40 Jahre ORFEO

 

Der 19. Juni 2020 markierte den Auftakt zum offiziellen 40-jährigen Jubiläum des Labels ORFEO International in den nächsten Monaten. Das einzigartige und hochwertige Label ORFEO hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten bei Kritikern und Sammlern einen exzellenten Ruf als Referenz für erstklassige historische Live-Mitschnitte aus Bayreuth, München, Salzburg und Wien, als Referenz für romantische und spätromantische Liedkunst und – nicht zuletzt – als innovative Talentschmiede für kommende Weltstars erworben.

Mit der Veröffentlichung der ersten von vier geplanten 10-CD-Jubiläumsboxen (535007) erinnert ORFEO an herausragende Aufnahmen legendärer Dirigenten im Katalog: Sir John Barbirolli, Karl Böhm, Sergiu Celibidache, Ferenc Fricsay, Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Carlos Kleiber, Otto Klemperer, Hans Knappersbusch, Dimitri Mitropoulos und Wolfgang Sawallisch dirigieren Werke von Beethoven, Brahms, Bruckner, Prokofjew, Schubert, Strauss, Vaughan-Williams und Tschaikowsky. Das Doppelalbum „40 Ultimate Recordings“ (534826)  fasst 40 Highlights der Label-Geschichte zu einem musikalischen Kaleidoskop auf zwei CDs zusammen.

 

Daniel Hauser hat ein Ohr in die Box mit den legendären Dirigenten geworfen:  ORFEO wird vierzig. Ein Grund zum Feiern nicht nur für das Münchner Label, sondern auch für Klassikfreunde. Mehrere Boxen sind hierzu geplant. Die erste, 10 CDs umfassende Box ist mit Legendary Conductors betitelt (Orfeo C200011). Insgesamt elf legendäre Dirigentenpersönlichkeiten wurden darin bedacht, was bedeutet, dass neun der Dirigenten jeweils eine CD bekamen und sich zwei eine einzelne Silberscheibe teilen müssen. Die Dirigentenwahl ist nachvollziehbar, auch wenn dieser und jener einen seiner Lieblinge vermissen wird. Eine Auswahl muss schließlich getroffen werden. Berücksichtigt wurden Aufnahmen der Jahre zwischen 1951 und 1991, also wiederum ein Zeitraum von vierzig Jahren. Interessant ist, dass Zweidrittel der ausgewählten Aufnahmen nur in Mono vorliegen, also die 1950er und frühen 1960er Jahre einen breiten Raum einnehmen. Die Kollektion wendet sich weniger an den Klang-Enthusiasten denn an den Bewunderer historischer Interpretationskunst. Tatsächlich entstand die älteste der enthaltenen Aufnahmen unter der Stabführung von Wilhelm Furtwängler: Bruckners vierte Sinfonie, die Romantische, mit den Wiener Philharmonikern, mitgeschnitten im Kongresssaal des Deutschen Museums in München am 29. Oktober 1951. Eine wahrlich romantische Lesart, die einem Bruckner-Bild verhaftet ist, das heute als überholt erscheinen mag, gleichwohl nach wie vor seine Berechtigung in der Bruckner-Aufführungsgeschichte besitzt. Es ist keine so extreme Lesart wie die legendären Mitschnitte von Bruckners Fünfter und Neunter aus dem Kriege und doch so grundverschieden von dem, wie der Meister von Sankt Florian heutzutage dargeboten wird. Fast auf den Tag genau ein Jahr später, am 30. Oktober 1952, dirigierte Sergiu Celibidache im Wiener Konzerthaus ein Konzert der Wiener Symphoniker mit Les Préludes von Franz Liszt und Brahms‘ erster Sinfonie, das glücklicherweise ebenfalls festgehalten wurde. Celibidache, der Furtwängler am Pult der Berliner Philharmoniker zwischen 1945 und 1952 interimistisch vertrat, lässt bereits in diesen frühen Jahren ansatzweise seinen später essentiell gewordenen Ansatz erkennen, der sich durch breite Tempi auszeichnete, dauert die Liszt’sche Tondichtung bei ihm doch beinahe achtzehn Minuten. Anders als die Brahms-Sinfonie, die er später noch häufig dirigieren sollte, scheint er Les Préludes danach nicht mehr aufgeführt zu haben, was angesichts der Qualität der Interpretation schade ist. Überhaupt beweist diese Programmauswahl, dass das von den Nazis propagandistisch so ausgeschlachtete Werk bereits in den frühen 50er Jahren durchaus wieder im Konzert gegeben werden konnte und nicht einmal ein rumänischer Dirigent zwangsläufig Berührungsängste verspürte.

Wieder zwei Jahre später, am 9. Juli 1954, leitete der aus Griechenland stammende Dimitri Mitropoulos das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal der Münchner Residenz mit der fünften Sinfonie von Sergei Prokofjew; eine spektakuläre Darbietung, die einzig klanglich eingeschränkt ist. Dies gilt leider auch für den Rundfunkmitschnitt vom 25. Juni 1955 aus dem Wiener Musikverein, als Herbert von Karajan Beethovens Neunte am Pult der Wiener Symphoniker in höchst prominenter Besetzung leitete. Das Solistenquartett setzte sich aus Lisa Della Casa, Hildegard Rössel-Majdan, Waldemar Kmentt und Otto Edelmann zusammen. Es sang zudem der von Karajan stets geschätzte, allerdings nicht immer auf höchstem Niveau agierende Wiener Singverein. Diese Aufnahme bietet einen spannenden Vergleich zur fast zeitgleich entstandenen Einspielung mit dem Philharmonia Orchestra für EMI in London. Wiederum mit den Wiener Symphonikern ist Otto Klemperer in einem Mitschnitt aus dem Wiener Konzerthaus vom 8. März 1956 berücksichtigt worden, in welchem die von ihm so geliebte dritte Sinfonie von Brahms sowie die siebente Sinfonie von Beethoven gespielt wurden. Es handelt sich um ein Tondokument, das noch vor Klemperers schwerem Brandunfall entstand und ihn auf der uneingeschränkten Höhe seiner dirigentischen Vitalität zeigt und insgesamt spritziger daherkommt als die viel berühmteren Studioeinspielungen. Mit Hans Knappertsbusch wurde eine weitere Dirigentenlegende in der Box aufgenommen, die bis heute eher als Opern- denn als Konzertdirigent in Erinnerung geblieben ist. Wie einseitig solch eine Betrachtungsweise ist, zeigt sich anhand der inkludierten Mitschnitte zweier Beethoven-Werke, der Coriolian-Ouvertüre (17. Jänner 1954) sowie der Eroica (17. Februar 1962), wiederum aus dem Musikverein in Wien. Dieser monumentale Beethoven-Stil, der das Pathos zu einer Tugend erhebt, gemahnt an das späte 19. Jahrhundert. Den Abschluss der Mono-Aufnahmen bildet sodann ein am 24. November 1960 im Herkulessaal entstandener Live-Mitschnitt der Symphonie Pathétique von Tschaikowski mit dem BR-Symphonieorchester unter der Leitung des allzu früh verstorbenen Ferenc Fricsay. Dieser feurige Mitschnitt übertrifft in seiner Unmittelbarkeit gar die offizielle Studioeinspielung bei der Deutschen Grammophon. Die Stereo-Ära beginnt sodann mit einem in München selten gesehenen Gastdirigenten, Sir John Barbirolli, der das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks hier, gesundheitlich bereits schwer angeschlagen, am 10. April 1970 abermals in der Münchner Residenz leitet, keine vier Monate vor seinem Ableben. Neben der sechsten Sinfonie seines Landsmannes Vaughan Williams brilliert er insbesondere in seiner liebevollen Interpretation der zweiten Sinfonie von Brahms, die eine lohnende Ergänzung darstellt zu seinem späten Zyklus der vier Sinfonien mit den Wiener Philharmonikern für EMI. Der akustisch so gerühmte Herkulessaal in München kommt in der Box ein letztes Mal im dirigentischen Beitrag von Karl Böhm zum Zuge, der dort am 29. September 1973, wiederum mit dem BR-Orchester, Ein Heldenleben von Richard Strauss sowie Schuberts zweite Sinfonie aufführte. Gerade für Schuberts Jugendwerk, wohl die bedeutendste unter dessen frühen Sinfonien, hatte Böhm eine Schwäche, wie man aufgrund einiger weiterer Konzertmitschnitte weiß. Die Darbietung gelingt sodann auch tadellos mit wahrlich wienerischem Charme. Fast ein Jahrzehnt später, am 3. Mai 1982, wurde ein Konzert des Bayerischen Staatsorchesters unter Carlos Kleiber im Münchner Nationaltheater mitgeschnitten, aus welchem in diesem Zusammenhang Beethovens vierte Sinfonie beigefügt wurde. Der jüngere Kleiber, der sich durch sein winziges Repertoire und seine Eigenwilligkeit schon zu Lebzeiten den Ruf eines Exzentrikers par excellence erarbeitet hatte, liebte Beethovens häufig unterschätzte Vierte hörbar, auch wenn man nüchtern hinzufügen sollte, dass der Nimbus der absoluten, alles andere in den Schatten stellenden „Überinterpretation“ reichlich übertrieben erscheint. Den Abschluss bildet schließlich eine Coproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk, die am 28. und 29. September 1990 sowie zwischen dem 18. und 20. März 1991 eingespielt wurde und Bruckners gewaltige fünfte Sinfonie zum Thema hatte. Abermals spielt hier das Bayerische Staatsorchester, diesmal allerdings unter der musikalischen Leitung des langjährigen Bayerischen Generalmusikdirektors Wolfgang Sawallisch. Aus unerfindlichen Gründen wurde dieser nie so recht für seinen Bruckner berühmt, doch stellte jüngst der ob seiner apodiktischen Urteile zuweilen gefürchtete amerikanische Kritiker David Hurwitz genau diese Aufnahme an die Spitze der Diskographie. Das mag angesichts der hochkarätigen Konkurrenz sehr hinterfragbar sein, doch besitzt diese Aufnahme tatsächlich höchste Qualität sowohl in künstlerischer als auch in klanglicher Hinsicht und bildet damit eine gelungene Krönung der Jubiläumsedition. All diese hier versammelten Aufnahmen sind übrigens zuvor bereits einzeln erschienen, teils freilich in anderer Kombination. Orfeo ist die Gesamtauswahl insgesamt ausgezeichnet geglückt, auch wenn der Fokus sehr eindeutig auf München und Wien liegt. Die wertige Aufmachung und der kundige Einführungstext von Jens F. Laurson tun ihr Übriges, eine volle Empfehlung auszusprechen. Daniel Hauser

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