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In jüngster Zeit hatte der französische Komponist Daniel Esprit Auber reichlich fortune, aufgeführt und auch eingespielt worden zu sein. Seine Muette de Portici, eigentlich die einzige seiner vielen heute noch gespielten Opern (es ist die mit dem neapolitanischen Fischer Masaniello, der bei der Brüsseler Premiere nicht nur die Choristen des Monnaie, sondern auch das aufgeheizte Volk vor dem Theater in Wallung versetzte und angeblich eine Revolution auslöste). Aubers Volkaufstand mit tanzender, aber stummen Titelfigur erreichte sogar Dessau und die kleineren Theater in Deutschland; die Pariser Opéra gab 2012 eine prachtvolle Vorstellung davon, und selbst wenn man mit June Anderson nicht glücklich wird ist doch die ältere EMI- (und nun Warner-) -Aufnahme ein seriöses akustisches Dokument mit diskutabler Besetzung (auch Alfredo Kraus ist da nicht wirklich der Tenor zum Träumen; und Fans haben natürlich weitere Live- und Radioaufnahmen der Oper, die in London oder Paris mehrfach gegeben wurde, davon später mehr). Dennoch – Auber ist – wie nun auch mit einer weiteren Naxos-Ouvertüren-CD – recht gut bedient.
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Aber da gibt es ja noch einen anderen Masaniello, eben jenen von Michele Carafa von 1827 (Masaniello ou Le pêcheur napolitain), der sich nach anfänglichen Aufstieg nicht gegen den Konkurrenten Aubers durchsetzen konnte. Er galt aber lange als die erfolgreichere Oper dieses Sujets, so wie Carafa in seiner Zeit zu den wirklichen Großen der italienischen und französischen Oper gehörte.
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Das hochverdienstvolle Festival Rossini in Wildbad hat nun in diesem Sommer (19. 26. 28. Juli 2024) erstmals in moderner Zeit Carafas Masianello (konzertant) aufgeführt – eine wahre Pionierleistung in einer langen Reihe von ebensolchen beim Festival (Besetzung: Leona – Catherine Trottmann, Masaniello – Mert Süngü, Torellas – Luis Magallanes, Ruffino – Nathanael Tavernier, Theresia – Camilla Carol Farias, Matteo – Hyunduk Kim, Gouverneur/Giacomo – Francesco Bossi; Pedro/Un charlatan – Massimo Frigato, Musikalische Einstudierung – Cecile Restier; Dirigent – Nicola Pascoli; eine Produktion von Passionart und der Filharmonia K. Szymanowskiego Krakowie;. Eine Rezension von Rolf Fath gibt es nachstehend, gefolgt von einem Artikel zum Werk und seiner Geschichte von Olivier Bara. Und auf eine akustische Aufnahme hofft man heiß. Wie spannend doch die Welt der Oper ist – hatte jemals jemand vor der Pariser Aufführung 2012 etwas von Carafas Masaniello gehört? Wir nicht, müssen wir gestehen. G. H.
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Rolf Fath: Während in zwei Wochen auf und an der Seine bereits die Eröffnung der Olympischen Spiele 2024 stattfindet, wehte im Juli ein Hauch von Paris durch den Nordschwarzwald. Rossini selbst, Wildbads berühmter Kurgast, ließ sich für seine Bäderbehandlung 1856 mehrere Wochen Zeit. Ein Sportsmann war er sicherlich nicht. Bewegungen vermied er tunlichst. Wenn er sich regelmäßig zu Ausflüge im Bois de Boulogne mit Michele Carafa traf, ritt der neapolitanischen Adelige und Offizier auf seinem Pferd, während es sich Rossini in seiner Kutsche bequem machte. Sie waren gut befreundet, seit sie in Neapel das seinerzeit beste Opernhaus der Welt erobern wollten. Beide verschlug es in den 1820er Jahren nach Paris. Der perfekt französisch sprechende Bonapartist Carafa, der auch die französische Staatsbürgerschaft annahm, konnte an der Opéra-Comique, die fortan sozusagen seine künstlerische Heimstatt blieb, sofort mit Französischen loslegen, während Rossini zögernd mit französischen Umarbeitungen früherer Werke und einer Festkantate begann, aus der er dann seine erste originale französische Oper Le Comte Ory filterte.
Von Anbeginn der Festspiele war es die Wildbader Absicht, den Rossini-Kosmos durch Werke seiner Zeitgenossen zu erweitern und auszuleuchten. Dazu gehörte u.a. 2006 die Beaumarchais-Fortsetzung I due Figaro Michele Carafas, der nun mit seinem erstmals seit mehr als 150 Jahren wieder aufgeführten Masaniello groß herauskommt. Interessant auch insofern als der aus dem neapolitanischen Hochadel der Carafa di Colobrano stammende Carafa mit dem Aufstand der Fischer, die 1647 gegen Machtmissbrauch und übermäßige Steuerlast rebellierten, einen Stoff behandelte, in dem Mitglieder seiner Familie eine unrühmliche Rolle spielten. Die Oper kam am 27. Dezember 1827 an der Opéra-Comique heraus. Exakt zwei Monate später folgte an der Opéra Aubers Die Stumme von Portici, die den gleichen Stoff behandelte und nicht nur 1830 nach einer Aufführung in Brüssel die Besucher in eine derart aufgeheizte Stimmung brachte, welche letztlich den Belgiern die Unabhängigkeit von Holland brachte, sondern auch den Startschuss zur Gattung der Grand opéra setzte. Der immer geschickte Rossini wiederum lieferte mit seinem Guillaume Tell ein prägendes Beispiel hierzu.
Dabei geriet Carafas Fischeraufstand trotz riesiger Anfangserfolge etwas unter die Räder. Der in seiner Geburtsstadt und bei Cherubini in Paris ausgebildete Adelige, der zwischen Militärlaufbahn und Opernbühne wechselte und mehr als drei Jahrzehnte am Pariser Konservatorium lehrte, war kein ungeschickter Musiker. Vor allem goss er die Geschichte des Fischers Masaniello, den die Aufständischen zu ihrem Führer machen, in große Tableaus à la Rossini. Die Sprechtexte, welche durch den Ort der Uraufführung opportun waren, machen die Oper zwar etwas länglich, ebenso die Wendungen um die Gefangennahme seiner Frau Léona, der der spanische Graf Torellas nachsteigt; bei Auber wird die Figur zu titelgebenden stummen Schwester Fenella. Aubers Dichter Scribe und Delavigne sind einfach routinierter und gewiefter als die Herren Moreau und Lafortelle, die für Carafa sein vieraktiges Drame historique schufen.
Unter Nicola Pascoli klang die konzertante Aufführung so sauber und in der prallenden Akustik der lang-engen Trinkhalle mit so geballter Dramatik als gehöre die Musik Carafas zum Standardrepertoire des Philharmonischen Chors und Orchesters aus Krakau. Mit dem getragenen Ton der ausgedehnten Ouvertüre im Stil der Rettungsoper um 1800 entfaltet Pascoli ein historisches Panorama, in dem neapolitanische Straßenszenen, Tarantella-Ahnungen, Fischergesänge, kraftvolle Märsche und feurige Duette und schließlich der Ausbruch des Vesuvs ein buntes Tongemälde ergeben. 19 Nummern, davon drei Quartette und drei Duette, zwei Terzette und natürlich die vier großen Finali, bildenden das Gerüst der arios und rezitativisch weitläufig gestalteten Blöcke.
Im Mittelpunkt steht eindeutig Masaniello. Die Partie ist von der Barkarole, Kavatine, dem erstem martialischem Finale über die Arie zu Beginn des zweiten Aktes bis zum Wahnsinnsausbruch im Schlussakt eine Tour de Force, die Mert Süngü mit sauber gemeißeltem Tenor und fanfarengleichem Trompetenton souverän meistert, wie ein Florettfechter in der heldischen Attacke, aber auch mit einigen Zwischentönen in den Momenten der Verzweiflung. Interessant daneben der böse hin- und herschwankende, durchtrieben sympathische Intrigant Ruffino, dem man nie böse sein kann, weil ihn der französische Bass Nathanael Tavernier mit rauer Souveränität, auch in den Verzierungen, und lässiger Bonhomie sang. Als Léona ließ Catherine Trottmann einen sich fein und ebenmäßig entfaltenden, doch etwas larmoyanten Sopran erklingen. Der elegante paraguayische Tenor Juan José Medina und Camilla Carol Farias mit apart kullerndem Mezzosopran waren als Masaniellos Bruder und Schwägerin dabei, während die Tenöre Luis Magallanes und Massimo Frigato sowie der Bass Francesco Bossi mehrere Partien übernahmen. Schöne Momente, farbige Szenen, doch auch Längen, kein zwingender Eindruck (19.7.). Rolf Fath (sah außerdem auch noch den Comte Ory am 20. 7. 2024 – dazu sein Bericht in unserer Reihe Festivals 2024).
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Im reichhaltigen Programmheft zur Muette de Portici an der Pariser Opéra-Comique 2012 fanden wir einen informativen Artikel des Lyoneser Musikwissenschaftlers Olivier Bara über eben Carafas Masaniello, den wir mit der liebenswürdigen Erlaubnis des Autors hier in unserer Reihe Die vergessene Oper in eigener deutscher Übersetzung wiedergeben. G. H.
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Olivier Bara – der andere Masianello: Die Rivalität zwischen “Grand-Opéra” und “Opéra-comique” ist alt. Geht sie doch auf die Epoche der “Spectacles forains” zurück, als Vaudevilles und “Comédies en ariettes” bitter mit der Musikakademie um das exklusive Recht, auf der Bühne zu singen, kämpften. Man kannte auf verschiedenen Theatern einige “Doubletten”finden, zuerst als Parodien: zum Beispiel die von Favart 1740 parodierte musikalische Tragödie Pyrame et Thisbé.Aber die Verdopplungen werden zu Duplikaten, wenn dasselbe Thema an der Opera und der Opéra-Comique behandelt wird, auf der einen Seite im großen Stil, auf der anderen Seite im mittleren Stil: so beim berühmten Fall des Pré aux clercs von Hérold (1832), der vier Jahre vorher durch seine auf den Religionskriegen basierende Handlung die Huguenots von Meyerbeer vorwegnimmt. So ist es auch der Fall bei Masaniello von Michele Enrico Francesco Carafa di Colobrano, der am 27. Dezember 1827 am Théâtre Feydeau (Opéra Comique) zwei Monate vor La Muette de Portici von Auber an der Académie royale de musique entstand. Dasselbe Thema: die neapolitanische Revolte von 1647, dieselben historischen Hauptgestalten: Thomas Aniello, Masaniello genannt, dieselbe Handlungsentwicklung: das Scheitern des Volksführers vor dem Hintergrund des Vesuvausbruchs. Beachten wir einen Größenunterschied, der der Opéra Comique den Vorteil der musikalischen Wahrheit sichern hätte müssen: Der Komponist von Masaniello ist der Neapolitaner Michele Carafa de Colobrano, aus dessen Feder das Erlebte die Feuerwerke des Pittoresken transzendieren hätte müssen.
Konspiration und Aufruhr: Man hat diese wichtige Figur der Geschichte der romantischen Opéra comique vergessen. Carafa, dessen Gabriella di Vergy von 1816 dem rossinischen Otello in Neapel die Stirn geboten hat. Das Théâtre Feydeau hielt sich an ihn 1821, weil es seine Musik „italianisieren“ wollte, um der Konkurrenz des Théâtre Italien mit seiner Rossiniwelle entgegen zu treten. Wenn auch die Belcantoattacke mit einer unglücklichen Jeanne d’Arc, die Carafa seinem Lehrer Cherubini gewidmet hat, nicht gegriffen hat, kam der Erfolg 1822 mit Le Solitaire (122 Vorstellungen während der Restaurationszeit), dann mit „Le Valet de chambre“ nach einem Libretto von Scribe. Zwei komische Opern und zwei Misserfolge später übernahm Carafa das Libretto des Vaudevillisten Moreau und Lafortelle Masaniello ou le Pêcheur napolitain, ein durch sein historisches und politisches Thema, seine Länge ( 4 Akte) durch sein lokales neapolitanisches Kolorit, für die Opéra Comique gefährliches Werk und den eruptiven Höhepunkt der Handlungsentwicklung für die Opéra Comique gefährliches Werk, auch durch die Werkbezeichnung „historisches Drama“ (Barba, 1828).
Hat sich das Théâtre Feydeau entschlossen, direkt in Konkurrenz mit der Opéra zu treten und sich mit seinem großen „Opernbruder“ auf einen Wettlauf einzulassen, indem es seinen Masaniello unmittelbar vor dem Werk von Scribe und Auber auf die Bühne brachte? Hat es sich nicht auch auf einen Kampf mit dem Odéon eingelassen, das die Musik von Carafa wegführte, indem es seine milanesische Oper I due Figaro auf Französisch adaptierte? Die Presse von 1827 delektiert sich an diesem Konspirationsklima und nimmt die Kulissengespräche ebenso wie die Publikumsgespräche auf: „Die Kulturwelt hat sich in eine Arena verwandelt, wo unterhalb der Gladiatoren eine ganz spezielle Spezies kämpft und deren Hauptverdienst in ihrer Geschicklichkeit besteht, sich dessen zu bemächtigen, was die Beute der anderen ist“, schreibt der „Courrier des théâtres“ anlässlich der „zwei Masaniellos“ (siehe 12. Oktober 1827). Wer hat wen kopiert? „Wir nicht“, protestieren die beiden Librettisten der Operand Comique am nächsten Tag in derselben Zeitung: Zuerst einmal sei das Thema historisch und gehöre daher allen, weiters wurde unser Drama ab 1825 geschrieben, so behaupten sie und versuchen, öffentlich zu suggerieren, dass Eugène Scribe und Germain Delavigne die wahren Plagiateure seien. In Wahrheit stützen sich alle auf dieselben Quellen: Le Duc de Guise à Naples, ou Mémoires sur les révolutions de ce royaume en 1647 et 1648, herausgegeben vom Grafen von Pastoret im Jahr 1824. Ein musikalisches Drama Masaniello, the fisherman of Naples wurde übrigens von Henry Bishop 1825 in London herausgebracht.
Die vier Librettisten schlachten eine Melodie der Zeit aus, die politisch dem Liberalismus angehört. Das ultraextreme Ministerium von Villèle wird immer mehr angefeindet. Sie wird flüsternd nach dem Sieg der Liberalen in der Deputiertenkammer verbreitet. Zur gleichen Zeit sind auf den Bühnen die „revolutionären“ Themen in Mode: die Verteidigung der Bürgerrechte und der Kampf gegen den Unterdrücker werden gefeiert, 1827 und vor allem 1828 in Guillaume Tell von Puxérécourt am Théâtre de la Gaîté, in Les Trois Cantons am Vaudeville, in „Guillaume Tell“ von Pichat am Théâtre-Français, im „Guillaume Tell“ von Grétry, der von der Opéra Comique wieder aufgenommen wurde, vor dem von Rossini, 1829 an der Opéra. In dieser Vervielfachung der Guillaume Tell (der von der Abschwächung der Zensur unter dem Ministerium Martignac profitiert) findet sich eine teilweise Antwort auf das Geheimnis des Zwillingswesens des Masaniello: Das Theaterleben, das noch keine genauen Kriterien der künstlerischen Urheberschaft kennt, speist sich von gängigen Themen und nährt so, im Feuer des kulturellen Augenblicks, die Phantasie des Zusehers.
Ein Vesuv verschattet den anderen. Im Übrigen unterscheidet sich, wenn man die beiden Libretto genau liest, der Masaniello von Moreau und Lafortelle klar von der Muette de Portici von Scribe und G. Delavigne: Der Vergleich ist faszinierend, so sehr erlaubt er, das Genie von Scribe gegenüber den beiden Herstellern am Théâtre Feydeau zu erkennen. Die letzteren malen das historische Material in den engen Formen der Opéra-Comique, was ihre Vorgehensweise und ihre Couplets betrifft. Scribe hingegen nutzt nicht nur die dramatischen Potentiale, sondern auch die visuellen, klanglichen und spektakulären des Themas aus, indem er zusätzlich die Titelfigur der Stummen erfindet, eine Gelegenheit, Pantomime und Tanz in das dramatische und musikalische Geschehen einzubinden. Dadurch verwischt er die hervorstechenden Konturen eines gewagten politischen Themas, indem er, da wo die Librettisten Carafas vervielfachen, den Diskurs, entsprechend den Zensurwünschen, implizit hält mit Anspielungen auf die heilige Vorsehung, die die Volksrevolten bestrafen kann. Dieser dramaturgische und ideologische Unterschied wurde von den Zensoren erkannt, die die ungeschickte Freizügigkeit, mit der das Libretto der Opéra Comique das Thema der neapolitanischen Revolte behandelt, der hohen Geschicklichkeit Scribes gegenüberstellen, mit der er jede direkte Anspielung vermeidet. „Die Ruhe des Staates hängst so sehr davon ab, wie unsere Aufgaben mit Vertrauen und Unterwerfung erfüllt werden, folglich soll nichts an diesem Thema die Geister aufwiegeln, man müsse einen solchen Gegenstand sehr vorsichtig behandeln und am Theater sei es noch besser, an nichts zu rühren“, kommentiert die Zensur angesichts von „Masaniello“. Sie erkennt aber dennoch den belehrenden Charakter des Werks von Moreau und Lafortelle: der Tod des Helden am Schluss (in einer Opéra Comique unüblich), der durch die Menge der Revoltierenden getötet wird, stellt ein Beispiel der konservativen Tugenden dar. Das bietet einen Beweis der Gefahr der Revolutionen und des Nachteils, den es mit sich bringt, aus seiner Sphäre herauszutreten“, beruhigt sich der Zensor. Er erlaubt die Muette der Opéra Comique unter der Bedingung, dass Formulierungen wie „zu den Waffen greifen“ oder, schlimmer, „diese Schurken von Steuereintreibern“ gestrichen werden. Die Muette erscheint den Zensoren sogar inoffensiv dank ihrer Titelgestalt: Diese wendet die Handlung vom Politischen mehr in die intime Sphäre. „Die Gefahr für die legitime Autorität, der Volksaufruhr, die Schreie der Revolution, alles verliert sich und wird vergessen beziehungsweise vermischt es sich mit dem Interesse an einer Person. Diese Person ist eine Frau und sie ist stumm. (…) Sie ist es, auf die alle Blicke gerichtet sind, die alle Herzen berührt. Es gibt kaum etwas, das die Gefahren des Themas geschickter umgeht.“ Die Zensoren waren blind dafür, dass, wie man weiß, es Aubers Muette de Portici ist, die durch die heimtückischen Rhythmen ihrer Barcarolen und den kriegerischen Elan ihres „Amour sacré de la patrie“ die belgische Revolution von 1830 auslösen wird.
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Die am Rande der künstlerischen Geschichte verbliebene Opéra-Comique von Carafa hatte zweifellos auch andere Schwächen als nur das Libretto. Die Partitur des Neapolitaners erscheint rau in ihren Rhythmen, eher knapp in ihren Melodien, zu verhalten in ihrem dramatischen Elan durch die Aufeinanderfolge geschlossener Nummern, auch wenn einzelne herausgenommene Stücke einen echten kommerziellen Erfolg hatten, wie die Couplets von Notre-Dame du Mont Carmel. Die Regie der Opéra vom Regisseur Solomé, die von Ciceri nach einer Reise nach Neapel gemalten Dekorationen lassen die Aufführung in visueller Bescheidenheit verharren trotz der für den Vesuv angewandten technischen Verbesserungen, mit denen man dem „Konkurrenz-Vesuv“ gleichkommen wollte. Es ist auch anzumerken, dass es der Titelrolle im Gegensatz zur Interpretation von Adolphe Nourrit an Eklat, Biss und Kraft gefehlt hat. Der leichte Tenor Ponchard in der Rolle des neapolitanischen Fischers hat nur ein kleines Stimmchen, beklagt die Presse. Die „Muette de Portici“ hat „Masaniello“ verdrängt. Die Oper von Carafa hatte allerdings mehr als 60 Aufführungen in zwei Jahren, ein heftiger, aber vergänglicher Erfolg aufgrund der Ähnlichkeiten der beiden Werke.
Der Titel verschwindet rasch von den Ankündigungen nach 1829, während das Werk von Scribe und Auber die neue Form entwickelt, die unter der Julirevolution eine glänzende Zukunft hat: die große romantische historische Oper, die bald darauf Rossini (Guillaume Tell), dann Halévy (La Juive) und Meyerbeer (Les Huguenots) zur Vollendung bringen werden. Die ästhetische Revolution an der Opéra Comique ist unter der Restauration nicht Masaniello, es ist die Dame blanche von Scribe und Boieldieu,die Matrix der Meisterwerke des „mittleren Genres“ des 19. Jahrhunderts.
Ein kleiner Trost für Carafa: Sein Masaniello hatte in der Provinz eine ansehnliche Karriere, wobei er von seinen kleineren Proportionen und der Einfachheit, mit der er in Szene gesetzt werden konnte, profitierte: weniger Personal, ein weniger „anspruchsvoller“ Vesuv und keine Tanzrolle. Dann also als Alternative Masaniello oder die Muette der Armen? Olivier Bara/ Übersetzung Ingrid Englitsch
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Inhalt/Erster Akt. Auf dem Markt in Neapel, das unter spanischer Herrschaft steht, werden Obst und Fisch verkauft. Die Händler, unter denen sich die schöne Leona befindet, sind von Käufern und Schaustellern umgeben. Der Steuereintreiber Calatravio und seine Schergen kommen, um die Verkaufsabgabe einzufordern, was den Unmut des Volkes hervorruft. Leona zieht es vor, aus Protest gegen die Übergriffe der Reichen ihre Ware wegzuwerfen, statt sie mit einer Steuer belegt zu verkaufen. Calatravio befiehlt ihre Verhaftung, woraufhin das Volk einen Aufstand anzettelt, aber vergeblich versucht, sie zu befreien.
Die Szene wird von Ruffino beobachtet, einem Genueser, der sich an den Spaniern rächen will, von denen er sich hintergangen fühlt: Er hat die örtliche Regierung davon überzeugt, die kleinen Händler zu besteuern, in der Hoffnung, dadurch die Unzufriedenheit und den Zorn des Volkes zu wecken. In Masaniello sieht er einen Neapolitaner, den er manipulieren und an die Spitze des erstrebten Aufstands stellen kann. Unterdessen trifft der spanische Graf von Torellas ein und offenbart Ruffino seine Liebe, die er zu Leona hegt, seit sie ihm das Leben gerettet hat. Ruffino deutet an, dass Leona seine Liebe erwidert, und rechnet damit, dass die Eifersucht ihres Gatten Masaniello den Hass auf die Fremden noch verstärkt. Masaniello bereitet sich darauf vor, fischen zu gehen. Ruffino erregt seinen Argwohn gegen den Grafen von Torellas. Masaniello berichtet, dass eine Zigeunerin Ruffinos Horoskop bestätigt hat, wonach er als armer Fischer König von Neapel werde, aber hinzufügte, dass der Thron ihn ins Grab bringen würde. Masaniellos Bruder Matteo bringt die Nachricht, dass Leona nur gegen Zahlung von 100 Dukaten freikommt, eine untragbare Strafe für den verzweifelten Masaniello. In der Zwischenzeit rebelliert das Volk gegen den Herzog von Arcos, den Gouverneur von Neapel, und fordert die Rückgabe der von Karl V. gewährten Privilegien, wonach keine neuen Steuern mehr erhoben werden. Masaniello führt die Aufständischen an.
Zweiter Akt. In seiner Hütte grollt Masaniello: Die revoltierenden Neapolitaner haben ihn im Stich gelassen, bevor er Leona befreien konnte. Doch dann treffen Matteo und dessen Frau Theresia ein, um ihm mitzuteilen, dass das Schiff, das mit den Abgaben der Neapolitaner beladen nach Madrid auslaufen wollte, in Brand gesteckt wurde und dass die Marktfrauen Leona befreit haben. Sie wird im Triumph in die Hütte ihres Mannes getragen, der jedoch gehen muss, da der Aufstand wieder aufgeflammt ist und er unterdessen zum Anführer berufen wurde. Matteo sieht die Prophezeiung über den Aufstieg seines Bruders wahr werden, aber Leona bekräftigt die Demut ihres Mannes und seine Treue zu seiner einfachen Herkunft.
In der Zwischenzeit flüchtet der Graf von Torellas, der dank einer Verkleidung dem Volk entkam, das ihn lynchen wollte, in die Hütte und findet Leona allein, der er so seine Liebe offenbaren kann. Empört und verängstigt hält Leona es für besser, ihn wegzuschicken, aber es gelingt ihr nicht: Ruffino erscheint zusammen mit Giacomo, einem Rebellen aus Pozzuoli. Nachdem er den Grafen erkannt hat, befiehlt er Giacomo dessen Bewachung, während er Masaniello suchen will. Giacomo, der zum Kommandanten der Dörfer zur Unterstützung des neapolitanischen Aufstands ernannt wurde, ist betrunken, und dem Grafen gelingt es leicht, ihm die Ernennung abzunehmen. Torellas und Leona sperren Giacomo in den Keller, als Masaniello erscheint. Torellas gibt sich als Giacomo aus und entkommt unter dem Vorwand, seine Leute zusammenrufen zu müssen. Kurz darauf kommt Matteo zusammen mit Theresia und erklärt, dass der Mann, der gerade gegangen ist, nicht Giacomo war; Ruffino kommt dazu und bestätigt, dass dieser in Wirklichkeit der Graf war, was Masaniellos Eifersucht weckt. Doch der Wunsch des Volkes nach Erhebung überwiegt, und Masaniello zieht mit den Aufrührern und Ruffino ab. Leona bleibt mit Theresia und Matteo allein zurück. Als dieser ein Klopfen aus dem Keller hört und die Luke öffnet, kommt der betrunkene Giacomo heraus. Wenig später werden alle vier von der Wache verhaftet und zum Gouverneur gebracht.
Dritter Akt. In seinem Palast ist der Gouverneur über den Aufstand beunruhigt. Ruffino teilt die Gefangennahme von Masaniellos Angehörigen mit, die von ihm selbst denunziert wurden. Der Gouverneur befiehlt ihm, Masaniello zu Verhandlungen in den Palast zu bestellen. Dessen Familie wird mit Wohlwollen empfangen und ist erstaunt über den Reichtum des Palastes. Torellas versichert Leona, dass er nichts mit ihrer Gefangennahme zu tun hat. Bald darauf trifft Masaniello ein und beginnt, mit dem Gouverneur zu verhandeln. Das Volk, das sich um ihn sorgt, ruft ihn und randaliert unter den Fenstern; Masaniello beruhigt seine Anhänger und schickt sie weg. Der Herzog erkennt Masaniellos Einfluss auf das Volk und versucht, ihn mit dem Titel eines ständigen Abgeordneten von Neapel und einem üppigen Gehalt an sich zu binden, was dieser aber prompt ablehnt. Masaniello ist über die Anwesenheit Torellas‘ und das inzwischen aufgedeckte Doppelspiel Ruffinos außer sich und will aufbrechen. Da gewährt der Gouverneur die Rückgabe der alten Privilegien, wenn die Rebellion beendet wird. Der nunmehr bewachte Ruffino macht durch ein Lied deutlich, dass die Titel der Privilegien falsch sind; Masaniello versteht die Botschaft und bricht alle Verhandlungen ab. Dem Gouverneur gelingt es nicht, Masaniello und seine Familie zu verhaften, bevor das Volk in den Palast einbricht und den Hofstaat zur Flucht zwingt.
Vierter Akt. In dem ihm zur Verfügung gestellten Haus wird Masaniello wie ein König behandelt, und das Volk zeigt seine Dankbarkeit. Die Spanier haben den Neapolitanern die von Karl V. gewährten Privilegien zurückgegeben. Masaniello vertraut Ruffino an, dass er einen seltsamen Traum hatte, der durch den Wein verursacht wurde, den dieser ihm während der Feierlichkeiten eingeschenkt hatte: Ein Vogel, der der Sonne zu nahe kommt, wird geblendet und stirbt im Taumel. Masaniello versteht das als Warnung des Himmels und Ruffino versucht vergeblich, ihn zum Ruhm zurückzurufen. Seine Familie trifft ein und kurz darauf auch der Gouverneur sowie der Graf von Torellas, die verlangen, dass der Regierungsrat sofort in Masaniellos Haus tagt, da die Landung neuer Truppen im Gange ist. Während der Beratung wird Masaniello jedoch wahnsinnig, als er aus der Ferne das Echo des Volksfestes hört; er sieht sich verraten und rennt hinaus, um sich zu rächen.
Als der Vesuv ausbricht, bedroht Masaniello mit dem Schwert in der Hand das Volk, das vergeblich versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Als Leona eintrifft, wird Masaniello von einer Musketen-Salve getroffen und stirbt unter dem Bedauern des Volkes über diese Bestrafung durch den rächenden Himmel. Gianmarco Rossi/ Übersetzung u. Textredaktion Reto Müller
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Wir danken dem Autor Olivier Bara , Professor und Musikwissenschaftler an der Universität Lyon, für die sehr freundliche Genehmigung zur „Übernahme“ seines Artikels aus dem Programmheft zu Aubers Muette de Portici an der Pariser Opera-Comique 2012. Die Inhaltsangabe übernahmen wir mit Dank aus dem Programmheft zur Aufführung in Bad Wildbad. Abbildung oben: „Masaniello“ (Gemälde von Tommaso Aniello), 1857, von Giuseppe Mazza/1817-1884)/Wikipedia
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Eine vollständige Auflistung der bisherigen Beiträge in der Reihe Die vergessene Oper findet sich auf dieser Serie hier.