Nur bedingt französisch

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Für die Italiener ist sie L’altra Lucia, für alle anderen Lucie de Lammermoor, die 1839 in Paris uraufgeführt wurde, nachdem  vier Jahre zuvor die italienische Lucia in Neapel zum ersten Mal gespielt  worden war, die man 1837 auch in Paris hatte bewundern können. Bei Lucie de Lammermoor handelt es sich um eine vereinfachte und leicht verkürzte Fassung der Lucia, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein könnte, dass es sich bei aufführenden Théâtre de la Renaissance um ein relativ kleines Haus handelte, das wohl auch nicht einmal das sonst obligatorische Ballett zu stemmen konnte. Die augenscheinlichsten Veränderungen gegenüber Lucia sind das Auftreten des Arthur bereits im ersten Akt, der Wegfall der Alisa  und der von Regnava nel silenzio zugunsten der Cavatine aus Rosamonda d‘Inghilterra , mit der auch die düstere Erzählung vom Ende der Ahnin entschwand. Allerdings hatte die Lucia von 1837, Fanny Persiani, bereits zugunsten der Rosamonda votiert. Eine weitere Änderung ist beim Charakter des Raimondo festzustellen, der als ausgemachter Fiesling wenn auch mit stark gekürzter Rolle erscheint, so dass Lucie anders als Lucia jeglichen Beistands entbehrt, von Anfang an vom Wahnsinn bedroht erscheint.

Es ist ein Verdienst der alljährlichen Festwochen im Herbst in der Donizetti-Stadt Bergamo, auch immer ein unbekanntes, vergessenes oder sonst nicht populäres Werk des Sohnes der Stadt aufzuführen und zumindest teilweise jungen Kräften anzuvertrauen. 2023 war das Lucie de Lammermoor mit dem Orchestra Gli Originali, die , wie der Name verrät, auf alten Instrumenten spielen. Auch der Chor, Coro dell‘ Accademia alla Scala steht in dieser Tradition. Ersteres stellt unter  Pierre Dumoussaud die Kontraste im mit dem der italienischen Fassung nicht nur ähnlichen Sinfonia  klar heraus, klingt also eigentlich sehr italienisch, während der Chor in der Einstudierung von Salvo Sgrò sich redlich mit dem Französischen müht. Musikalisch lässt er kaum Wünsche offen.

Auf jeden Fall vorzuziehen ist die nur akustische Aufnahme (als Soundtrack der vorangegagenen DVD), denn die wenigen Fotos im Booklet zeigen Gräuliches wie das Sterben Egards in einem Autowrack oder eine Lucie, die nicht nur den Bräutigam, sondern gleich die ganze Hochzeitsgesellschaft unter dem Messer gehabt zu haben scheint, so sehr ist sie über und über mit Blut bedeckt. Auch scheint es sich in Bergamo nicht um eine Familienfehde, sondern um einen Rassenkonflikt zu handeln.

Die Sängerin der Lucie, Caterina Sala soll sich zwei Jahre lang mit dem Studium ihrer Rolle befasst haben. Umso tragischer, dass sie ausgerechnet bei der Premiere indisponiert war, die Vorstellung abbrechen und eine Kollegin von der Seite her weitersingen musste. Die Aufnahme stammt vom 1. Dezember 2023, als sich der Sopran der Aufgabe in besserer, wenn auch nicht optimaler Verfassung stellen konnte.  Immerhin klingt die Stimme jung, frisch, sehr empfindsam und nach der erzwungenen Eheschließung  wie gefrostet, manchmal angestrengt und spitzig, aber auch sich überaus vielen Verzierungen stellend, sie teilweise, so auch die nicht von Donizetti stammende, sehr anspruchsvolle Kadenz  meisternd und insgesamt sicherlich so interessant, dass man sich auf weitere Auftritte von ihr freuen kann. Der Edgar von Patrick Kabongo singt mit einem kräftigen Tenor ohne Glanz, ständig  a squarciagola und mit anfechtbarer Diktion. Einen markanten Bariton setzt Vito Priante für den Henri ein, eine sichere Höhe und gute Phrasierung. Arthur ist als einziger Francophoner Julien Henric und hört sich wesentlich edler und empfindsamer an als der Gilbert von David Astorga. Wenig zu singen hat der Raimond von Roberto Lorenzi, aber was man hört, das kann durch schönes Timbre und Präsenz überzeugen.

Die CDs vermitteln eine interessante Erfahrung und die Begegnung mit einer noch interessanteren Sängerin , um zu einem Erlebnis einer französischen Oper zu werden, sind die Mitwirkenden nicht einheitlich und intensiv genug  in diesem Metier geschult (Naxos 8.660578-79). Ingrid Wanja    

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Wobei man ehrlicherweiswe auch auf die beiden wirklich idiomatischer besetzten Aufnahmen mit   Roberto Alagna, Ludovic Tézier und Patrzia Ciofi als DVD  und auf die darauf folgende mit Alagna, Tézier und Natalie Dessay als CD beide bei EMI/Warner hinweisen muss; aus vertraglichen Gründen konnte die Dessay in Lyon nicht auftreten, die Aufnahme wurde auch im Fernsehen gezeigt. G. H.