Tastengenie

 

Wieder einmal hat uns Musik- und Opernliebhaber das Klassiklabel Naxos zu Dank verpflichtet und der Schatztruhe seiner Raritäten eine weitere Perle hinzugefügt (jaja, ich verweile auch hier mal wieder im lyrischen Bereich), nämlich die bislang auf Einzel-CDs erschienen Aufnahmen des Klaviervirtuosen, Pädagogen und Komponisten Sigismund Thalberg (1812-1871) zu einer 6-CD-Box (8.506042) zu versammeln und diesen   Genius der Virtuosität noch einmal gezielt vorzustellen. Allein schon das schmissige Klavierkonzert lässt einen die Schwarz-Weißen-Tasten durch die Luft fliegen sehen. Seine hinreißenden Opernparaphrasen und Fantasien über Themen von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi tun dies noch mehr. Und anders als bei seinem Kollegen Franz Liszt herrscht hier weniger selbstverliebte Kunst als solide Meisterschaft, die von den bestens geschulten Töchtern des gehobenen Bürgertums und Adels im   mittleren 19. Jahrhunderts viel abverlangte. Hochgeachtet von den Schumanns und der Musikwelt seiner Zeit reduzierte Thalberg wie seine Kollegen Czerny oder Kalkbrenner die große Kunst ins die kleine, salonfähige, ohne dass es ihr an Elan und Tiefe fehlte.

Ein „scheener Mensch“ war er ja – Sigismund Thalberg in seiner Jugend/Wikipedia

Ich liebe diese Variationen über Norma, Capuleti, Beatrice di Tenda, Lucia, Lucrezia Borgia, Don Pasquale,  Semiramide, Siège de Corinth und viele mehr! (Nicht zu vergessen diese wüsten Titel wie die Les Soirées de Pausilippe!) Man hat hier die Opern in nuce, lernt ihre Harmonik kennen, ihre thematische Durchführungen, um dann in schierer Begeisterung ob der Fingerfertigkeit des Pianisten Francesco Nicolosi auszubrechen. Das ist Kunst für die arrivierte, ebenso moindäne wie multinationale Gesellschaft, aber auch für das arrivierte Bürgertum, hohe Virtuosität für die Salons der Zeit (das Gemälde von Josef Dannhauser mit Liszt, Paganini und der Sand fällt einem dazu ein).

Und Thalberg war zudem als Erzieher unendlich wichtig, seine L’art du chant appliqué au piano zählt zu den bedeutenden Lehrwerken des angehenden und fortgeschrittenen Studiums. Ich selber habe mich in die ersten Seiten gequält und auf ihn geschimpft. Mit den Noten dazu findet man ein-zwei Bände bei youtube und als Musik-CD bei Naxos und anderen. Nach der Begeisterung über die hier versammelte Musik folgt hier ein Auszug aus dem einführenden Artikel von Keith Anderson, den wir dem Beiheft zur 6-CD-Box (8.506042 entnahmen, Danke dafür. Und Dank an Naxos. Vielleicht gibt es demnächst auch eine Box für den nicht minder wichtigen Carl Czerny? Der hat sogar ein Klavierkonzert mit Alphorn geschrieben, immerhin! G. H.

 

Sigismund Thalberg in lässiger Pose/Pinterest

Keith Anderson schreibt: Ein Geheimnis umgibt die Geburt und Abstammung des virtuosen Pianisten Sigismond Thalberg, 1812 in Pâquis bei Genf geboren, der im Volksmund der uneheliche Sohn des Grafen Moritz Dietrichstein und der Baroness von Wetzlar gewesen sein soll. Seine Geburtsurkunde weist eine jedoch andere und relativ legitime Abstammung aus, als Sohn eines Frankfurter Bürgers, Joseph Thalberg. Es scheint daher keinen besonderen Grund zu geben, den Namen Thalberg als Erfindung abzutun. Die Legende auf der anderen Seite erzählt die Geschichte der Baroness, die ihm ein Tal („Thal“) verkündet, das eines Tages auf die Höhe eines Berges („Berg“) ansteigen würde. Thalbergs Schulausbildung führte ihn nach Wien, wo ihn sein Mitschüler, der Herzog von Reichstadt, der Sohn Napoleons, fast zu einer militärischen Karriere überredete. Musikalische Interessen triumphierten und er konnte bei Simon Sechler und bei Mozarts Schüler Hummel studieren. In Wien trat er auf privaten Feiern auf und machte einen besonderen Eindruck, als er als Vierzehnjähriger im Hause des Fürsten von Metternich spielte. Bis 1828 hatte er die Reihe von Kompositionen begonnen, die sich als wichtiger und notwendiger Begleiter seiner Karriere als Virtuose erweisen sollten. 1830 unternahm er seine erste Konzertreise ins Ausland nach England, wo er Unterricht bei Moscheles erhielt. 1834 wurde er zum Kammervirtuosen des Kaisers in Wien ernannt und erschien im folgenden Jahr in Paris, wo er Unterricht bei Kalkbrenner und Pixis erhielt. Paris war in den 1830er Jahren eine Stadt der Pianisten. Das Konservatorium war voll davon, während die Salons und Ausstellungsräume der wichtigsten Klavierhersteller Érard und Pleyel mit der Virtuosität von Kalkbrenner, Pixis, Herz und natürlich Liszt erklangen. Die Rivalität zwischen Thalberg und Liszt wurde weitgehend von der Presse geschürt. Berlioz wurde der Vorkämpfer des letzteren, während Fétis die Leistungen von Thalberg pries. Liszt war zum Zeitpunkt der Ankunft Thalbergs in Paris in der Schweiz, wo er sich mit seiner Geliebten, der Comtesse Marie d’Agoult, zurückgezogen hatte. Sie schrieb unter Liszts Namen einen abfälligen Angriff auf Thalberg, auf den Fétis ebenso beleidigend antwortete. Die sogenannte „revolutionäre Prinzessin“, Prinzessin Belgiojoso, erzielte einen bemerkenswerten gesellschaftlichen Coup, als sie die beiden Virtuosen überredete, in ihrem Salon bei einem Konzert zugunsten italienischer Flüchtlinge zu spielen. Wie bei anderen solchen Wettbewerben wurde der Sieg taktvoll zwischen den beiden geteilt. Thalberg spielte seine Moses-Fantasie und Liszt antwortete mit seiner neuen Paraphrase aus Pacinis Oper Niobe. Die Prinzessin erklärte Thalberg zum ersten Pianisten der Welt, während Liszt einzigartig sei. Sie gab eine Reihe von Variationen über ein patriotisches Thema von Bellinis I Puritani bei den sechs führenden Pianisten in Paris in Auftrag, zu denen Liszt, Thalberg, Chopin, Pixis, Herz und Czerny beitrugen. Dieses zusammengesetzte Werk, Hexaméron, blieb in Liszts Konzertrepertoire. Der Musikjournalismus hat eine Legende über Thalbergs Niederlage und Abreise aus Paris und die anhaltende Rivalität zwischen ihm und Liszt geschaffen. Ein Element des Wettbewerbs blieb bestehen, obwohl es keine offene Feindseligkeit gegeben zu haben scheint, und Liszt schrieb nach dem Tode ihres Mannes im Jahre 1871 ein Beileidsschreiben an Thalbergs Witwe. Thalberg erlebte eine Karriere von größter Bedeutung und unternahm Tourneen bis nach Amerika, wo Liszt niemals hinkam, mit Konzerten in Brasilien und Havanna und einem längeren Aufenthalt beim Geiger Vieuxtemps in den Vereinigten Staaten, wo er innerhalb von zwei Jahren 56 Konzerte in New York gab, mit einem Repertoire hauptsächlich aber nicht gänzlich seinen eigenen Kompositionen gewidmet. Liszt hatte unterdessen einige von Thalbergs Opernparaphrasen und -phantasien, die er durch Marie d’Agoult einmal öffentlich herabgesetzt zu haben schien, in sein Repertoire aufgenommen. 1843 hatte Thalberg in Paris Cecchina geheiratet, die Tochter des berühmten Bassisten Luigi Lablache und Witwe des Malers Boucher. Versuche einer Opernkomposition blieben erfolglos. Florinda wurde 1851 in London und Cristina di Suezia vier Jahre später in Wien aufgeführt. Seine Karriere als Virtuose dauerte bis 1863, als er sich nach Posilippo in der Nähe von Neapel zurückzog, um sich für die verbleibenden Jahre mit seinen Weinbergen zu beschäftigen. Er starb dort 1871.

Ein Abend wie chez Thalberg: Dannhausers Gemälde „Lliszt am Klavier“/ Alte Nationalgallerie Berlin Alexandre Dumas d. Ä. oder Alfred de Musset, Victor Hugo, George Sand, Niccolo Paganini, Gioacchino Rossini, Liszt, Marie d’Agoult und Beethoven/ Wikipedia

Thalbergs Grande fantasaisie sur des motives de Norma op. 12 wurde von Schumann gelobt, der im Allgemeinen wenig Zeit für bloße technische Virtuosität hatte. Es ging um Thalbergs Spiel und folglich um seine Kompositionen für Klavier, ein Element des Klassizismus, und dies sprach sicherlich Clara Schumann und andere an, die die Showmanier von Liszt und seine Gewohnheit, die Musik anderer in der Aufführung zu „verbessern“, nicht mochten. Thalberg hatte beträchtliche Disziplin in Bezug auf  seine aufrechte Körperhaltung; er behauptete, diese sei das Ergebnis des Rauchens einer „Meerschaum“ während des Übens technischer Anwendungen. Chopin war jedoch nicht beeindruckt und behauptete, Thalberg habe das weiche Pedal für seine Effekte verwendet, anstatt einen sanften Ton durch Berühren zu erzielen, wie er es getan hätte. Ein besonderer von Thalberg verwendeter Effekt war eine Melodie, die von den Daumen der rechten und linken Hand gespielt wurde, welche oben und unten von Arpeggios umgeben waren und somit den Eindruck von drei statt zwei Händen erweckten. Dies gelang ihm zum Teil durch den subtilen Einsatz des Haltepedals. Kritiker äußerten sich zu seiner perlmuttartiger Klarheit und zu seinem Gesangston, wie er ihn in seiner pädagogischen Arbeit L’art du chant appliqué au piano lehrte, in der er Beispiele aus der Oper verwendet. Fantasien über Opernthemen waren im 19. Jahrhundert eigenständige Kompositionen, die das Publikum durch die Vertrautheit mit ihrem melodischen Material und den Einfallsreichtum und die Kunstfertigkeit ihrer virtuosen Präsentation begeisterten. (…)

Ein Hauptgenre im Solo-Klavierrepertoire war die Opernparaphrase der Fantasie, in der sich Thalberg auszeichnete. In Werken dieser Art konnten die Künstler ein hohes Maß an Virtuosität zeigen, das auf mehr oder weniger bekanntem Material basierte, an dem sich das Publikum erfreuen konnte, während es sich über den Einfallsreichtum und die Kunstfertigkeit wunderte, mit denen bekannte Melodien behandelt wurden. Thalberg stützte sich in Werken dieser Art sehr stark auf die Opern von Rossini, der eine konkurrenzlose Position einnahm und sich im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts als Komponist von Witz und dramatischer Kraft etabliert hatte. (…)

Und nochmal Sigismund Thalberg, hier von auf einem Foto von Nadar/ Gallica

Thalbergs Klavierkonzert f-Moll op. 5 ist ein relativ frühes Werk. Der erste Satz beginnt mit der erwarteten Orchesterexposition, die zwei kontrastierende Themen präsentiert, bevor der Solist mit einer Ausarbeitung des Materials einsetzt. Im Folgenden gibt es viel Raum für Virtuosität, insbesondere in einer anspruchsvollen und abwechslungsreichen Kadenz. Es findet sich eine kurze orchestrale Einführung ins Adagio, mit fortgesetzten Andeutungen, dass die Musik aus einer Zeit stammt, als auch Chopin begann, sich einen Namen zu machen, obwohl Thalberg die relativ gedämpften Zwischentöne bei Chopin heruntergespielt haben soll. Es gibt hier jedoch eine ähnliche Verwendung der ausgeschmückten Opernmelodie. Der Solist bietet einen unmittelbaren Kontrast in der Stimmung des Hauptthemas des letzten Rondos mit seinen verschiedenen Episoden. Keith Anderson/ Übersetzung Daniel Hauser ((Weitere Information zu den CDs/DVDs  im Fachhandel, bei allen relevanten Versendern und bei www.naxosdirekt.de.)

 

 Sigmund Thalberg: Fantasies on Operas by Vincenzo Bellini/Fantasies on Operas by Gaetano Donizetti/ Variations on Themes from Operas by Gioachino Rossini/  Fantasies on Operas by Giuseppe Verdi, Gioachino Rossini and Vincenzo Bellini/ Les Soirées de Pausilippe, Op.75 – Hommage à Rossini: 24 Pensées Musicales/ Souvenirs de Beethoven: Grande fantaisie pour le piano sur la 7e Symphonie de Beethoven, Op.39/ pour le piano sur la 7e Symphonie de Beethoven, Op.39/ 5 Nocturne, Op.28/ Canzonette italienne, Op.36 No.5/ Piano Concerto in F minor, Op.5 (Razumovsky Symphony Orchestra, Andrew Mogrelia conductor); Pianist Francesco Nicolosi (6 CDs, Naxos 8.506042, Aufnahmen 1990 – 1995)