Agogisches Raffinement

 

In einer Live-Aufnahme aus der Pariser Opéra-Comique von 2017 bringt AliaVox Marin Marais’ Tragédie lyrique Alcione von 1706 heraus (AVSA 9939, 3 CDs). Zu hören ist die Version von Jordi Savall, dem renommierten katalanischen Musiker und Dirigenten, der sich mit seinem Ensemble Le Concert des Nations der Einspielung von Marc Minkowski von 1989 bei Erato stellen muss. Aber Savall, der in seinen Konzertprogrammen oft der Göttin des Tanzes, Terpsichore, huldigt, ist ein Meister im Erfassen von rhythmischem Drive, agogischem Raffinement und der Entfaltung dynamischer Kontraste. So sind denn auch die zahlreichen Tanzeinlagen – Marche, Menuet, Bourée, Sarabande, Gigue, Chaconne – die Höhepunkte der Einspielung:  überwältigend in ihrer Vitalität und ihrem Esprit. Spektakulär sind die Tempête-Szenen mit dem Einsatz des Donnerbleches.

Der Prolog der fünfaktigen Oper huldigt in der Person des Apollon, der in einem Gesangswettbewerb den Frieden besingt und damit gewinnt, König Ludwig XIV.  Im 1. Akt will Ceix, König von Trachis, die Tochter des über die Winde herrschenden Aiolos, Alcione, heiraten. Drei Personen stellen sich gegen dieses Glück: Ceix’ bester Freund Pelée, der gleichfalls in Alcione verliebt ist, der Zauberer Phorbas und die Zauberin Ismène. Auf dem Höhepunkt der Hochzeitszeremonie legen Furien den Palast in Schutt und Asche. Die folgenden Akte beschreiben Ceix und Alcione in ihrer Leidenschaft füreinander, die bis zu beider Tod geht, so dass Neptune, von solch großer Liebe überwältigt, sie wieder zum Leben erweckt und ihnen die Gabe verleiht, Stürme zu besänftigen.

Die französischen Sänger dieser Einspielung sind in unseren Breiten weniger bekannt. Einzig Lea Desandre in der Titelrolle, die zwischen Sopran- und Mezzo-Partien pendelt, ist durch ihre Zusammenarbeit mit renommierten Barock-Dirigenten wie William Christie, Marc Minkowski und John Eliot Gardiner auch hierzulande ein Begriff. Ihre Stimme ist gleichermaßen delikat wie leidenschaftlich und vermag die Gefühle der Figur eindringlich zu vermitteln. Cyril Auvity lässt als Ceix seinen exquisiten Tenor von zarter Textur hören und ist der Titelheldin ein idealer Partner. Beider Szene im 3. Akt, „C’est toi que j’en atteste“, ist ergreifend in ihrer emotionalen Intensität. Sein Freund Pelée ist ein Bariton, mit Marc Mauillon besetzt, der die zwiespältige Figur plastisch umreißt und dabei auch streng-aggressive Töne einsetzt. Den Apollon singt Sebastian Monti mit weichem, typisch französisch getöntem Tenor. In der Besetzung finden sich außerdem der Bariton Lisandro Abadie als Phorbas, die Sopranistin Hasnaa Bennani als Isméne, der Bass Antonio Abete als Neptune u.a. Bernd Hoppe