Wie aktuell!

 

Es geht überwältigenden los: mit Gongschlägen, Rasseln, Ganztonskalen, federnden Sechzehntel-Sprungfedern und brillant eingeworfenen Hornpassagen à la Richard Strauss. Das Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer spielt diesen Orientalismus-Traum von Leo Fall mit einer gehörigen Portion Bombast; und die wirkt hier klanglich opulenter als alle früheren Aufnahmen der Rose von Stambul, wo das Orchester nie so durchhörbar von der Tontechnik eingefangen wurde. Chapeau!

Und gleich in der ersten Szene dann, in der die weibliche Hauptfigur Kondja Gül, Tochter des Kamek Pascha, in ihren Frauengemächern in Istanbul erwacht, fallen die Sätze, die daran erinnern, wie aktuell diese Operette von 1916 ist: Denn in ihrem Introduktionssolo beklagt Kondja, dass sie einst „ein liebes kleines braunes Mädchen“ gewesen sei, dass „auf Bälle durfte“ und „Feste, Tennis und Flirt“ genoss. Doch dann hieß es eines Tages plötzlich: „Du trägst jetzt den Schleier!“ („Ich war nicht mehr als eine grau verschleierte Puppe“). Kondja begehrt auf gegen diese Verschleierung aus „Sitte und Tradition“, die „der Prophet“ verordnet hat. Und als ihre Freundin Midili Hanum erscheint und im Two-Step davon singt, dass in Paris die Frauen in Cafés flirten und sich nicht im Haus verbergen müssen, weil sie „frei von unserer konservativen Tradition“ den Frühling genießen können, da schließen sich alle diese jungen türkisch-muslimischen Frauen (im Chor) zusammen zu einem mitreißenden Protestmarsch, der in der Zeile mündet: „Von Reformen, ganz enormen, träumen wir am Bosporus!“ Sie alle fordern „Fort der Schleier!“ und heraus „aus dem Dunkel“.

Kemal Atatürk setzte das dann alles tatsächlich in den 1920er-Jahren in der Türkei um und modernisierte das Land. Bis Erdogan kam und Jahrzehnte später (erfolgreich) versuchte, diese Bewegung wieder umzudrehen. Seither wird über die Religion und Islam viel gestritten und diskutiert, nicht nur in der Türkei. 

Zur Erinnerung: Als 2019 das Frankfurter Museum für Angewandte Kunst die Ausstellung „Contemporary Muslim Fashions“ zeigte, worin es u. a. um Tschadors, Niqabs, Burkas, Schleier und Kopftücher ging, entbrannte wütender Protest. Der Vorwurf lautete, es würde gezeigt, dass islamische Frauen die Verhüllung nicht als freiwilliges religiöses Statement tragen würden, stattdessen seien vermeintlich nur westliche stereotype Vorurteile zur Unterdrückung von Frauen reproduziert worden. Weswegen sich in sozialen Medien Shit-Stürme erhoben, die die Schließung der Ausstellung forderten, die Absetzung des Museumsdirektors usw. Anlässlich einer im Rahmen der Ausstellung geplanten Konferenz, wo über islamische Mode inkl. Verschleierung diskutiert werden sollte, gab es wiederum massiven Gegenwind zur Frage: Wer darf sich eigentlich zu diesem Thema äußern?

Was das mit der Rose von Stambul und dieser neuen cpo-Aufnahme aus dem Prinzregententheater? Ein befreundeter Regisseur hat in den letzten Jahren wiederholt versucht, an einem westdeutschen Theater die Rose von Stambul zu inszenieren. Doch die Intendanz und Dramaturgie erklärten ihm, die Geschichte im Stück „sei nicht seine“, er sei nicht „berechtigt“ sie auf die Bühne zu bringen, weil die Themen „anderen gehörten“. Im Klartext: türkischen bzw. muslimischen Frauen. Er als weißer, nicht-muslimischer deutscher Mann müsse sich also von dieser Operette fernhalten! (Vermutlich hatte die Intendanz Sorge vor Empörungswellen, wie sie über das Museum in Frankfurt schwappten.)

Solche Identitätspolitikdiskussionen sind auf allen Ebenen sichtbar, auch in der Oper(etten)nwelt: Wer „darf“ Aida und Otello singen? Ist Der Mikado „rassistisch“ oder Die Geisha? Werden darin nur überholte und „verletzende“ ethnische Stereotype wiederholt? Muss das alles weg? Oder zumindest dekonstruiert und problematisiert werden?

Beim Münchner Rundfunkorchester ist man von solchen Fragen scheinbar unberührt. Jedenfalls kann man konstatieren, dass Dirigent Ulf Schirmer ein weißer nicht-muslimischer Mann ist und sich bei seiner Besetzung der „türkischen“ Rollen niemand findet, der erkennbar etwas mit der Türkei oder dem Islam zu tun hat: Matthias Klink singt den Achmed Bey, Kristiane Kaiser die Kondja Gül, Magdalena Hinterdobler die Midili, Eleonora Vacchi die Bül-Bül, Christoph Hartkopf die Exzellenz Kamek Pascha (Vater von Kondja). Und dann wäre da noch Hanne Weber als Djamileh. Könnte man sagen, Die Rose von Stambul sei „ihre“ Geschichte? Sind sie „berechtigt“ sie zu erzählen? Und wenn sie sie schon erzählen, haben sie dann etwas zu sagen zu all den explosiven Themen?

Im lesenswerten Essay vom Leo-Fall-Biografen Stefan Frey im Booklet ist nirgends auch nur in einem Nebensatz die Rede davon, was für Debatten in den letzten Jahren zum Thema Verschleierung geführt wurden. Und dann geht’s im Stück ja auch darum, dass Kondja von ihrem Vater zwangsverheiratet wird mit einem türkischen Mann, den sie nicht kennt und noch nie gesehen hat. Dass beispielsweise 2019 Sandra Maischberger den Film Nur eine Frau produziert hat, bleibt unerwähnt, ein Film über den sogenannten „Ehrenmord“ an der Berlinerin Hatun Sürücü, die von einem ihrer Brüder getötet wurde, weil sie den von ihrer Familie ausgewählten Ehemann verließ, abends tanzen ging, das Kopftuch ablegte und sich einen Liebhaber nahm. Die ARD strahlte den erschütternden Film kürzlich aus.

Wäre es bei so viel Zeitbezug nicht mindestens angebracht, den Text von den „Reformen, ganz enormen“ von denen die Protagonistinnen der Rose von Stambul träumen so klar und explosiv rüberzubringen, wie er von Julius Brammer und Alfred Grünwald geschrieben bzw. von Leo Fall komponiert wurde? Oder soll die maximale Textundeutlichkeit und sprachliche Apathie von Kristiane Kaiser (Kondja) und Magdalena Hinterdobler (Midili) die Spuren verwischen, damit niemand mitbekommt, dass es hier um aufregende Dinge geht, die viele Menschen im Jahr 2020 immer noch bewegen?

Beide Damen singen extrem gepflegt, sind angenehm anzuhören, aber sie sind niemals die aufmüpfigen Charaktere, die sie laut Textbuch sein sollen. Es gibt von der Berliner Erstbesetzung 1917 eine Truesound-Transfer-CD: Wenn man hört, mit welch unendlichen Nuancen und mit welcher Kessheit Fritzi Massary da als Kondja vom „Glück nach der Mode“ singt, von dem sie träumt (nach westlichem Vorbild, statt nach islamischer Tradition), oder wenn man hört, wie quietschend-rebellisch Molly Wessely als Midili zu ihrem selbstgewählten westlichen Liebhaber sagt „Fridolin, ach wie dein Schnurrbart sticht“, als sie ihn entgegen „Anstand und Sitte“ küsst, da spürt man, was dieser Neuaufnahme gründlich fehlt. Nämlich ein Gespür dafür, dass es hier nicht nur um „gehobene“ Wunschkonzertmusik geht.

Die Wunschkonzertnummer aller Wunschkonzertträume ist natürlich das Duett „Ein Walzer muss es sein“: Vergleicht man die 1917 demonstrierte Tempoflexibilität mit der neuen cpo-Aufnahme, auch die Leichtigkeit, mit der sich Massary und Albert Kutzner in einem vollkommenen Rausch hineinsteigern, dann merkt man, wie pedantisch Matthias Klink und Kristiane Kaiser unter Ulf Schirmer diese Nummer gestalten – obwohl in München die vollständige Spielszene aufgenommen wurde, in der Achmed seiner Verlobten Kondja das Walzertanzen beibringt, bevor er sie in der Hochzeitsnacht vergewaltigen will (oder sagen wir: gegen ihren Willen die Ehe gewaltsam konsumieren möchte). Womit wir schon beim nächsten Aufregerthema wären.

Fritzi Massary sang damals mit durchaus feministischem Furor im Kostüm einer Orientalin gegen solche Zustände an, die auch in Deutschand zu Zeiten des Kaiserreichs herrschten. Noch 1966 urteilte der 4. Zivilsenat am Bundesgerichtshof: „Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen, zu denen die Unwissenheit der Eheleute gehören kann, versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen.“ Wenn eine Frau sich in Deutschland an die Polizei wandte, um eine Vergewaltigung anzuzeigen, hatte sie zuerst eine Frage zu beantworten: In welchem Verhältnis stehen Sie zum Täter? – Wir sind verheiratet. – Na, dann gehen Sie nach Hause. Daran änderte sich erst 1997 (!) etwas.

Matthias Klink tritt in die Fußstapfen von vielen berühmten Vorgängern. An Hubert Marischka als Uraufführungssänger 1916 wird sich vermutlich kaum jemand erinnern (es sind keine Aufnahmen von ihm überliefert, nur Fotos in Atatürk-Outfit), aber an Rudolf Schock und Fritz Wunderlich muss man schon denken, wenn man die beiden berühmtesten Tenorschlager dieser Operette hört: den betörenden Walzer „O Rose von Stambul nur du allein, sollst meine Scheherazade sein“ und die schwungvoll aufblühende „Serenade“. Bei beiden breitet das Münchner Rundfunkorchester einen Klangteppich aus, der atemberaubend ist. Und Klink beschreitet ihn vorsichtig, mit angenehmen Pianoeffekten. Aber ohne das Draufgängertum Schocks und ohne den sengenden Glanz Wunderlichs. Es hätte Klink gut getan, sich Albert Kutzner von 1917 anzuhören und sich von ihm einige Gestaltungsdetails abzulauschen, mit denen er eine interessante Alternative zu Schock/Wunderlich hätte darstellen können. Vielleicht wäre es auch Aufgabe des Dirigenten, so etwas mit seinen Solisten zu erarbeiten? (Nur so als Anregung.)

Andreas Winkler singt einen braven Buffo, bei dem nichts grotesk quiekt (wie bei Eugen Rex 1917). Und wenn Winkler im zweiten Akt als Frau verkleidet in den Harem eindringt und singt „Ich bin die Lilly vom Ballett und finde alle älteren Herrn so nett“, dann müsste das doch deutlich amüsanter sein als hier. In Freys Fall-Biografie sieht man ein Foto von Ernst Tautenhayn als Lilly in Wien 1916, und man merkt allein an der Pose, dem Dekolleté und dem Grinsen, das hier mehr drin steckt an Wirkung. Besonders in den im Falsett gesungenen Refrain-Passagen.

Warum man schließlich in München für die Sprechrolle des Kamek Pascha den Bariton Christof Hartkopf gewählt hat, der viel zu jung klingt und vor allem viel zu charakterlos (in der Sprechstimme), bleibt ein Rätsel. Und als reimender Schweizer Hotelangestellter (im 3. Akt) wirkt Michael Glantschnig in einer weiteren Sprechrolle wie eine Notlösung, nicht wie ein komisches Elementarereignis. Hat der Bayerische Rundfunk keine guten Sprecher mit Schwizerdütsch-Talent?

Auf der neuen Doppel-CD gibt’s genug Dialoge, um die Handlung detailliert verfolgen zu können, auch wenn sie wenig theatralisch vorgetragen werden. Immerhin lockern Live-Lacher des Publikums die Sterilität der Dialogszenen ab und zu auf (Dialogregie: Ralf Eger).

Von der Klangqualität ist diese Neuaufnahme jener von Werner Schmidt-Boelke dirigierten von 1966 weit überlegen, obwohl Elfie Mayerhofer als Kondja und Rudolf Christ als Achmed durchaus reizvoll sind. Die Gesamtaufnahme unter Franz Marszalek hat Fritz Wunderlich als Achmed und Gretel Hartung als Kondja. Ein wichtiges Zeitdokument, aber natürlich auch meilenweit entfernt von Massary-Tönen, von denen Oscar Bie im Berliner Börsen-Courier 1917 schrieb: „Wie sie dem Geliebten sich weigert, wie sie am Walzer erwacht, wie sie mit den Kindern wiesenthalhaft (aber viel besser) tändelt, wie sie Lebensfreude in zurückhaltender Lust ausstreut, das sind Momente unvergesslicher Gestaltungskunst.“

Um Die Rose von Stambul ohne „unvergessliche Gestaltungskunst“ kennenzulernen, ist diese neue cpo-Ausgabe perfekt. Dass Ulf Schirmer sich mit den Mitteln von BR Klassik und des Münchner Rundfunkorchesters so gar nicht um „Gestaltung“ schert in seiner Leo-Fall-Konzertreihe, kann man tragisch finden. Denn so schnell wird es sicher keine Neuaufnahme des Stücks geben, mit einem derart grandiosen Orchester. Kevin Clarke ǀ Operetta Research Center