Der göttliche Antinoos

 

Die Geschichte ist filmreif. Oder auch opernreif. Wie man will. In die Literatur hat sie Einzug gehalten. Beispielsweise mit dem grandiosen Roman Mémoires d’Hadrien (in deutscher Übersetzung: Ich zähmte die Wölfin) der französischen Schriftstellerin Marguerite Yourcenar. Hadrian also, der Kaiser des römischen Imperiums (76 bis 138), das viel größer war als Europa, wie es sich heute darstellt, eingeschlossen die Gebiete der Türkei und Israels. Südlich nahm es den gesamten Norden des afrikanischen Kontinents ein, reichte bis weit nach Ägypten hinunter. Östlich des Bosporus, in der Provinz Bithynien, traf der damals mächtigste Mann der antiken Welt um 123 auf einen Knaben, nicht älter als zwölf, dreizehn Jahre. Der muss ihn fasziniert haben. Wie dieser Jüngling mit Namen Antinoos ins Machtzentrum Rom gelangte, ist nicht bekannt. Wurde er dort zunächst als Page ausgebildet? Fest steht, dass er zum Günstling und Begleiter Hadrians wurde, der als Reisekaiser galt und ständig in seinem riesigen Reich unterwegs war, um es zu befestigen und sein Fortbestand zu organisieren.

Auf einer dieser Reisen kam der zum jungen Mann herangewachsene Antinoos im Jahr 130 bei einer Fahrt auf dem Nil zu Tode. War es ein Unfall? Dagegen sprechen seine athletische Erscheinung und seine Sportlichkeit. Hat sich Antinoos geopfert, um bei den Göttern Lebensverlängerung oder Gesundung des alternden und kränkelnden Kaisers zu erwirken? Oder wurde er gar ermordet, weil er zuviel Einfluss gewann? Am Hofe dürfte die Beziehung des ungleichen Paares mit Argwohn verfolgt worden sein. Nach dem Tod des Antinoos verfiel Hadrian in tiefe Trauer, öffentlich und staatstragend ausgetragen. In Ägypten, nahe des Unglücksorts, wurde die Stadt Antinoopolis gegründet, deren Spuren längst verwischt sind. Astrologen wollen ein neues Sternbild entdeckt haben, das seinen Namen trägt. Verstreut über das ganze Imperium wurden Bildnisse zum Gedenken an den Toten aufgestellt. Der Antinooskult war geboren. „Neben den mehr als hundert Büsten und Statuen des Bithyniers, die sich erhalten haben“, kommen nach Angaben des Historikers Rainer Pudill „zahlreiche Münzportraits und Darstellungen auf Gegenständen der Kleinkunst, wie beispielsweise Kameen, Bronzen und auch Balsamarien“ hinzu. „Viele Bildnisse gleichen Antinoos durch Attribute dem Gott Dionysos (lat. Bacchus) sowie anderen Gottheiten an, die man mit Wiedergeburt und einem Leben nach dem Tod assoziierte.“ Nachzulesen in Pudills Buch Göttlicher Antinoos – Ein Idealbild jugendlicher Schönheit, 235 Seiten, reich bebildert, erschienen bei Battenberg (ISBN 978-3-86646-149-9). Der Autor gilt als ausgewiesener Experte des Themas. Im selben Verlag war zuvor schon sein Buch Antinoos – Münzen und Medaillons herausgekommen (ISBN 978-3-86646-113-0), das seinesgleichen sucht.

Rainer Pudill, der Autor der Bücher, ist promovierter  Chemiker. Er studierte erst nach Abschluss seines Berufslebens Alte Geschichte und Kunstgeschichte. Das Foto stammt aus seinem neuesten Buch.

Rainer Pudill hat erst nach Abschluss seines ersten Berufslebens als promovierter Chemiker und Umweltspezialist ein Studium der Alten Geschichte und Kunstgeschichte aufgenommen, das er mit dem Magistergrad abschloss. Es ist, als ob er seine Leser auf eine große Reise mitnimmt. Sie profitieren von seiner Entdeckerfreude. Sie ist ansteckend. Obwohl das Buch in Anlage und Akribie wissenschaftliche Kriterien erfüllt, will es vor allem neugierig machen und neue Sichtweisen auf den alten Gegenstand eröffnen. Mir hat es große Freude gemacht, diesem Historiker zu folgen, das eigene bescheidene Wissen einer strengen Prüfung zu unterziehen und viel dazu zu lernen. Pudill ist um Sinnlichkeit bemüht. Das ist eine der Stärken seines Buches. Deshalb wird es nie langweilig. In einem Ritt gelesen, bleibt es ein üppiges Nachschlagewerk, im Regal immer griffbereit. Es lässt sich auch gut darin blättern. Einen großen Teil der vielen Antinoos-Darstellungen hat er selbst an Ort und Stelle studiert und fotografisch erfasst. Seine Deutungen orientieren sich also am Original. Authentischer geht es nicht. Wer selbst schon vor diesem oder jenem Abbild stand, ob in Rom, Florenz, Paris, Kopenhagen, Delphi oder London, stellt schnell fest, dass der Autor sehr genau hingesehen hat. Weit davon entfernt, ein Touristenführer zu sein und sein zu wollen, sind die Ortsangaben und die Provenienz der einzelnen Fundstücke auf dem neuesten Stand. Insofern ist das Buch auch eine Art Update von Informationen, die ungeprüft und nicht selten auch äußerst vage durchs Internet geistern, wo Antinoos in Wort und Bild eine sehr große Trefferquote erzielt.

Es gibt eine vergleichsweise reiche Antinoons-Literatur. Der Autor hat sie im Anhang seines Buches aufgelistet. Ein Angebot, auf das auch Hobbyarchäologen dankbar zurückgreifen werden. Auf Seite 21 der Neuerscheinung ist Antinoos bereits nicht mehr am Leben. Pudill gibt den 24. Oktober 130 als den wahrscheinlichsten Todestag an. Er behauptet nichts. Das Buch ist keine Biographie. Nicht einmal ansatzweise. Es spürt – wie es der Untertitel verheißt – einem „Idealbild jugendlicher Schönheit“ nach. Dazu werden nicht nur die originalen Bildnisse herangezogen. Pudill hat auch die Nachwirkungen des Antinoos-Kultus bis in die Gegenwart untersucht und mit vielen Beispielen belegt. Eines der eindrucksvollsten findet sich in der Kapelle Chigi der römischen Kirche St. Maria del Popolo. Dort ist der Prophet Jonas, den ein Fisch verschluckte, auf dem Höhepunkt der Renaissance in Gestalt des Antinoos dargestellt. Blutjung und bartlos. Die Skulptur entstand um 1520 nach einer Zeichnung von Raffael. Von einer „Christianisierung“ des „kaiserlichen Lustknaben“ spricht der Historiker.

Antinoos (Tommy Wazelle) und Hadrian (Matthew Curran) in der Oper „Antinous and Hadrian“ von Clint Borzoni – hier in einer konzertanten Darbietung in New York. Das Foto ist ein Screenshot aus der im Netz veröffentlichten Szenenfolge.

Fast am Schluss des Buches kommt der Autor Rainer Pudill dann doch noch auf die Oper zu sprechen. Ja, es gibt sie also doch. Antinous and Hadrian haben der junge amerikanische Komponist Clint Borzoni und sein Librettist Edward Ficklin ihr Werk genannt. Zunächst wurde 2008 der erste Akt, ein Jahr später das um den zweiten Teil vollendete musikalische Drama als Projekt der „American Opera Composers“ im New Yorker Gershwin Hotel aufgeführt. Ein eher bescheidener und experimenteller Rahmen – und nicht die Met. Das Werk ist abendfüllend und in der Tradition der großen Oper gehalten – einschließlich Chorszenen. Es spürt dem Geheimnis nach, das sich hinter dem tragischen Ende des Günstlings des Kaisers verbirgt. Auf seiner Seite im Netz hat der Komponist Auszüge mit Klavierbegleitung zugänglich gemacht, die nachgehört werden können. Rüdiger Winter

 

Das Foto oben zeigt den Kopf einer lebensgroßen Statue des Antinoos. Sie wurde 1894 in der Nähe des Apollontempels von Delphi gefunden und zählt zu den schönsten Darstellungen des Jünglings. Zu besichtigen ist die Statue im Archäologischen Museum der antiken griechischen Stadt. Sie wird auch im Buch „Göttlicher Antinoos“ ausführlich behandelt. Foto: Winter