Wer heute den Namen Wilhelm Furtwängler (1886-1954) hört, denkt zuerst an den Dirigenten. Nicht wenigen gilt er sogar als der ungekrönte König derselben, gleichsam als Prototyp eines Orchestervorstehers. Dass Furtwängler auch komponierte, dürfte zumindest geläufig sein. Dass er sich aber sogar vornehmlich als Komponisten und erst in zweiter Linie als Dirigenten begriff, erscheint aus heutiger Sicht verblüffend. Wiewohl seine Werke – zumal die zweite Sinfonie – nie komplett aus den Katalogen verschwunden sind, ist es gewiss kein Geheimnis, eine weitestgehende Absenz in den Konzertsälen zu konstatieren. Wann wurde in Berlin, München oder Wien zuletzt eine von Furtwänglers Kompositionen gespielt?
Sein recht schmales Œuvre lässt sich grob in zwei Phasen unterteilen. Zwischen seinem vierzehnten und seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr entstanden die Ouvertüre E-Dur op. 3 (1899), der erste Satz einer nie vollendeten Sinfonie D-Dur (1902) und der langsame Satz einer Sinfonie h-Moll (1908), dessen Hauptmotiv später in der eigentlichen Sinfonie Nr. 1 wichtigstes Thema des ersten Satzes vorkommen sollte. Daneben waren es einige Chorwerke, vor allem das Te Deum (1902-1906, rev. 1909), das in dieser Frühzeit kreiert wurde. Erst Mitte der 1930er Jahre kehrte Furtwängler zu seiner Passion des Komponierens zurück. Das gewaltige Klavierkonzert (1937, rev. 1952-1954) machte den Anfang, gefolgt von drei Sinfonien in h-Moll (1941), e-Moll (1947) und schließlich c-Moll (1954). Daneben stehen kammermusikalische Stücke wie die beiden Violinsonaten (1935 und 1939).
Das Entdeckerlabel cpo ist es einmal wieder, das uns nach zwei Jahrzehnten eine Neueinspielung der monumentalen Sinfonie Nr. 1 h-Moll beschert. Diese Erste ist gewiss die am wenigsten beachtete unter Furtwänglers drei Sinfonien. Erst 1989 erfolgte für Marco Polo die Weltersteinspielung durch die Tschechoslowakische Philharmonie unter Alfred Walter. Ein gutes Jahrzehnt später, im Jahre 2000, erfolgte die zweite und bislang auch letzte weitere Aufnahme mit der Staatskapelle Weimar unter George Alexander Albrecht für Arte Nova. Für die nun vorgelegte Neuproduktion (cpo 555 377-2) wurde die diskographisch durchaus bereits positiv in Erscheinung getretene Württembergische Philharmonie Reutlingen unter ihrem damaligen Chefdirigenten Fawzi Haimor zu Rate gezogen. Sein viel bedauerter vorzeitiger Abschied aus Reutlingen im November 2020 erfolgte nach nur drei Jahren infolge der Erschwernissen durch die Corona-Pandemie und hatte gewiss keine künstlerischen Gründe.
Die im Studio der Württembergischen Philharmonie Reutlingen im März und Oktober 2019 entstandene Einspielung verweist die älteren Aufnahmen klangtechnisch auf die Ränge. Auch hinsichtlich der reinen Spielzeit stellt sie mit gut 88 Minuten einen neuen Rekord auf, ist zehn Minuten länger als bei Walter und immerhin noch fünf Minuten länger als bei Albrecht, der einzig im mit Largo bezeichneten gewaltigen Kopfsatz sogar etwas mehr Zeit veranschlagt. Die breiten Zeitmaße, welche Haimor anschlägt, bekommen dem Werk ganz ausgezeichnet. Der knapp halbstündige erste Satz könnte für sich genommen bereits als Tondichtung dastehen. Furtwänglers Tonsprache ist irgendwo zwischen Anton Bruckner und Gustav Mahler angesiedelt, von daher fest der spätromantischen Tradition verhaftet, hie und da aber doch auch mit Anklängen an die Moderne. Das unnachahmlich Nebulöse, das Furtwänglers Dirigate so faszinierend machte, findet sich auch in seinen eigenen Kompositionen. Wo der Kopfsatz dem Meister von St. Florian nähersteht, gemahnt das nachfolgende fahrige, zuweilen unheimliche Scherzo (10 Minuten) tatsächlich viel eher an Mahler. Man muss sich tatsächlich vor Augen führen, wann diese Sinfonie entstanden ist. Geschrieben zwischen 1938 und 1941 (in ihren Ursprüngen, wie gesagt, sogar auf 1908 zurückgehend), im Zeitraum zwischen Münchner Abkommen und Unternehmen Barbarossa, als die großdeutsche Megalomanie ihren wahnwitzigen vermeintlichen Höhepunkt erreichte. Hört man die großen Umwälzungen dieser Tage in der Musik? Eher nein. Vielmehr mutet es so an, als versuche sich Furtwängler zurück zu flüchten in die Tage seiner noch kaiserzeitlichen Jugend, als die ersten Skizzen entstanden. Das Adagio, den langsamen dritten Satz, kostet Haimor mit hier 21 Minuten bis zum Exzess aus (Walter: gut 18 Minuten, Albrecht: knapp 17 Minuten), schwelgt in der Tiefgründigkeit der Partitur und vermeidet doch jedweden Anflug von Kitsch. Vielmehr ist es wie das ehrliche Nachtrauern um eine längst verflossene Ära. Spätestens hier wird ein ureigener furtwänglerischer Tonfall erkennbar, der gerade auch in der Nachfolge von Wagner und Richard Strauss steht, ohne diese plump zu imitieren. Das auf Bruckner gemünzte Diktum vom Unzeitgemäßen ließe sich problemlos auf Furtwängler übertragen. Diese Sinfonie ist wahrlich aus der Zeit gefallen, deswegen aber auch zeitlos. An dieser Stelle muss die sensationelle Leistung des Orchesters hervorgehoben werden, die beide Vorgängeraufnahmen hinter sich zurücklässt. Ließ sich die Mächtigkeit der Komposition bisher eher erahnen, so kann man diese nun endlich auch wirklich hören. Der Klangkörper wirkt zu keinem Zeitpunkt schmalbrüstig oder überfordert. Hier wurde zweifelsohne viel geprobt und nicht auf Gedeih und Verderb das erstbeste Ergebnis festgehalten (was der für heutige Verhältnisse lange Aufnahmezeitraum bestätigen würde). Der dreißigminütige Finalsatz übertrifft an Dimension sogar noch die vorherigen. Eine Anknüpfung an die Tradition der überlebensgroßen Finali in den Sinfonien Bruckners und Mahlers lässt sich nicht zu leugnen. Einerseits baut sich dieser Schlusssatz ganz allmählich auf, andererseits gibt es doch die „wild herausfahrenden“ Momente. Gänsehaut ist bereits beim ersten Auftreten der eingängigen Melodie garantiert, die schließlich in der kolossalischen Schlussapotheose gipfelt. Diese erhebende, durchaus pathosgetränkte Coda ist wie eine extrem kunstvoll ausgearbeitete und von Dirigent und Orchester meisterhaft umgesetzte Melange aus dem Ende von Bruckners Fünfter und Mahlers Titan. Es grenzt an Unmöglichkeit, hiervon unberührt zurückzubleiben.
Der Begleittext von Eckhardt van den Hoogen ist eine philosophische Abhandlung auf dem gewohnt hohen Niveau. Sie vervollständigt gleichsam diese in jedweder Hinsicht herausragende Neuerscheinung. Hier wurde ohne Wenn und Aber die neue Messlatte gelegt in Sachen Furtwänglers erster Sinfonie. Nun bliebe trotz des aufgelösten Kontraktes auf weitere diskographische Bereicherungen in Sachen des Komponisten Wilhelm Furtwängler durch die Reutlinger unter Maestro Fawzi Haimor zu hoffen. Daniel Hauser