Loewe trifft auf Barber

 

Für seine Maureen-Forrester-Edition ist audite in diesem Jahr mit einem International Classical Music Award (ICMA) geehrt worden. Der Preis gilt als eine der wichtigsten Auszeichnungen der internationalen Musikszene. Die Sammlung von Liedaufnahmen gewann in der Kategorie Historical Recording. Sie fand in zahlreichen Rezensionen im In- und Ausland großen Anklang. Die Awards werden jährlich von einer Jury aus siebzehn Mitgliedern vergeben, die aus Chefredakteuren europäischer Klassik-Magazine, -Internetportale und -Kulturradios besteht. Diese kommen aus fünfzehn Ländern. Operalounge.de hatte die Edition ebenfalls ausführlich gewürdigt. Hier die Eindrücke von Rüdiger Winter:

Auf der Bühne oder im Konzertsaal habe ich Maureen Forrester nicht mehr erlebt. Mauer und Stacheldraht waren dazwischen. Als der Eiserne Vorhang fiel, hatte sie ihre Auftritte reduziert und vornehmlich in die kanadische Heimat verlagert. Am 16. Juni 2010 ist die Sängerin nach langer Krankheit neunundsiebzigjährig in Toronto gestorben. Audite hat der Forrester eine Box mit drei CDs gewidmet, die ausschließlich aus Liedern besteht (21.437). Die Aufnahmen entstanden zwischen 1955 und 1963 beim RIAS. Deutschandradio Kultur ist Mitherausgeber, was sich daraus erklärt, dass dieser Sender in der Rechtsnachfolge der einstigen US-amerikanischen Rundfunkanstalt steht und auch das legendäre Funkhaus mit der abgerundeten Fassade im Berliner Ortsteil Schöneberg nutzt. Diese schon oft praktizierte Zusammenarbeit ist beispielhaft für den Musikmarkt. Archive öffnen sich. Bestände werden systematisch gesichtet und erschlossen. Aufnahmen kehren dorthin zurück, wo sie hingehören – an die Öffentlichkeit. Wenn sie schon nicht gesendet werden, sollten sie wenigsten als Tonträger in Umlauf gebracht werden. Andere Archive können sich daran ein Beispiel nehmen.

Contralto Maureen Forrester singing at the Imperial Room in 1981/ Foto Bob Olsen/ torontopubliclibrary.ca

Contralto Maureen Forrester singing at the Imperial Room Toronto in 1981/ Foto Bob Olsen/ torontopubliclibrary.ca

Oft argumentieren öffentlich-rechtliche Anstalten damit, die alten Aufnahmen seien den Hörern nicht mehr zuzumuten. Sie würden vom Publikum abgelehnt, seien also nicht gewollt. Musikfreunde, die sich für historische Aufnahmen interessieren, sind hart im Nehmen. Sie stören sich nicht an Mono, denn sie haben oft gar keine Wahl. Wer die Forrester mit diesen Liedern hören will, bekommt sie nicht anders. Ich bin sehr zufrieden. Und es ist zu wünschen, die Käufer dieser Neuerscheinung sind es auch. Beim RIAS gab es hohe technische Standards. Amerikaner haben nicht gespart – auch nicht mit ihrem kulturellen Engagement im Nachkriegsdeutschland. Geld war genug da! Bei der Übertragung der Originalbänder auf CD blieb der Ursprungssound weitestgehend unangetastet. Mit Bedachtsamkeit und aller gebotenen Vorsicht sind Techniker ans Remastering gegangen. Das hört man. Zuhörer sollen sich in eben jene Zeit zurückversetzen können, aus der die Aufnahmen kommen. Mehr als fünfzig Jahre sind seither vergangen. Eine übertrieben Bearbeitung lässt schnell Zerrbilder entstehen. Schließlich wollen Besucher in einem Museum auch die Originale bestaunen und nicht nach heutigen Möglichkeiten geschönte und ergänzte Werke. Musikproduktionen können auch Patina ansetzen. Lassen wir es zu.

Es fällt auf, dass Maureen Forrester und ihre Produzenten bei der Programmauswahl neue Wege gegangen sind. Nach Gustav Mahler, Carl Loewe, Richard Wagner, Johannes Brahms, Franz Schubert, Robert Schumann, Carl Philipp Emanuel Bach und Joseph Haydn gibt es einen heftigen Schnitt. Die Zeit wird vorgestellt bis zu Benjamin Britten, Samuel Barber und Francis Poulenc. Komponisten kommen ins Spiel, die seinerzeit nicht so bekannt waren wie heute. Auch im Westen nicht. Im Osten schon gar nicht. Dort standen ihre Namen mal gerade im Musiklexikon. Von Mahler gibt es die fünf Rückertlieder, von Wagner die Wesendonck-Lieder und Gretchen am Spinnrad, von Brahms die Zigeunerlieder. Im Booklet hebt es Heribert Henrich als Verdienst hervor, dass „auch weniger gängige Bereiche“ erkundet wurden. „Selbst bei den zentralen Lied-Komponisten werden die wirklich populären Werke umgangen.“ Schubert ist mit Titeln wie Der Wachtelschlag, Dem Unendlichen, Verklärung, Schlaflied, Fragment aus dem Äschylus, AuflösungSchwestergruß oder Bertas Lied in der Nacht vertreten – „selten gehörte Lieder zwischen mystischer Versenkung und pathoserfüllter Weltschau“, so Henrich. Von Schumann gibt es unter anderen die Gedichte der Königin Maria Stuart.

Maureen Forrester auf einem Foto im Booklet, das wir als Auschnitt wiedergeben.

Maureen Forrester auf einem Foto im Booklet, hier im Ausschnitt.

Im Radiomitschnitt eines Liederabends der Forrester in Montreal von 18. Januar 1961, der sich in privaten Sammlungen erhalten hat, bildet Carl Loewe eine der Gruppen. Das fand ich immer bemerkenswert. Loewe im fernen Kanada. Wie kommt er dorthin? Anstöße dazu dürften bereits vom Pianisten der Sängerin John Newmark ausgegangen sein, der eine interessante Lebensgeschichte hatte. Newmark, eigentlich Hans Joseph Neumark, ist gebürtiger Deutscher und stammt aus Bremen. Ihm wurde eine große Zukunft als Pianist vorausgesagt. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten durfte er nicht mehr auftreten. 1942 fand er in Kanada eine neue Heimat, wo er von 1953 an eng mit der Forrester zusammenarbeitete. Gemeinsam bereisten sie mit ihren gründlich vorbereiteten Konzertprogrammen die Welt. Nach ihrer ersten Europa-Tournee ließ sich die Sängerin 1955 vorübergehend in Berlin nieder. Wie Henrich in Booklet berichtet, nutzte sie diese Zeit, um sich im Liedgesang bei Michael Raucheisen (1889-1984) zu perfektionieren. Nach einem vorübergehenden Berufsverbot „wegen seiner Nähe zu den nationalsozialistischen Machthabern“ hatte Raucheisen „am RIAS schon bald wieder seine Tätigkeit aufgenommen, und so konnte er Forrester spontan nach dem Unterricht ins Tonstudio einladen“. Raucheisen hatte im Rahmen seiner bis heute einzigartigen Edition beim Reichsrundfunk Berlin auch mehr als hundert Lieder von Loewe eingespielt. Meine Ruh ist hin, Ach neige, du Schmerzensreiche, Die Lotusblume und Das Ständchen, die von der Forrester gesungen werden, sind nicht darunter. Es handelt sich um klassische Lieder. Loewe erscheint hier als feinsinniger Lyriker, eine Gabe, die viel zu selten mit seinem Namen in Verbindung gebracht wird. Noch heute gilt er als der Balladen-Komponist schlechthin – nicht nur verehrt sondern auch belächelt. Er wird Die Uhr einfach nicht los. Erst die Gesamtausgabe seiner Lieder und Balladen bei cpo, hat diese einseitige Sicht auf sein Werk gründlich relativiert. Nun trägt auch Maureen Forrester mit ihren frühen Aufnahmen dazu bei, den anderen Loewe besser kennenzulernen.

Ihr äußerst flexibler Alt wird nicht nur als natürliche Stimmlage wahrgenommen. Es entsteht der Eindruck, als würde sie nur deshalb so singen, wie sie singt, um den Liedern zu einer tieferen Aussage zu verhelfen. Nicht Selbstzweck ist die Stimme, sondern Mittel zum künstlerischen Zweck. Henrich tritt es mit seiner Einschätzung, dass sich diese Stimme „durch einen vollen Bronzeton“ auszeichnet, „der – besonders im Forte – durch ein schnelles, absolut kontrolliertes Vibrato Wärme und Samt gewinnt. Klangliche Homogenität durch alle Tonlagen und alle dynamischen Graduierungen hindurch ist ein Hauptcharakteristikum“. Gewisse Ähnlichkeiten mit Kathleen Ferrier stellen sich ein. Die Forrester aber hat ihre natürliche Begabung technisch stärker unter Kontrolle und damit perfektioniert. Sie kann sie als die geborene Liedgestalterin gelten, auch wenn sie ihren internationalen Ruhm in erster Linie mit Kantaten, Oratorien und Opern errungen hat. Sie ist genau auf dem Wort. Ihre Betonungen, Steigerungen oder Zurücknahmen, die als Verinnerlichung besser beschrieben sind, haben stets den richtigen inhaltlichen Bezug. Mit seinen mehr als drei Stunden ist das Album ein einziger Triumph der Gattung.

Die Sängerin mit Kantaten von Johann Sebastian Bach, die bei Amadeus auf CD erschienen sind.

Maureen Forrester mit Kantaten von Johann Sebastian Bach, die bei Amadeus auf CD erschienen sind.

Lieder – darunter reichlich Mahler – sind in der der Diskographie der Forrester nicht der kleinste Posten. Legendären Status haben die Rückert-Lieder mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin unter Ferenc Fricsay bei Deutsche Grammophon sowie die Lieder eines fahrenden Gesellen und die Kindertotenlieder mit dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Munch bei RCA. Die Lieder aus des Knaben Wunderhorn mit Heinz Rehfuss unter Felix Prohaska sind bei Vanguard Classics und Praga herausgekommen, bei harmonia mundi nochmals Kindertotenlieder unter István Kertész. Schumanns Liederkreis op. 39 gab es bei Gala Records, bei Palexa Lieder von Wolf, Ravel, Schönberg und Schreker. Gemeinsam mit Alexander Young nahm EMI Songs von Purcell auf, Vanguard hat die wunderbare Händel-Arien-LP/ CD wie überhaupt reichlich Forrester in Händel-Opern und –Oratorien. Great American Theater Songs des Musicalkomponisten Stephen Sondheim waren bei ProArte im Katalog. Nach den CD-Ausgaben muss man suchen. Vieles ist vergriffen. Die berühmten Mahler-Aufnahmen mit Munch sind derzeit nur in der sehr umfangreichen Living Stereo Collection zu haben, nicht einzeln. Da kommt die große Audite-Box gerade recht. Auch deshalb, weil sich unter ihren Plattenaufnahmen sonst relativ wenige Lieder mit Klavierbegleitung befinden.

Ihre Begleiter bei den RIAS-Aufnahmen gehören zu den besten Vertretern ihres Fachs. Raucheisen war schon genannt. Er sitzt bei den meisten Einspielungen am Klavier, also nicht nur bei Loewe. Hertha Klust, die oft den jungen Dietrich Fischer-Dieskau begleitet hat und damit nicht unbeteiligt war an dessen Aufstieg, betreut die Mahler-Lieder, die Zigeunerlieder, den Melodien-Zyklus Le Travail du Peintre nach Paul Eluard von Poulenc sowie die Mélodies Passagères, die Barber auf Verse von Rilke schrieb. Sie sind als Reminiszenz an das französische Lied dem Komponisten Poulenc gewidmet, wodurch sich eine reizvolle Verbindung innerhalb des Albums ergibt. Die Pianistin Klust hatte sich selbst als Mezzosopranistin ausbilden lassen und wirkte von 1949 an als Korrepetitorin an Städtischen Oper Berlin, aus der dann die Deutsche Oper wurde. Sie verstand etwas von Stimmen. Kritisch merkt Henrich an, dass „die Sängerin mit ihren Berliner Begleitern nicht ganz in dem Einklang stand, den ihre Einspielungen mit Newmark hören lassen“. Gewisse Ungenauigkeiten bei einigen Titeln dürften aber auch darauf zurückzuführen sein, dass der Aufnahmeplan äußerst eng war und der Pianist Felix Schröder bei Brittens A Charm of Lullabies und Poulencs La Fraicheur et le Feu kurzfristig für Aribert Reimann einspringen musste.

In einer Produktion von Mentottis "Medium" von 1977, die bei VAI veröffentlicht wurde, ist die Forrester auch im Film zu sehen.

In einer Produktion von Menottis „Medium“ von 1977, die bei VAI veröffentlicht wurde, ist Maureen  Forrester auch im Film zu sehen.

Ein Wort zum RIAS: Das CD-Programm auf der audite-Ausgabe ist – wenn man so will – ein alliiertes Programm. Barber, Britten und Poulenc repräsentierten als Komponisten die westlichen Nachkriegs-Siegermächte USA, Großbritannien und Frankreich. Ihre Musik – damals im wahrsten Sinne des Wortes zeitgenössisch – traf auf deutsche Musik, die Musik der Besiegten. Solche emotionale Symbolik passte zum RIAS, der in der Schöneberger Kufsteiner Straße als Reaktion auf die Weigerung der sowjetischen Besatzungsmacht gegründet worden war, den anderen Siegermächten Sendezeit im Berliner Rundfunk im Haus des Rundfunks in der Charlottenburger Masurenallee zur Verfügung zu stellen. „Eine freie Stimme der freien Welt“. Vom 24. Oktober 1950 an wurde jeden Sonntag um 12 Uhr das Geläut der Berliner Freiheitsglocke vom Schöneberger Rathaus übertragen. Im Osten war der RIAS als Propagandainstrument verschrien und wurde ausschließlich auf diese Rolle reduziert. Der Sender schonte die DDR nicht. Seine besten Argumente aber waren nach meinen eigenen Erinnerungen seine kulturelle Ausstrahlung. Der bereits in der Anfangszeit gegründete RIAS-Kammerchor und das RIAS-Symphonie-Orchester setzten Markenzeichen, die auch jenseits der Zonengrenze dankbar wahrgenommen wurde. Der Sonntagmittag war für Friedrich Luft – die „Stimme der Kritik“ reserviert. Sein enormes Wissen, seine Leidenschaft und seine Wortgewandtheit steckten auch uns im Osten an. Ich verdanke ihm viel. An die Besprechung eines der Konzerte von Maureen Forrester kann ich mich jedoch nicht erinnern. Sie ist im Westteil Berlins oft live aufgetreten. Ich habe aber keinen Zweifel, dass dieser feinsinnige Mann von ihrer Stimme genau so angerührt gewesen ist wie ich. Rüdiger Winter