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Nach der Schönen Müllerin und dem Schwanengesang hat André Schuen nun die Winterreise von Franz Schubert vorgelegt. Wie die beiden vorangegangenen Aufnahmen wurde sie bei Deutsche Grammphon veröffentlicht (486 1288). Begleiter am Flügel ist abermals Daniel Heide. Er hat einen erklecklichen Anteil am künstlerischen Wert dieser Produktionen, die einen hohen Standard setzen. Derzeit ist viel Bewegung am einschlägigen Markt. Schuberts Lieder kommen in immer neuen Bearbeitungen und Besetzungen daher, die auf ihre Weise durchaus dazu beitragen können, der Beschäftigung mit Liedgesang neue Impulse zu geben und ein Publikum zu erreichen, das diesem Genre ehr reserviert gegenüber steht. Für Schuen und Heide verbieten sich Zutaten oder Fisimatenten. Sie halten sich ans Original, lassen Schubert Schubert sein indem sie einen Zeitbezug einzig und allein durch Interpretation herstellen und nicht durch gefällige Anpassungen. Einzig bei der Gestaltung des Covers, auf dem das Gesicht des aus Südtirol stammenden Baritons wie gefroren aus dem Dunkel tritt, wird ein außermusikalischer Bezug bemüht. Der liegt im Falle von Schuen sogar nahe. In seiner Freizeit steigt er nämlich selbst in die Berge seiner Heimat und dürfte wohl nicht nur einmal auf engste Tuchfühlung mit der Einsamkeit im Schnee gekommen sein: „Ei Tränen, meine Tränen, / und seid ihr gar so lau, / dass ihr erstarrt zu Eise / wie kühler Morgentau?“ Schuen kann Situationen singen. Sie entstehen in seinem exzellenten Vortrag, für den Heide stets ein angemessenes Tempo findet. Ein Tempo, welches es dem Sänger gestattet, die Lieder so darzubieten, dass inhaltlich nichts verloren geht – kein Wort, keine Silbe, kein Interpunktionszeichen.
Es wird niemals gehetzt. Vielmehr ist eine große Ruhe und Selbstsicherheit um und in dieser Darbietung, die keinem Sänger in den Schoß fällt, auch Schuen nicht. Sie ist das Resultat jahrelanger intensiver Beschäftigung mit der Winterreise, die ihn übrigens durch sein ganzes Studium begleitete, wie aus dem Booklet-Text von Joachim Reiber zu erfahren ist. Und sie habe schon beim allerersten Liederbend auf dem Programm gestanden. Schuen kommt auch selbst zu Wort: „Das Gefühl, bei diesem Werk immer am Anfang zu stehen, bleibt. Aber was sich für mich verändert hat, das ist, dass ich ergebnisoffener geworden bin.„ In früheren Jahren, „mit noch weniger Erfahrung“, habe er wohl auch versucht, „die Route vorher festzulegen und genau zu planen“, wie diese oder jene Stelle gestaltet werden solle. „Heute erlebe ich diesen Zyklus viel stärker aus dem Moment: bereit für all das Überraschende und Ungeahnte, das sich auf dieser Reise auftun kann.“ In der Tat wirkt in seine Interpretation nichts kalkuliert, weshalb sich plötzlich auch stimmliche Klippen auftun können, die den Sänger durchaus an Grenzen bringen. Schuen scheint nicht auf Schönheit aus – vielmehr auf Wahrhaftigkeit. Er singt so, als würden sich die dramatischen Geschehnisse in diesen Liedern just in dem Moment ereignen, indem wir sie zu hören bekommen. Das ist die Kunst, seine und die seines Begleiters. Es grenzt schon an Hohn, dass die unverwüstlichen Texte von Wilhelm Müller in Begleitheft abgedruckt worden sind. Das wäre nicht nötig gewesen, denn selten gab sich eine Darbietung so wortverständlich wie diese. Rüdiger Winter