Katharina Thalbach in allen Rollen

 

Medea! Diesmal geht es nicht um Cherubini, Pasolini, Christa Wolf oder die Callas. Nicht um antike Reliefs oder Euripides. Es geht um das Melodram von Georg Anton Benda, dem aus Böhmen stammenden Komponisten (1722-1795). Wie kaum ein anderer Mythos hat die Medea-Sage zu allen Zeiten seine Wirkung entfaltete und Künstler inspiriert. Bis in die Gegenwart hinein sind sie ergriffen von dieser Frau, die aus Liebe dem Argonauten-Anführer Jason zum Goldenen Vlies verhilft. Und als der sie verstößt, um die Tochter des Königs Kreon von Korinth zu heiraten, wird Medea von Rache gepackt, dass sie schließlich die gemeinsamen Kinder tötet. Benda nimmt sich das hochdramatische Finale der Geschichte vor, das mit der Rückkehr der verbannten Medea nach Korinth beginnt.

Den Text für sein „mit Musik vermischtes Melodram“ lieferte ihm Friedrich Wilhelm Gotter (1746-1797), der als Hofarchivar in Gotha wirkte und ein breit gefächertes literarisches Werk hinterließ, das auch Goethe im nahegelegenen Weimar sehr schätzte. Bis auf den Text für das Lied „Schlafe mein Prinzchen, schlaf ein“ aus dem Schauspiel Esther, welches zunächst Mozart zugeschrieben wurde, in Wirklichkeit aber von Friedrich Anton Fleischmann vertont wurde, wird er kaum noch wahrgenommen. In der thüringischen Stadt Gotha, seinem Geburts- und Sterbeort, werden ihm auch keine Kränze geflochten. Sein Grab existiert nicht mehr. Es musste schon Ende des 19. Jahrhundert Neubauten weichen. Im beschaulichen Gotha hatte Benda als böhmischer Emigrant freundliche Aufnahme gefunden und wurde 1750 zum Hofkapellmeistert ernannt. Er und sein Dichter kannten sich also. Nach Stationen im Hamburg, Mannheim, Wien und Berlin zog es Benda nach Thüringen zurück, um seinen Ruhestand an wechselnden Orten zu verbringen, bis er 1795 in Köstritz, wo seit 1543 Schwarzbier gebraut wird, starb. Auf seiner abgeräumten letzten Ruhestätte steht ein Denkmal für die toten Soldaten des Ersten Weltkriegs. Mit der Berühmtheit des legendären Köstritzer Bieres kann der Komponist nicht mithalten.

Durch die Produktion des Melodrams Medea in der Version von 1784 bei Coviello Classics kommt auch der einst hoch angesehene Gotter wieder aus der Versenkung hervor (COV 92014), wenngleich er auf dem Cover nicht genannt wird. Was aber wäre ein klassisches Melodram, in dem gesprochener Text mit Musik verbunden ist, ohne seinen Dichter? „Die Stücke konzentrierten sich auf eine einzige, meist weibliche Hauptfigur“, schreibt Jörg Krämer im Booklet. „Diese Fokussierung und das rasche, feingliedrige Wechselspiel von gesprochenem Text und Musik ermöglicht es, konfliktreiche und widerspruchsvolle Figuren-Psychogramme mit einer ungewöhnlichen Intensität zu entwickeln.“ Melodramen seien „gegenüber Opern und Singspielen deutliche einfacher und günstiger“ zu bewerkstelligen gewesen. Sie hätten keine „ausgebildeten Sänger und nur ein Minimum an Bühnentechnik, Dekoration, Ausstattung und Bühnenbild“ erfordert, dafür aber volle Häuser garantiert. Bendas Medea erfreute sich über Jahrzehnte in ganz Europa größter Beliebtheit und gilt als eines der erfolgreichsten Werke der Gattung. Selbst Mozart war davon beeindruckt, wie aus einem von Krämer zitierten Brief an Vater Leopold nach dem Besuch einer Aufführung in Mannheim hervorgeht. „Am Ende seines Lebens überarbeitete Benda das Werk noch einmal tiefgreifend neu und ließ dabei die Summe seiner praktischen Erfahrungen mit der Bühnenwirkung einfließen.“ Krämers Text ist sehr informativ und lesenswert, weshalb an dieser Stelle auch mehrfach darauf zurückgegriffen wird. Er hat gründliche recherchiert und damit auf andere Werke dieser Art neugierig gemacht. Produktionen wie diese ohne solche verschriftlichte Begleitung wären gewiss schwerer zu vermitteln. Einmal mehr wird offenbar, dass gute Booklets auch im digitalen Zeitalter unverzichtbar sind.

Die neue CD ist im Oktober 2018 bei Aufführungen im Heidenheimer Congress Centrum mitgeschnitten worden. Es spielt die cappella aquileia unter der Leitung von Marcus Bosch. Dieses Ensemble hat sich 2011 gegründet. Es setzt sich aus Musikern aus ganz Deutschland und darüber hinaus zusammen, die sich nur für Projekte der Opernfestspiele Heidenheim treffen. Bosch, Chefdirigent der Norddeutschen Philharmonie Rostock und regelmäßig auch in Koblenz tätig, ist künstlerischer Leiter des Festivals. Er setzt starke Akzente und rückt die Musik in die Nähe von Gluck. Mit dem „Marsch von ferne“, der am Beginn des zweiten Auftritts steht, wird eine räumliche Wirkung entfaltet, die auf Anhieb für das ganze Werk einnimmt. Keine Wünsche lässt die Klangqualität offen. Bendas Medea kommt nicht zum ersten Mal als CD auf den Markt, wodurch sich viele Vergleichsmöglichkeiten, auch die Fassungen betreffend, auftun. 1994 hatte Naxos das Werk mit dem Prager Kammerorchester aufnehmen lassen und die Einspielung zwei Jahre später veröffentlicht. Naxos blieb insofern näher an der Vorlage, indem neben der Titelfigur (die österreichische Schauspielerin Hertha Schell) die anderen ehr episodischen Rollen – Jason, die beiden Söhne und die Hofmeisterin einzeln besetzt sind. Bereits 1990 war bei Accord eine Produktion von Radio Suisse Romande mit der auf Genf stammenden Schauspielerin und Sängerin Caroline Gautier in allen Rollen auf CD gelangt.

Man muss ein glühender Verehrer der Schauspielerin und Regisseurin Katharina Thalbach sein, um Gefallen an ihrer Medea zu finden. Auch sie agiert allein, ist gleichzeitig Medea, Jason, der ältere und der jüngere Sohn, die Haushofmeisterin. Da kommt der im Booklet abgedruckte Text gerade recht, um gegen Ende die Figuren besser auseinanderhalten zu können. Diese Künstlerin hat durchaus ein breites Spektrum zu bieten, schwingt sich mal zu antiker Größe auf, um dann wieder wie eine Megäre vor sich hin zu schimpfen oder sich stimmlich als kleines Mädchen zu gefallen. Alles in allem wirkt sie auffällig privat. Man meint sie vor sich zu sehen mit der frechen Ballonmütze des Berliner Zeitungsjungen, die zu einem ihrer äußeren Markenzeichen geworden ist. Wer die Thalbach engagiert, bekommt sie immer zu hundert Prozent. Rüdiger Winter