithin bekannt war. Tatsächlich war die Königin derart beeindruckt, dass sie verschiedene Partituren Carvalhos an den spanischen Hof nach Madrid schicken ließ und ihn auch zukünftig mit der Komposition für wichtige Anlässe des Königshauses betraute. Dies mündete in der Schöpfung der wichtigsten Bühnenwerke ihrer Regentschaft, darunter die „favola pastorale“ Nettuno ed Egle (1785).

Metastasios Libretto, zum ersten Mal 1720 von Nicola Porpora verwendet, ist eines seiner vielen kleineren Werke und eines der wenigen, das ursprünglich vom Dichter selbst als „serenata“ tituliert wurde – anstatt des gebräuchlicheren „dramma per musica“. Der Grund für diese Unterscheidung ist offenkundig nicht stilistischer Natur oder in Bezug auf die Charaktere – die Serenaden Alessandro Scarlattis tendierten dazu, von allegorischen Figuren bevölkert zu sein, deren Funktion es war, eine Einzelperson oder ein bedeutendes Ereignis zu feiern. Die augenfälligste Begründung, weshalb L’Angelica so bezeichnet wurde, ist poetischen Ursprungs und kann in der Handlung selbst gefunden werden. Diese entfaltet sich teilweise während der Nacht, in der die Liebenden fliehen. Ein Schimmer des Mondlichts leuchtet ihnen den Weg und Medoro singt aus Dankbarkeit an den Mond gerichtet die Arie Bella Diva all’ombre amica, genauso als sänge ein Liebhaber eine Serenade unter dem Fenster seiner Angebeteten. (Zu den vielen Vertonungen des Topos s. auch Alchetron website)

Joao de Suza de Carvalho: Textdichter Metastasio und Star-Kastrat Farinelli (Mitte) mit der Königlichen Familie aus Neapel auf dem Gemäde von Giacomo Amigioni/ Wiki

Zu Zeiten Marias I. wurden die Solisten bei der höfischen Aufführung von Serenaden von einem Orchester, bestehend aus etwa 35 Musikern, begleitet. Diese waren in unmittelbarer Nähe zur Königsfamilie in einem Raum des Queluz- oder Ajuda-Palastes positioniert. Die festliche Atmosphäre wurde noch erhöht durch die Anwesenheit von Höflingen und bedeutenden Gästen. Die Hofdamen saßen auf dem Fußboden, während alle anderen standen, wo immer sich Platz fand; alles in relativ informellen Rahmen. Da diese Werke nicht für eines der Hoftheater konzipiert waren, gab es keine Inszenierung und auch keine Kostüme. Allerdings kann man sich gut vorstellen, dass die Sängerinnen und Sänger ihre Rollen ausspielten, handelte es sich doch um dramatische Stücke. Die Musik selbst ist dergestalt komponiert, um den Charakteren Zeit zur Bewegung zu geben und verschiedene Gruppierungen von Sängern zu berücksichtigen. Dies alles in einer Partitur, die reich, expressiv und hochdramatisch-effektvoll ausgelegt ist.  Pedro Castro

 

Den Artikel von Pedro Castro entnahmen wir der Beilage zur besprochenen Oper; deutsche Übersetzung Daniel Hauser nach Susannah Howes Übertragung ins Englische im Booklet der Naxos-Ausgabe.