Die kleinen Dinge versteckt

 

Ein neues Italienische Liederbuch von Hugo Wolf ist bei Spektral erschienen. Es singen Anke Vondung und Werner Güra, am Klavier begleitet von Christoph Berner (SRL4-20182). Wer sich diesem Werk – ob im Studio oder live – zuwendet, trifft auf harte Konkurrenz. Es herrscht überhaupt kein Mangel an Aufnahmen. Einzelne Titel gelangten schon vor neunzig Jahren auf Schellack. Damals begann der britische Musikproduzent Walter Legge damit, vorsichtig den Plattenmarktwert des Komponisten zu erkunden. The Hugo Wolf Society nannte sich die Sammlung von Alben für einen erlesenen Käuferkreis, die nach und nach als Subskription veröffentlicht wurden. Sie haben sich bis in die Gegenwart erhalten und waren zuletzt noch bei der EMI herausgegeben worden. Ohne Legge, der von Wolf besessen war und prophetisch für ihn kämpfte, dürfte das Werk dieses Komponisten, das hauptsächlich aus Liedern besteht, nicht seinen verdienten Platz im internationalen Kunstbetrieb gefunden haben. In besagte Edition ist der Zyklus nicht komplett eingegangen. Von den 46 Liedern wurden nur achtzehn berücksichtigt. Als Solisten waren unter anderen Elena Gerhardt, Gerhard Hüsch und Alexander Kipnis gewonnen worden. Der Pianist Michael Raucheisen bedachte Wolf in seiner legendären Liededition beim Reichsrundfunk in Berlin mit einem beträchtlichen Kapitel.

Vollständig ist das Liederbuch erst relativ spät entdeckt worden. Bei den Salzburger Festspielen im Heimatland des Österreichers Hugo Wolf, wagten 1958 Irmgard Seefried und Dietrich Fischer- Dieskau die erste Aufführungen. Edith Mathis und Peter Schreier folgten 1976 nach. Dann dauerte es fast vier Jahrzehnte, dass Diana Damrau und Jonas Kaufmann 2018 mit dem Liederbuch gastierten. Plattenfirmen waren tüchtiger. Nachdem Elisabeth Schwarzkopf und Fischer-Dieskau 1959 unter der Obhut von Legge das Liederbuch in London eingespielt hatten, das bis heute Referenzstatus hat, ging es Schlag auf Schlag. Inzwischen haben sich an die zwanzig Aufnahmen angesammelt, die mit einigen Mühen alle noch zu haben sind – Erna Berger und Hermann Prey (Vox) sind darunter, Ileana Cotrubas und Thomas Allen (Enchant), Janet Baker und John Shirley-Quirk (ICA Classics),Elly Ameling und Tom Krause (CBS), Julia Kleiter und Christoph Pregardien (Challenge), Barbara Bonney und Hákan Hagegard (Teldec), Christiana Oelze und Hans Peter Blochwitz (Edel Records), Ruth Ziesak und Andreas Schmidt (RCA), Soile Isokoski und Bo Skovhus (Ondine) sowie bei Deutsche Grammophon Christa Ludwig und Fischer-Dieskau, der – wen wundert’s – am häufigsten auf Besetzungszetteln genannt wird.

Wer angesichts dieser Fülle nicht übersehen werden will, muss einiges zu bieten haben. Anke Vondung und Werner Güra haben es durchaus. Gemeinsam mit ihrem Pianisten verlassen sie die vom Komponisten gewollte Reihenfolge der Lieder. Nicht die „kleinen Dinge“, die uns auch entzücken können, stehen am Beginn. Los geht’s es mit „Ein Ständen, euch zu bringen“. Dieses Lied rutscht von der letzten Stelle des ersten Teils an den Anfang und macht dort als Entree durchaus Sinn. Lediglich sechs Lieder – und zwar die Nummer 27 sowie die letzten fünf behalten ihre angestammten Plätze. „Ich hab in Penna einen Liebsten wohnen“ ist als Rausschmeißer unangefochten. Versöhnlicher kann das Liederbuch gar nicht ausklingen. Grund für die neue Reihung ist der Versuch, der Sammlung einen vor allem an den Texten orientierten Zusammenhalt zu geben. „In zahlreichen Konzerten erprobt, soll sie den dramaturgischen Bogen, das aufeinander Zugehen und sich im Streit wieder voneinander Abwenden der beiden Liebenden noch schärfen – und damit das theatralische Element, das in den 46 Mini-Dramen steckt, verdeutlichen“, so Pianist Berner im Booklet. Bei der Arbeit habe man sich die Kulisse eines toskanischen Städtchens ausgemalt. Auch dort entfalteten „Gegensätze ihr kreatives Potenzial“. Die Muttersprachlichkeit beider Solisten garantiert ein hohes Maß an Wortverständlichkeit. Anke Vondung und Werner Güra kosten die Texte aus, indem sie deren lyrisches Potenzial genauso erkunden wie die freche Ironie. Sie werfen sich die Bälle nur so zu, dass es eine Freude ist, ihnen zuzuhören. Sie treten als ein Paar in Erscheinung, das seine Erfahrungen gesammelt hat, das also weiß, wovon es redet, worüber es sich streitet und warum es sich wieder versöhnt. Die kurzen anonymen Gedichte hatte Paul Heyse (1830-1914) auf dem toskanischen Dialekt ins Deutsche übertragen. Heyse, der als erster Deutscher den Literaturnobelpreis erhielt, hatte Italien für die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts neu entdeckt. Es galt nach eigenem Bekunden als sein zweites Vaterland. Er war in seiner Zeit ungemein populär, und seine Bücher und Übersetzungen fehlten in keinem Bücherschrank. Rüdiger Winter