Ein Leben lang Erste Geige

 

Eher ein Trachtenjanker als der feierliche Frack scheint zu dem freundlich-verschmitzt lächelnden Gesicht auf der Titelseite des Buches von Peter Brem, Ein Leben lang Erste Geige, zu passen, und so kontrastreich wie das Cover ist auch der Inhalt des Buches, das sich mit den höchsten und letzten Dingen der Musik in einer Art und Weise befasst, dass man es lesen kann wie einen spannenden Roman. 46 Jahre lang war der Münchner Mitglied der Berliner Philharmoniker, Teil einiger berühmter Kammerensembles und für einige Semester auch Lehrer an der Berliner Hochschule für Musik.

Wie ein Musikstück gegliedert ist die Autobiographie mit Kapiteln wie „Vorspiel“, „Auftakt“ oder „Punktierung“, nicht durchweg chronologisch aufgebaut, sondern dem Leser auch „Intermezzi“ anbietend und vor allem jedem, der eine Karriere als Musiker anstrebt, wertvolle Einsichten und Ratschläge vermittelnd. So mag es manchem Leser nicht schmecken, wenn er kategorisch erklärt: “Eine andere Methode funktioniert nicht“, und damit das kontinuierliche, von Vorlieben und Launen unabhängige ständige Üben und noch einmal Üben meint. Bei Brem führte das sogar so weit, dass er zunächst auf den Besuch des Gymnasiums verzichtete, um die Geige nicht zu kurz kommen zu lassen. Und seine Karriere wäre vielleicht anders verlaufen, wenn er sich nicht so vehement gegen ein Studium in der SU gewehrt hätte, denn an anderer Stelle stellt er fest, dass von dort vor allem zum Solisten ausgebildete, aber nicht Orchestermusiker kamen und kommen.

Höchst aufschlussreich ist der Bericht über das Vorspielen bei den Berlinern, deren besondere Organisationsform dem Leser ausführlich und nachvollziehbar geschildert wird, interessant sind die musikalischen Charakterbilder der Konzertmeister, so Michael Schwalbés, von Brandis, in dessen Quartett er jahrelang mitspielte, und von Spierer – Berliner Konzertbesuchern der letzten Jahrzehnte bestens bekannt. Brem scheut nicht vor gewagten Vergleichen zurück, wenn er schildert, dass ihm Karajan als Gott, Schwalbé als Petrus und der Rest des Orchesters als Engel vorkamen.

Der spezielle Klang der Berliner wird erwähnt, die Findung der Chefdirigenten Abbado und Rattle beschrieben und nicht nur deren spezielle Arbeitsweisen analysiert, sondern auch die von Maazel, Muti, Bernstein, Celibidache, Thielemann und vieler anderer Dirigenten, die mit dem Orchester arbeiteten. Dabei weist Brem mehrfach drauf hin, dass eigentlich bei der Wahl Abbados wie der Rattles eigentlich Daniel Barenboim sein Favorit war. Die Probenarbeit und Aufführungspraxis der drei Chefdirigenten, die er erlebte, wird miteinander verglichen, so die an Brahms‘ 3. Sinfonie. Ab und zu gibt es auch einen Einblick in Privates, so  das gemeinsame Kind von Abbado und Mullova betreffend.

Als jahrelanger Geschäftsführer kann Brem natürlich auch über Nichtkünstlerisches berichten, so darüber, dass die Philharmoniker eigentlich, wer hätte das gedacht, zu schlecht bezahlt wurden oder dass es feine Unterschiede zwischen dem Berliner Philharmonischen Orchester und den Berliner Philharmonikern gibt. Besonders hervorgehoben wird die Jugendarbeit von Rattle, der der Verfasser zunächst recht skeptisch gegenüber stand, und ein leiser Tadel schwingt in der Feststellung mit, dass der britische Dirigent trotz angeblichen Thomas-Mann-Lesens im Original die Proben nie auf Deutsch stattfinden ließ. Er befasst sich auch aufschlussreich mit der Frage, was einen „Superdirigenten“ ausmache, schildert die Aktivitäten der Philharmoniker anlässlich des Mauerfalls und setzt sich mit den atmosphärischen Strömungen im Publikum der Philharmonie auseinander. Als Revolutionär zeigt er sich in der Zusammenarbeit seines Orchesters mit den Scorpions unter Klaus Meine (gegen Abbados Meinung dazu), ebenso in seiner Bejahung der Einrichtung der Digital Concert Hall, die weit weniger umstritten war.

Aber nicht nur musikalische Höhenflüge, sondern auch ganz „Gewöhnliches“ beschäftigt ihn, so  die Hustengeräusche aus dem Publikum und die einheitliche Kleidung für nichtabendliche Auftritte, dunkelblaue Anzüge von Joop, die sich zu seinem Leidwesen bis heute bei den Damen im Orchester nicht durchsetzte.

Zu denken geben sollte manchem Musiker, wie strikt Brem persönliche Beziehungen zwischen z.B. Angehörigen eines Kammermusikensembles ablehnt, welche Schwierigkeiten die Aufführung von Opern, insbesondere des Rosenkavaliers, einem Orchester bereiten können. Nicht überraschend ist für den Leser, wie eng hingegen die Beziehung eines Musikers, vor allem eines Geigers zu seinem Instrument ist, und mit viel Anteilnahme wird er lesen, welche Bedeutung die vier Geigen Brems für ihren Besitzer hatten. Auch Niederlagen wie das vergebliche Bemühen um die Stelle des Konzertmeisters werden nicht verschwiegen, und manch kritischer Blick wird u.a. auf die Auswüchse des Artenschutzgesetzes geworfen, das die Mitnahme uralter Instrumente z.B. in die USA verhindert. So pessimistisch der Blick auf die Zukunft der zu zahlreichen Musikstudenten ausfällt, so optimistisch ist dieser, wenn der Verfasser auf seine nun nicht mehr beruflich, aber privat geübte Beschäftigung mit Musik richtet und damit den Leser in einer gar nicht pessimistischen Stimmung zurücklässt (260 Seiten, rororo 2016; ISBN 978 3 499 63141 2Ingrid Wanja