.
Auch ohne den vom Librettisten und Komponisten Arrigo Boito nicht mehr fertiggestellten fünften Akt ist man beinahe erschlagen von den mit Hilfe von Freunden des Musikers fertiggestellten vier Akten der Monumentaloper Nerone, deren Titel fast nicht mehr der zutreffendste ist, denn das Werk würde mit einer ausgedehnten Liebesszene zwischen den beiden Christen Rubria und Fanuél enden, käme nicht noch ganz zum Schluss der römische Kaiser auf die Bühne, wenn auch nur, um den ihn stets begleitet habenden wunderschönen Jüngling zu erstechen.
Jahrzehntelang am Werk abgearbeitet hatte sich der auch als Verdis Librettoschreiber bekannte Boito an dem komplexen Stoff, wie bereits bei dem ungleich erfolgreicheren Mefistofele einen Bösewicht in den Mittelpunkt der Handlung stellend, aber anders als bei diesem nicht mit Schlagern wie „Dai campi, dai prati“ oder „L’altra notte in fondo al mare“ den Ohren schmeichelnd, sondern eher einen deklamatorischen Stil bevorzugend, erst in besagtem Liebesduett werfen Erinnerungen an das frühere Werk geweckt. Neben den Antagonisten Nerone und Fanuél tritt als dritte männliche Figur der erste Häretiker des Christentums, Simon Mago, auf, auf den bekanntlich der Begriff Simonie für Ämterkauf zurückgeht, die weiblichen Protagonisten sind die Nero in Liebe zugetane Asteria, die zum Christentum übertritt, und die von Nerone einst vergewaltigte Vestalin Rubria, die diesen Schritt ebenfalls vollzieht. Den Hintergrund bildet die hier von Simon veranlasste, von Nerone aber gebilligte Vernichtung Roms durch den bekannten Brand. Der Diktatur will zum Gründer eines noch prächtigeren, noch gewaltigeren Roms werden. Akustisch endet die Aufführung mit einem auch aus einer anderen, weit bekannteren Oper vertrauten „Pace, pace, pace“, gesungen von der Nun-auch-Christin Asteria.
War man bereits seit Jahren von Bewunderung erfüllt für den Mut des Opernhauses von Cagliari, unbekannte Werke nicht nur aus dem italienischen Repertoire dem Publikum vorzustellen, zuletzt Cileas Gloria mit Anastasia Bartoli in der Titelpartie, so kann man zusätzlich noch hoch erstaunt darüber sein, welchen ungeheuren Aufwand das Haus mit aufwändigsten Kostümen, Kulissen, Personal betreibt, so dass man stellenweise an Hollywood denken könnte, wäre nicht alles auch von einem exquisiten Geschmack bei aller überborenden Üppigkeit (Bühne Tiziano Santi, Kostüme Claudia Pernigotti). Da schreckt man weder vor Bellezza noch vor Grandiosità zurück, wagt einen eindrucksvollen Kontrast zwischen Antikisierung und Modernität, so dass Nero links nach altrömischer, rechts nach Art des Risorgimento gekleidet ist, und wahrt doch eine sängerfreundliche Inszenesetzung (Regie Fabio Ceresa) für die Interpreten anspruchsvollster Partien. Das inszenatorische Augenzwinkern mildert auch das teilweise unangenehme Pathos des Librettos etwas.
Auch in Italien und für ein dort heimisches Werk kommt man nicht mehr mit nur einheimischen und damit muttersprachlichen Sängern aus, so dass die Titelfigur mit Mikheil Sheshaberidze besetzt ist, einem optisch den Vorstellungen von einem Nero entsprechenden Tenor, dessen Stimme nicht schön, leicht gepresst klingend, aber durchdringend und strapazenresistent ist. Zwei gestandene italienische Baritone nehmen sich der beiden anderen Protagonisten an. Franco Vassallo bewährt sich als böser Visionär Simon Mago mit dunkel dräuender Stimme, auch vokal schlanker, aber nicht weniger eindrucksvoll und farbig ist Roberto Frontali, optisch eher eine Vater- als eine Liebhaberfigur, als die er sich im Schlussduett outet. Eine bemerkenswert schöne, tiefste Tiefen auslotende Bassstimme besitzt Dongho Kim für den getreuen Tigellino. Mit extremer darstellerischer Hingabe und schonungslos eingesetzten kraftvollen Stimmmitteln ist Valentina Boi eine eindrucksvolle Asteria, während die sanfte Rubria mit geschmeidigem, warmem Mezzosopran rollengerecht von Deniz Uzun verkörpert wird. Auch die kleineren Partien sind rollendeckend besetzt, teilweise ist ein Solist für deren mehrerer zuständig.
Dem Label Dynamic kann man gar nicht dankbar genug dafür sein, dass es ein so selten gespieltes Werk und immer wieder die Arbeiten des verdienstvollen Teatro Lirico di Cagliari einem breiten Publikum zugänglich gemacht hat und hoffentlich auch in Zukunft machen wird (Dynamic 38047). Ingrid Wanja