Großgewachsen ist sie, blond und schön – beim ersten Treffen auf der Geburtstagsfeier von Freunden in Berlin fallen einem sofort diese Merkmale von Edith Haller auf, auch ihre interessante, erotisch-dunkle Sprechstimme, das ansteckende Lachen, die bewegliche Mimik und natürlich die Hände in der Luft. Aber angesichts von Statur und blonden Haaren denke nicht nur ich an Wagners Heldinnen – Senta, Elsa, Elisabeth und natürlich die Isolde. Die hat sie gerade zum zweiten Mal in Lübeck gesungen hat, als wir sie – Geerd Heinsen und Rüdiger Winter von Operalounge – beim Gespräch in Berlin wiedersehen. Da ist sie immer noch so beeindruckend in ihrer Natürlichkeit, nun aber sehr konzentriert in den Antworten, auf den Punkt, wortreich aber nie wortverliebt. Eben eine direkte, intelligente und beeindruckende Gesprächspartnerin, die sich zu ihren Rollen und ihrem Gesang einen Kopf macht und erfrischende eigene Ansichten hat.
Warum singt sie eigentlich, was gibt ihr der Gesang? Ich komme aus einer großen Familie in Südtirol, wo absolut jeder etwas mit Musik zu tun hat und wo wir als Kinder schon gesungen haben, ob in der Kirche oder für uns selber oder bei Feiern. Der Vater spielt die Zither, die Mutter Gitarre, alle meine fünf Geschwister haben etwas mit Musik zu tun, spielen Instrumente oder unterrichten Musik und sind dazu noch mit Musikern verheiratet. Insofern war Singen etwas ganz Natürliches für mich. Ich bin zwar als Grundschullehrerin ausgebildet, aber das Singen ergab sich einfach. Meine Lehrer fanden das, denn ich sang immer mehr Soli bei unseren Chören. Und dann war ich verrückt genug, mich beim Salzburger Mozarteum zu bewerben. Was für ein Wahnsinn – wirklich. Ich wurde zum Vorsingen angenommen, sang nur zwei Stücke vor, hatte eigentlich von der verlangten Theorie keine Ahnung, mir nur die Grundkenntnisse vorher eingebüffelt – und wurde genommen. Es war meine spätere Lehrerin Eva Illes, die das Potential in mir erkannte und es anschließend ziemlich erbarmungslos förderte, wofür ich ihr ewig dankbar bin. Singen ist für mich ein MUSS. Ich freu mich morgens auf den Auftritt am Abend. Und als ich einmal – was mir sonst nie passiert – eine Kehlkopfentzündung hatte und für ein paar Tage pausieren musste, fühle ich mich so depressiv, weil nicht sprechen und nicht singen konnte.
Ohne Technik geht nichts, absolut nichts. Aber sie darf sich nicht in den Vordergrund schieben, nicht verselbständigen. Sie muss wie ein Autopilot funktionieren. Ich darf mir keine Gedanken machen über eine hohe Note, die auf mich zukommt. Wenn ich auf die Bühne gehe, bin ich einfach sicher und kann mich auf die Handlung, die Requisiten, die Regie oder den Partner konzentrieren, denn für mich ist Singen Teamwork, wir singen ja in Gruppe und nicht ich alleine vorne an der Rampe. Ich kontrolliere vor meinem Auftritt die Bühne, ob alles so ist, wie wir es geprobt haben. Man kann ja beim Singen selbst dem Requisiteur keinen Vorwurf mehr machen, wenn etwas fehlt – das ist wie alles andere, in eben diesem Moment die eigene Verantwortung. Ich bin für meinen Auftritt selber verantwortlich, für meine Leistung ebenso wie für mein Aussehen oder für meine Umgebung. Natürlich ist das bei manchen Inszenierungen schwierig, wenn ich mich sehr anpassen muss an ein Konzept, das nicht unbedingt mein eigenes ist. Aber ich versuche immer, mich in die Regie hineinzudenken, probiere sie für mich aus, ganz selten sage ich nein, wenn ich bestimmte Bewegungen nicht machen kann oder wenn sie gegen die Musik laufen. Für mich ist entscheidend, dass die Musik respektiert wird. Für alles andere finden sich Kompromisse. Ich erinnere mich an meine Elettra in Idomeneo, als ich bei meiner großen Arie eine Leiter hinaufklettern musste und dann am Ende hinten rüber fiel – angeschnallt natürlich. Wahnsinn! Möglich ist mir mein Beruf nur in meiner Rückbesinnung auf meine Wurzeln, auf meine Herkunft – ich bin eingebunden in meine große und prachtvolle Familie, wo ich nur Tochter oder Schwester oder Tante bin und nicht Künstlerin, wo ich ganz normal behandelt und nicht als Weltwunder bestaunt werde. Mein Mann und ich, wir haben ein ganz normales Leben. Und wenn es die Zeit erlaubt, dann singe ich immer noch im Kirchenchor ein Soli. Diese natürliche Beziehung zu meiner Südtiroler Heimat ist mein Stabilitätsfaktor, meine Erdung, meine Grundierung.
Annäherung an eine Rolle? Ich suche in jeder Rolle, was sich darin von mir selbst findet. Ich bin eine emanzipierte Frau und habe vielleicht Probleme mit passiveren Partien wie Desdemona, deren Charakter auf den ersten Blick nicht wirklich etwas mit mir zu tun hat. Aber auch da hab ich lange in mich hineingedacht. Desdemona ist ein sehr behütetes, unschuldiges, fast naives junges Mädchen, das ihren Vater und Otello belauscht hat, als dieser von den Qualen in seiner Gefangenschaft erzählt. Es ist das Mitleid, das ihre Liebe weckt, und damit kann ich mich identifizieren, mit diesem starken Gefühl der Hingebung und des Erbarmens. Und so finde ich in solchen Facetten meiner Rollen, deren Text (vor allem im deutschen Repertoire) sehr altbacken erscheinen mag, die eigentlichen Triebfedern, die Gefühle, die zu den Konflikten führen und in die ich einsteigen kann. Wagner singt sich zwar wunderbar, aber vielleicht singen sich italienische Opern am Ende doch besser, weil der Text so fließt, mit der Musik läuft (wie ja auch die Musik der italienischen Opern die Stimme wie ein Teppich trägt, eben anders als im Deutschen, namentlich bei Wagner, der die Stimme wie ein Instrument innerhalb des Ganzen behandelt und man schon zu tun hat, dass man gehört wird. Und man muss eben auch diese Partien mit den eigenen Möglichkeiten singen. Ich bemühe mich sehr, das „Jugendliche“ im Dramatischen zu behalten, nicht zu drücken, frisch und kraftvoll, aber nicht laut um jeden Preis zu singen, die Partien mit meinen Mitteln anzugehen und auszuleben.
Und eben Wagner nach einem so vielseitigen Beginn? 2003 erster Preis beim Wettbewerb Mario Lanza in Filignano, dann dicht auf dicht Engagements in Salzburg, Prag und Ljubljana, von 2002 bis 2005 Ensemblemitglied in St. Gallen, von 2005 bis 2009 am Staatstheater Karlsruhe, wo Edith Haller ihr Repertoire lernte, von der Senta bis zur Euryanthe. Von 2006 bis 2010 gastierte sie in Bayreuth als Freia, Helmwige, 3. Norn und Gutrune sowie 2010 als Sieglinde, die sie inzwischen weltweit singt. Von da an gings rasend schnell – Senta in Leipzig, Agathe und Gutrune in München und Hamburg, Elsa an Covent Garden, Tannhäuser-Elisabeth am Real in Madrid und Eva in Hamburg und Zürich, Fidelio in Klagenfurt, Euryanthe in Karlsruhe, Konzerte mit Christian Thielemann in München, Sieglinde erneut in Wien, im Herbst 2010 Chrysothemis in Köln, Eva konzertant unter Marek Janowski in Berlin, Sieglinde in Essen, Chrysothemis in Montpellier und so weiter bis zur Isolde in Lübeck, mit der wir angefangen hatten. Nun also Wagner!
Wagner ist eine Sache für sich. Die Stimme fließt und fühlt sich in der Musik und vor allem bei den Texten zu Hause. Irgendwie bin ich mit der Isolde angekommen, wo ich sein wollte. Früher, auf der Schule, sprachen wir über unsere Zukunftspläne. Die Jungs sagten: Ich will das und jenes machen und viel Geld verdienen. Ich wollte etwas, das mich zufriedenstellt, also Qualität statt Geld. Nicht, dass mir Geld nicht wichtig wäre, das wäre ja töricht, aber ich fühle mich in meinem Singen so unendlich wohl, bin darin eins mit mir. Ich studiere meine Partien inzwischen mit meiner wunderbaren Lehrerin Lieselotte Hammes, weiß, dass ich darin sicher bin, gehe auf die Bühne und lebe dort. Die Rolle der Isolde ist ein großer Brocken, weil sie auch so lang ist, wirklich auch eine sportlich-physische Leistung verlangt. Aber wenn alles gut geht, wenn alles in mir versammelt ist, dann ist es eine Wonne, diese Partie zu singen. Die ersten beiden Akte sind sehr anstrengend, zumal in Lübeck, wo ich keinen Moment von der Bühne komme.
Dann geh ich danach in meine Garderobe und schaue mir bis zu meinem Auftritt im 3. Akt nochmals die Noten an, konzentriere mich auf das vor mir Liegende. Und dann kommt dieser herrliche Liebestod – was kann es Schöneres geben? Ich denke, ich habe in Wagner meine musikalische Heimat gefunden – irgendwie sind seine Partie wie die Zusammenfassung dessen, was ich vorher gemacht habe. Sicher, ich will nicht nur auf diese Partien festgelegt sein und freue mich auf die Fledermaus in Wien, weil die Operette, die ich ja auch reichlich gesungen habe (neben Fledermaus Czárdásfürstin und Lustige Witwe) mir das Leichte, etwas Frivole und eben Heitere ermöglicht, was ganz sicher einer starken Seite in mir entspricht. Und ich liebe Operette, die zu Unrecht einen schlechten Ruf bekommen hat. Aber Wagner und nun die Isolde sind eben die Summe meiner bisherigen Tätigkeit. Und vor allem die Isolde war die größte Herausforderung. Ich bin gerade auf dem Weg nach Moskau, wo ich sie als Gast in einem russischen Ensemble singen werde. Dann sollte diese Rolle etwas zur Ruhe kommen, sie muss sich setzen und von mir Besitz ergreifen, reifen wie ein guter Wein – und wir Südtiroler verstehen etwas von guten Weinen!