Ambiance und Impression

 

Die große Nadia Boulanger war Pianistin, Organistin, Dirigentin, Komponistin und eine legendäre Pädagogin und Kompositionslehrerin. Als sie 1979 im Alter von 92 Jahren starb, soll sie während ihrer langen Tätigkeit ca. 1200 Schüler unterrichtet haben, darunter finden sich Namen wie George Gershwin, Aaron Copland, Astor Piazzolla, Quincy Jones, Philip Glass, Dinu Lipatti, Daniel Barenboim, Idil Biret, Leonard Bernstein, Igor Markevitch, John Eliot Gardiner u.v.a.m. Sie begann früh, Unterricht zu erteilen, 1921 wurde sie Professorin am Conservatoire américain de Fontainebleau, ab 1948 bis zu ihrem Tod war sie dessen Direktorin. Fast 60 Jahre hielt sie mittwochs in ihrer Wohnung Kompositionsanalysen. Der Regisseur Bruno Monsaingeon besuchte sie dort und drehte in den 1960er und frühen 1970ern einen Dokumentarfilm über Boulanger, den er „Mademoiselle“ betitelte, denn so ließ sich die zeitlebens unverheiratete Französin von ihren Schülern ansprechen, und der das von der Lehrerin und Persönlichkeit Boulangers ausgehende Charisma einfangen sollte. Mademoiselle heißt auch die Doppel-CD des amerikanischen Labels Delos, die sich der Komponistin Nadia Boulanger widmet. Ihr eigens kompositorisches Schaffen entstand bevor sie sich ihrer akademischen Laufbahn widmete. Sie selber tat es als unbedeutend ab, obwohl sie 1908 einen zweiten Preis beim renommierten Rom-Wettbewerb gewann. Ihre jüngere, früh verstorbene Schwester Lili (1893-1919) galt als talentierte Komponistin, sie gewann als erste Frau 1913 dem Rom-Preis, beider Vater gewann in 1835 mit 19 Jahren. Von den hier 37 eingespielten Werken sollen 13 Ersteinspielungen sein, elf unveröffentlichte Kompositionen (acht Lieder und drei Klavierstücke) wurden aus Boulangers Manuskripten transkribiert. Insgesamt kann man von einer Gesamteinspielung ihres Schaffens in den Genren Lied, Solo-Klavier, Orgel sowie Cello mit Klavier sprechen. Boulangers eigenen musikalischen Vorlieben waren persönlicher ästhetischer Natur, sie bewunderte Debussy und Ravel, setzte sich für Stravinsky ein, aber nicht für Schönberg und die Wiener Schule und hatte auch nie einen deutschen Schüler. Sie war auch eine Pionierin der alten Musik, die Monteverdi, Bach und Rameau spielte. In Nadia Boulangers Musik hört man die Einflüsse von Debussy und Fauré, ein französischer Klang zwischen Spätromantik und Impressionismus mit vielen chromatischen Elementen, durchaus originell, farbig und oft Stimmungen beschwörend. Die Lieder entstanden zwischen 1901 und 1922, ihr erstes Lied „Extase“ schrieb sie vierzehnjährig, ihr letztes Lied “J’ai frappé” mit 35. Ein Text stammt von Boulanger – „Soir d’hiver“ handelt von einer sitzengelassenen Mutter mit Kind, dazu namhafte Lyrik, u.a. von Victor Hugo, Verlaine, Materlinck sowie Heinrich Heine, den Boulanger in deutscher Lied-Tradition vertonen wollte.

Die Lieder sind in in Deutsch eingespielt, alle drei „O schwöre nicht“, „Was will die einsame Thräne“, „Ach, die Augen sind es wieder“ singt Tenor Alek Shrader, der in den USA bereits den David in den Meistersingern und den Alfred in der Fledermaus gesungen hat und mit sehr guter Aussprache fast durchgängig überzeugt. Mit Shrader, dem Sopran von Nicole Cabell und vor allem dem französischen Bariton Edwin Crossley-Mercer hat man sich für renommierte Sänger entschieden, die das Zuhören leicht machen. Boulanger zeigt unterschiedliche Ansätze, es gibt glückliche und ekstatische Liebeslieder, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Erwartung und Zurückweisungen, oft fragil, melancholisch, traurig und dissonant, das Klavier kontrastiert oder untermalt, sie umspielt zurückhaltend den Text oder läßt keine Zweifel. Angeordnet hat man die Lieder nicht nach Entstehungszeit, sondern in freier Variation mit dem Zweck, eine abwechslungsreiche Programmabfolge für die Zuhörer zu präsentieren, die den intimen Charakter der Salonmusikaufführungen nachahmen will. Die Orgel-Werke wurden in Paris auf der Cavaillé-Coll Orgel in der Madeleine aufgenommen, eine Orgel, die Boulanger selber spielte. Der eingefangene Orgelklang ist nicht optimal, man steht vor einer zweidimensionalen Klangwand, wie man sie aus alten Aufnahmen kennt. Organist François-Henri Houbart spielt die „Trois improvisations“ von 1911 und „Pièce sur des airs populaires flamands“ von 1915. Zwei Klavierwerke sind vorhanden, „Vers la vie nouvelle“ aus dem Jahr 1917 fand seinen Anlaß im 1. Weltkrieg, beginnt düster und gewinnt zunehmend Zuversicht, die „Trois pièces pour piano“ sind drei Miniaturen von ca. jeweils einer Minute mit unterschiedlicher Tönung zwischen Nachdenklichkeit und Unbekümmertheit. Die „Trois pièces“ für Cello und Klavier stammen aus dem Jahr 1914, „Modéré“, “Sans vitesse et à l’aise” und “Vite et nerveusement rythmé” klingen, wie sie heißen, Cellist Amit Peled und Pianistin Lucy Mauro fangen diese Stimmungen mit schönem Klang ein. Bis auf die Orgelwerke wurde alle Musik in der Bloch Hall der West Virginia University mit sehr gutem Klangbild aufgenommen. Ein ausführliches Beiheft in englischer Sprache wertet die interessante und sehr gut gemachte Einspielung zusätzlich auf. (2 CDs, Delos, DE3496) Marcus Budwitius