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Zum Bizet-Jubiläum (Georges Bizet gest. 1875) ist jetzt beim Label Erato auf 16 CDs eine Jubiläumsbox erschienen. Bizet gilt ja den meisten „nur“ als Komponist der einen Oper: Warum ist sein Hauptwerk, die Carmen, so erfolgreich und verdrängt sie die Kenntnisse seiner anderen Werke? Das ist gar nicht einfach zu beantworten. Ich orientiere mich da immer an einen sehr klugen Satz von Tucholsky, wenn ich selber hilflos bin, der mal gesagt hat, im Zusammenhang mit einem berühmten Roman, bei ganz großen Erfolgen sollte man gar nicht so sehr aufs Werk gucken, sondern eher aufs Publikum, also auf den Rezipienten, und den analysieren, warum der das eigentlich gut findet. Und das passt ja eigentlich auch ganz gut. Wenn man genauer hinguckt: Die Hits stecken ja eher alle in der ersten Hälfte. Und dann wird es auch sehr düster in dem Schmugglerbild. Der Schluss ist ziemlich brutal und so. Es ist jetzt eigentlich gar nicht die typische Publikumsoper, aber vielleicht steckt ja auch was Atavistisches in dem Stück, das uns anspricht. Liebe, Eifersucht, Verbrechen und das alles aber auf einem hohen Niveau, auf sehr raffinierter Art und Weise, musikalisch, Schmuggel, Brutalität. Das sind ja auch Themen, die die Massenmedien bis heute beschäftigen. Seit 200 Jahren kann man sagen. Und das bewegt uns heute auch noch. (Ein Artikel zur „Ur-Carmen“, wie sie Bizet eigentlich wollte, folgt zeitnah in diesem Jahr).
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Die Erato-Edition ist ein ganz gewichtiger Würfel, auch schön gestaltet auch. Aber Warner/Erato bringen ja in diesen Editionen in der Regel nichts Neues, sondern Best-Offs der Vergangenheit. Da steht zwar Erato drauf, da ist aber Warner drin. Das heißt im Grunde ist das ein Archiv, das Warner gekauft hat von der EMI und allem, was an der EMI dranhing. Da gab es noch kleinere Labels, eben wie Erato und Virgin Classics. Warner hat 2012 dies Riesenarchiv gekauft.
Ich liebe diese Editionen, weil es ein fantastisches, großes Archiv ist, wo tolle Sachen drin sind. Und dann sind die aber auch, und das ist ja auch wichtig, immer gut oder fast immer gut kuratiert. Und auch haptisch immer sehr elegant gemacht mit schönen Covers, meistens auch aus der Zeit des Komponisten, wo man dann so Gemälde verwendet aus der Zeit. Es gibt auch, muss man ehrenhalber sagen, aufwendigeres und noch eleganteres auf dem Markt, aber dann wird es auch teurer. Und hier hat man immer so ein gutes Verhältnis von Preis und Leistung. Aber die Auswahl in dieser Box ist auch verwirrend, weil nicht immer nachvollziehbar.
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Es gibt sehr viele Aufnahmen der Oper Carmen. Welche ist hier drin? Gleich zwei, zu Recht, denn es gibt ja zwei Versionen. Eine mit Dialogen und eine mit Rezitativen. Und hier hat man sich entschieden die Dialogfassung 1875 mit Simon Rattle am Pult und Magdalena Koszena sowie Jonas Kaufmann zu nehmen. Als Rezitativfassung hat man sich für eine populäre entschieden, nämlich die mit Callas und Gedda. Das finde ich nicht so überwältigend. Die Callas ist längst jenseits ihrer guten Tage und Gedda wirkt recht trocken im Ton. Die alte mit Cluytens hat einfach mehr Schmiss, und auch sonst hatte der Emi-Verbund mehr zu bieten. Zumals die Callas-Aufnahme ja noch einzeln zu haben ist.
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Neben den beiden Carmen-Aufnahmen bleiben noch ein paar CDs übrig. Da gibt es, ganz spannend, ein rares Fragment, das nicht fertig geworden ist. Ivan V. hört man hier in einem recht antiken Querschnitt des französischen Rundfunks mit Jeannine Michau – immerhin. Und natürlich fehlt nicht die zweitbekannteste Oper, die Pêcheurs de Perles (Hendricks & Aler, da wäre die mit Vanzo & Cotrubas sehr viel netter gewesen, zumal weil damals nach der neues Edition dies eine Sensation war und sie seit langem vergriffen ist)
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Und als drittes beigelegt, zu meiner großen Freude, ist eine Oper, La jolie Fille de Perth, von der es nur ganz wenige Gesamtaufnahmen gibt, wenn überhaupt. Und sie wird auch extrem selten gespielt. Auch unter Prêtre, wie die Aufnahme der Callas, allerdings viel später in den 80ern aufgenommen, lange vergriffen, auch mit bekannten Sängern dabei wie (der recht trockene und wenig jugendliche) Alfredo Kraus, José van Dam und (leider die intonations-problematische) June Anderson. Toll, dass das Mädel aus Perth in dieser Box jetzt wieder da ist. Von der musikalischen Qualität her finde ich die Oper ziemlich nah an der Carmen. Sie ist viel dichter, lyrischer, geschlossener als zum Beispiel die Perlenfischer, die für mich immer so ein bisschen erratisch wirken und auch ihre anämischen Momente haben. La jolie Fille de Perth ist eine Liebesgeschichte nach Walter Scott. Hoch inspiriert, finde ich. Ein Einfall jagt den nächsten. Und es ist für mich immer ein Rätsel, warum wir diese Oper nie zu sehen bekommen oder zu hören.
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Wie gut ist eigentlich das Gesamtwerk mit dieser Box dokumentiert? Bekommt man einen guten Überblick über sein Schaffen? Eigentlich nicht. Das wird hier aber, glaube ich, gar nicht erst angestrebt. Es bleibt ein Griff in die Kiste des Emi-Verbundes. Die Frage ist vielleicht auch: Muss das unbedingt sein? Eine Würdigung seines Gesamtschaffens gehört, finde ich, eher in den akademischen Bereich. Nicht alles, was Bizet gemacht hat, ist auch auf ganz hohem Niveau. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Bizet ganz früh gestorben ist. Er ist ja nur 36 Jahre alt geworden. Und vieles, was wir von ihm haben, sind eben auch tastende Versuche, Wettbewerbsbeiträge, Gelegenheitsarbeiten. Die findet man in einer größeren Edition vom Palazzetto Bru Zane, wo man viel Unbekanntes hört, was bis vor kurzem kaum bekannt gewesen.
Aber eben vieles von Bizet, was wirklich gut ist, bringt diese Box doch in einer passablen Bandbreite, eben auch Lieder, seine Kantate Clovis und Clotilde und natürlich auch die beliebten Suiten wie Jeux d´enfants oder die L´Arlésienne. Und es gibt auch Historisches? Das ist dankenswerter Weise so ein Standard bei diesen Komponistenporträts, bei diesen Boxen von Warner, geworden, dass sie da immer auch historische Schätze dazulegen. Zwei, drei CDs werden dafür dann immer reserviert. So auch hier wieder. Da finden sich zum Teil wirklich himmlische Sachen dabei, auch schrille, Aufnahmen aus den Jahren von 1903. auch aus 1943 (Brohly, Beyle, Calvé, de Lucia, Huguet, Minghini Cattaneo, Thill natürlich und Gigli). Und zu entdecken ist zum Beispiel ein Carmen Potpourri für die Schellack-Platten, extra dafür 1930 komponiert (Waxmann). Der wäre natürlich längst vergessen, würde hier nicht überraschenderweise ein ganz großer Dirigent am Pult stehen, nämlich John Barbirolli. Mit einem rätselhaften Instrument, fast wie ein Harmonium. Es könnte auch eine zittrige Oboe gewesen sein. Vielleicht nicht das beste Orchester, aber wirklich toll gemacht. Dazu interessante Arrangements von Guiraud, Kolpiloff, Rachmaninoff, Ducros und Tharaud.
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Es gibt jedoch ein paar Kompositionen Bizets, die mir in dieser Box fehlen. Ein paar empfindliche Lücken hat das Ganze schon. Die klaffen aber auch deswegen, weil Warners Archiv nicht alles besitzt. Vielleicht hätte man von anderen Firmen einiges ausborgen können. So z.B. eine wunderbare Klaviertranskription des Don Giovanni. Die ist hier nicht dabei. Und was ich vermisse, sind die schönen Operneinakter, so den Docteur Miracle oder Djamilé. Aber wer das haben will muss sie eben woanders suchen (Abbildungen: Ansicht auf Arles/Wikipedia; „La joilie fille de Perth“/zeitgenössische Illustration/Palazzetto Bru Zane). M. K./G. H.
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Georges Bizet (1838-1875). Mit June Anderson, Montserrat Caballe, Maria Callas, Dietrich Fischer-Dieskau, Nicolai Gedda, Barbara Hendricks, Jonas Kaufmann, Magdalena Kozena, Alfredo Kraus, Genia Kühmeier, Janine Micheau, Michel Roux und weiteren.
Orchesterwerke: Symphonie C-Dur; Ouvertüre A-Dur; Trauermarsch h-moll; La Jolie Fille de Perth-Suite; Orchestersuite Nr. 3 „Roma“; Jeux d’enfants-Suite op. 22; Les quatre Coins; Dramatische Ouvertüre „Patrie“; L’Arlesienne-Bühnenmusik; L’Arlesienne-Suiten Nr. 1 & 2; Carmen-Suiten Nr. 1 & 2
+Jeux d’enfants-Suite op. 22 für Klavier 4-händig
+Lieder & Chorwerke: Kantate „Clovis et Clotilde“; Pastorale; Ouvre ton coeur; Adieu de l’hotesse arabe; Feuilles d’album Nr. 3 & 5; La Chanson du fou; Agnus Dei nach dem Intermezzo aus L’Arlesienne-Suite Nr. 2
+Opern: Les Pecheurs de Perles; Ivan IV; La Jolie Fille de Perth; Carmen (in zwei Versionen)
+Bizet-Arrangements – Pablo de Sarasate: Carmen-Fantasie op. 25 für Violine & Orchester / Franz Waxman: Carmen-Fantasie für Trompete & Klavier / Habanera aus Carmen für Cello & Orchester / Carmen-Potpourri; Adagietto & Minuetto aus L’Arlesienne für Klavier
+Historische Aufnahmen 1903-1943 – Symphonie C-Dur; Dramatische Ouvertüre „Patrie“; Jeux d’enfants-Suite op. 22; Roma-Suite (Auszüge); La Jolie Fille de Perth-Suite; L’Arlesienne-Bühnenmusik; Carmen-Suite Nr. 1; Carmen (Auszüge); Les Pecheurs de Perles (Auszüge)
Künstler: June Anderson, Montserrat Caballe, Maria Callas, Dietrich Fischer-Dieskau, Nicolai Gedda, Barbara Hendricks, Jonas Kaufmann, Magdalena Kozena, Alfredo Kraus, Genia Kühmeier, Janine Micheau, Michel Roux, Jose van Dam, Michel Beroff, Jean-Philippe Collard, Michel Dalberto, Alexandre Tharaud, Gautier Capucon, Itzhak Perlman, Berliner Philharmoniker, Liverpool Philharmonic Orchestra, London Philharmonic Orchestra, Nouvel Orchestre Philharmonique, La Scala Orchestra, Orchestre de Chambre de Paris, Orchestre de l’Opera National de Lyon, Orchestre de Paris, Orchestre National du Capitole de Toulouse, Orchestre National de France, Orchestre National de la RTF, Orchestre National de Lille, Orchestre Symphonique de Paris, Orchestre de l’Opera Royal, Royal Philharmonic Orchestra, Daniel Barenboim, John Eliot Gardiner, Paavo Järvi, Seiji Ozawa, Michel Plasson, Georges Pretre, Simon Rattle, Georges Tzipine.
Erato 16 CDs.
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Aufnahmejahr ca. 1903-2012/ Erscheinungstermin:/ 23.5.2025/ Quelle cpo