Dorfszenen im Abendkleid

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Eine neue Jenufa hat Simon Rattle vorgelegt. Erschienen ist sie bei LSO, dem Eigenlabel des London Symphony Orchestra (LSO 0897). Vorangegangen waren mit Katya Kabanova und Das schlaue Füchslein zwei weitere Opern von Leos Janacek. Es steht zu erwarten, dass die Reihe fortgesetzt. Rattle hat dem Komponisten in jüngster Zeit mehr und mehr Aufmerksamkeit gewidmet, in der Staatsoper München sogar die selten gespielten Ausflüge des Herrn Broucek geleitet. Jenufa wurde bei zwei Konzerten am 11. und 14. Januar 2024 in der Barbican Hall in London mitgeschnitten. Diese gehört mit ihren fast 2000 Sitzplätzen zum einem großen Kultur- und Konferenzcentrum im Osten der City und ist Sitz des London Symphony Orchesters.

Auf dem Konzertpodium sind dem Werk gewisse Grenzen gesetzt. Die dramatischen Beziehungen zwischen den handelnden Personen können sich nicht so ausleben wie im Opernhaus. Tages- und Jahreszeiten spielen eine Rolle. Chöre treten nicht als Beiwerke sondern als Teil des Geschehens in Erscheinung. Ein kleines mährisches Dorf um die Jahrhundertwende mit seinen Bewohnern wird zur Bühne für Welttheater der ganz großen Gefühle zwischen Sehnsucht und Abgrund. Manche Momente verlangen nach dem bewegte Bild in einer szenischen Umgebung, um glaubhaft zu werden. Im Booklet finden sich Fotos von der Veranstaltung. Die Damen in langen Abendkleidern, die Herren in Anzügen mit Krawatten. So läuft in der Oper Jenufa niemand herum. Obwohl der Klang insgesamt sehr gut eingefangen ist, fehlt es vor allem in der großen mit Tänzen versetzten Chorszene im ersten Aufzug an räumlicher Präsenz. Die Wiedergabe wird dann etwas eng. Und, man muss das Werk sehr genau kennen, um an Lautsprechern oder unter Kopfhörern folgen zu können. Gesungen wird im originalen Tschechisch. Im Booklet gibt es zusätzlich nur eine englische Übersetzung. Wer eine deutsche Fassung benötigt, wird zum Beispiel bei Reclam fündig. Das Orchester selbst lässt nichts zu wünschen übrig. Rattle holt wunderbare Details heraus und spürt den volksliedhaften Inspirationen nach. Man könnte schwören, diese und jene Streicherklänge so noch nie gehört zu haben.

In der Sängerriege gibt es nur zwei Muttersprachler: den Tenor Ales Briscein als Laca und den Bass Jan Martinik als Altgesell und Dorfrichter. Wie bei konzertanten Aufführung nicht unüblich, übernehmen Sänger kleinerer Partien gleich mehrere Rollen. Übersichtlicher wird es dadurch allerdings nicht. Alle andere müssen sich in das schwierige tschechische Idiom finden, haben aber – wie auf den Fotos ersichtlich, auf Pulten für alle Fälle die Noten mit den Texten vor sich. Aus Schweden kommen Agneta Eichenholz (Jenufa) und Katarina Karneus (Küsterin). Beide sind den Jahren im wirklichen Leben nach, nicht weit entfernt, klingen manchmal in der Mittellage sogar etwas ähnlich. Der Interpretin der Titelrolle wird aber auch nichts geschenkt vom Komponisten. Insofern kann es nicht schaden, dass die Sängerin keine Anfängerin ist sondern viel Erfahrung mitbringt. Die Großmutter ist die Engländerin Carole Wilson, Steva der schottische Tenor Nicky Spence.

Dem Ensemble gelingt es in den entscheidenden Momenten, die strenge Distanz zwischen Podium und Bühne zu überwinden und das Drama zumindest stimmlich äußerst wirksam und glaubhaft darzustellen, als stünde es in der Kulisse. Der zweite Akt mit den großen Soloszenen der Küsterin und ihrer Ziehtochter Jenufa sowie den aufeinanderfolgenden Auftritten von Steva und Laca, die in ihrer charakterlichen Unterschiedlichkeit großen Eindruck hinterlassen, wird zum Höhepunkt des Mitschnitts. Dabei schlägt die Stunde der Wahrhaftigkeit, nicht nur des Schöngesangs (Foto oben: Hochzeitsort Niedersachsen – Wassermühle in Hude). Rüdiger Winter