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„Wie schön ist doch die Musik – aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!“ Eine Aufnahme der komischen Oper Die schweigsame Frau von Richard Strauss – und sei es als Querschnitt – ohne den finalen Monolog des Sir Morosus wäre wie Salome ohne Schlussgesang. Noch vor wenigen Tagen hätte ich darauf geschworen, dass es so ein Tondokument nicht gibt. Ich sollte eines anderen belehrt werden. Doch der Reihe nach. Der Bayerische Rundfunk hat sein Archiv geöffnet und genau so eine Produktion ohne Schluss, auf den schließlich alles hinausläuft, bei BR-Klassik auf den Markt gebracht (900219). Dabei handelt es sich um ein ganz klassisches Opernende, in dem sich die Konflikte wie in Luft auflösen. Es ist geklärt, was zu klären war. Niemand hat Schaden genommen. Alle sind glücklich. Die Welt dreht sich fort. Morosus lehnt sich „strahlend beglückt“ – wie es in der Szenenbeschreibung des Librettos von Stefan Zweig heißt – in seinem Sessel zurück: „Ach, ich fühle mich unbeschreiblich wohl. Nur Ruhe!“
Für Strauss und seinen jüdischen Textdichter sollte dieser Zustand im wirklichen Leben nicht eintreten. 1935, im Jahr der Uraufführung in Dresden unter der Leitung von Karl Böhm, war Zweig bereits emigriert. Die Nationalsozialisten bestanden darauf, dass er auf den Plakaten und Programmzetteln nicht genannt wird. Strauss, der damals bedeutendste lebende Komponist Deutschlands, widersetzte sich. Nach nur drei Wiederholungen verschwand die Oper vom Spielplan und wurde nur noch vereinzelt im Ausland gespielt. Zweig sollte sie nie auf einer Bühne sehen. Er wählte 1942 im brasilianischen Exil gemeinsam mit seiner Frau Lotte den Freitod. Nach dem Krieg versuchte sich gleich 1946 Dresden an einer Erweckung der Oper, die zunächst ohne Folgen blieb. Kurt Böhme, der in der Uraufführung noch als der Komödiant Vanuzzi mitwirkte, sang nun den Morosus. München, Wiesbaden und etliche kleinere Häuser folgten. In Berlin nahm sich 1954 Walter Felsenstein an der Komischen Oper des Stückes an und wählte für den alten Seemann mit dem auf Verdi spezialisierten Bariton Hans Reinmar eine vom bisherigen Rollenbild abweichende Besetzung. Er dürfte dabei eher an Reinmars schauspielerischen Fähigkeiten interessiert gewesen denn seinen schwindenden stimmlichen Qualitäten, die der Bariton mit intellektueller Substanz kompensierte. Wie überraschend gut das ging, anerkannte auch der österreichische Radiomoderator und Opernexperte Gottfried Cervenka, der das Finale in einer Aufnahme des DDR-Rundfunks im April 2005 ins Programm einer seiner legendären Apropos-Oper-Sendungen aufnahm.
Ihren internationalen Durchbruch erlebte die Schweigsame Frau 1959 mit einer neuen Inszenierung von Günther Rennert bei den Salzburger Festspielen. Uraufführungsdirigent Böhm stand wieder am Pult. Wohl, um das Publikum nicht zu überfordern, wurde die Spieldauer auf ein seinerzeit erträgliches Maß gestutzt. Es fehlen gut vierzig Minuten, was angesichts der turbulenten Handlung kaum aufgefallen sein dürfte. Hans Hotter war als Sir Morosus besetzt. Er habe eine „köstliche, fein abschattierte Charakterstudie“ geboten, der er ebenso erheiternde wie ergreifende Züge verlieh, heißt es in dem Sängerporträt von Penelope Turing, das 1983 in Buchform im Paul-Neff-Verlag Wien erschien. Der Mono-Premierenmittschnitt fand rasch seinen Weg in Sammlerkreis. Noch als Schallplatten kam er zuerst bei der auf Liveaufführungen spezialisierten Firma Melodram heraus. Laut Archiv der Salzburger Festsiele und anderer Quellen fand die Premiere am 8. August 1959 statt. Als Deutsche Grammophon 1994 die Aufnahme mit dem Segen der Festspielleitung von den Bändern des Österreichischen Rundfunks offiziell auf CD veröffentlichte, wurde im Booklet – offenkundig aus Versehen – als Sendetermin der 6. August genannt. Wiederholungen in Folgejahren gab es nicht. Etwas zu reif für die junge Aminta, die vorgebliche schweigsame Frau, war Hilde Güden, die mit unverkennbarem glitzerndem Timbre die Partie in der Nähe der Sophie aus dem Rosenkavalier zu rücken verstand und damit auch musikalische Ähnlichkeiten zwischen beiden Opern betonte. Als das Ereignis der Produktion blieben bis heute zwei junge Sänger im Gedächtnis, die von Salzburg aus zu höchstem Ruhm aufstiegen: Fritz Wunderlich (Henry) und Hermann Prey (Barbier). Einem Ruhm, der sich noch an Weihnachten desselben Jahres mit Rossinis Barbier von Sevilla im Münchner Cuvilliéstheater steigerte. Als Graf Almaviva und Barbier schrieben der Tenor und der Bariton Operngeschichte Made in Germany. Da diese Aufführung im Fernsehen übertragen wurde, drangen ihre Stimmen und Gesichter in jedes Wohnzimmer, wo ein Empfangsgerät stand. Die DVD der unverwüstlichen Produktion ist noch immer im Handel, ungeachtet der Tatsache, dass musikalisch und szenisch inzwischen ganz andere Maßstäbe gelten.
Doch zurück zur Schweigsamen Frau und der neuen CD von BR-Klassik. Die Umstände ihres Entstehens sind nach mehr als sechzig Jahren nicht lückenlos zu klären. Laut Booklet handelt es sich um eine „Studio-Produktion“ aus der der Bayernhalle im Ausstellungspark in München vom 4. und 5. November 1960, während in der Wunderlich-Biographie von Werner Pfister bei Schott der 3. und 4. November genannt werden. Im erklärenden Text verweist Renate Ulm vom Bayerischen Rundfunk auf den Mitschnitt der Salzburger Aufführung, dessen Wermutstropfen „die deutlich zu hörenden Bühnengeräusche dieser turbulent-komischen Oper“ gewesen seien. „Möglicherweise hat dies Heinz Wallberg 1960 dazu veranlasst, die hier veröffentlichten Ausschnitte als Studioproduktion mit fast der identischen Sänger-Besetzung und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks noch einmal aufzunehmen.“ Hierfür habe der Dirigent „die gleichen Szenen in der Partitur gestrichen“, wie vor ihm Karl Böhm in Salzburg. „Ohne die Nebengeräusche kommt die herausragende Besetzung zu größerer Wirkung.“ Statt der Güden war diesmal die erst vierundzwanzigjährige Ingeborg Hallstein die Aminta. Sie agierte weniger glamourös, dafür viel natürlicher und frecher. Eine Antwort auf die Frage, warum nun ausgerechnet das Finale fehlt, bleibt die Autorin schuldig.
Um eine Studioaufnahme im herkömmlichen Sinne dürfte es sich dann doch nicht gehandelt haben, denn im Booklet findet sich zudem eine faksimilierte kostenlose Eintrittskarte für den 6. November zu einem Richard-Strauss-Konzert in der Bayernhalle, das im Fernsehen übertragen wurde. Dafür sollte das Publikum wohl nur Staffage sein. Unser Leser, der Düsseldorfer Opernexperte Carl Meffert, erinnert sich auch unter Hinweis auf die Zeitschrift „Hör zu“: Die Sendung habe von 20.05 bis 21.50 Uhr gedauert. Am Beginn hätten Ausschnitte aus Die Liebe der Danae mit Hildegard Hillebrecht (Danae), Fritz Uhl (Midas) und Josef Metternich (Jupiter) gestanden, gefolgt von der Burleske für Klavier und Orchester, gespielt von der Pianistin Käbi Laretei, der Ehefrau von Ingmar Bergman. Seinen Informationen zufolge gab es abschließend Szenen aus dem ersten und zweiten Akt der Schweigsamen Frau, was auch ein zusätzlicher Hinweis darauf ist, dass der Schluss der dreiaktigen Oper überhaupt nicht eingespielt wurde. „Der Regisseur wird in der TV-Zeitung nicht genannt; vermutlich war es Wilm ten Haaf“, so Carl Meffert.
Sollte es wirklich Absicht von Wallberg gewesen sein, dem technisch mangelhaften Salzburger Mitschnitt, der damals noch gar nicht auf dem Markt war, bereits im Folgejahr ein klanglich aufgehübschtes lückenhaftes Pendant entgegensetzen zu wollen? Vielmehr deutet die Faktenlage darauf hin, dass an zwei Tage dieselben Szenen unter Studiobedingungen geprobt und akustisch festgehalten wurden, die kurz darauf das Fernsehpublikum in Kostümen und Kulissen live geboten bekam. Dass es die bewegten Bilder gab, ist unstrittig. Auf YouTube sind sie zu sehen. Dort allerdings in einer Präsentation durch den Pianisten, Moderator und Musikschriftsteller Ludwig Kusche, der sich zu den Umständen der Entstehung allerdings nicht äußert. Auch die neue CD gibt äußerlich einen Hinweis auf die szenische Situation. Vorder- und Rückseite des Covers bestehen laut Booklet aus Fotos vom Richard-Strauss-Konzert aus der Bayernhalle. Dass dabei Wunderlich und Prey optisch im Mittelpunkt stehen, ist mehr als angemessen. Sie überragen das gesamte Ensemble. Deutsche Künstler mit solchen frischen süffigen Stimmen hatte man bis dahin noch nicht gehört. Beide verkörpern auch durch ein gewisses Draufgängertum und Selbstbewusstsein ihrer dreißig Jahre Aufbruch und Zukunft auf der Opernbühne. Schade, dass es keine Gesamtaufnahme geworden ist. So einen Schub wie in der Bayernhalle hätte es gebraucht, dem Werk doch noch seinen ebenbürtigen Platz neben den anderen Meisterwerken von Richard Strauss zu sichern. Was danach auf Tonträger gelangte, reicht nicht heran an dieses Münchner Feuerwerk.
Übrigens sind Wunderlich als Henry, die Hallstein als seine Frau Aminta und Wallberg als Dirigent 1962 bis ans Teatro Colon in Buenos Aires gekommen. Der Mitschnitt hat aber mehr dokumentarischen denn künstlerischen Wert und klingt technisch bescheiden. Die erste komplette Einspielung entstand 1976/77 am Ort der Uraufführung mit der Dresdener Staatskapelle unter Marek Janowski als deutsch-deutsches Projekt für Eterna und EMI. Sie ist nun im Katalog von Warner zu finden. Klanglich schneidet sie mit Abstand am besten ab, wenngleich das turbulente Geschehen unter Studiobedingungen gebremst und etwas steril wirkt. Mit Theo Adam (Morosus), Eberhard Büchner (Henry) und Annelies Burmeister (Haushälterin) steuerte die DDR drei ihrer namhaftesten Sänger bei. Dass auch Werner Haseleu als Vanuzzi dabei ist, dürfte noch immer jene Opernbesucher freuen, die ihm als begnadeten Sängerdarsteller in Weimar, Dresden und an der Berliner Staatsoper in Erinnerung haben. Aus dem Westen kamen in die als Aufnahmeraum genutzte Lukaskirche die Amerikanerin Jeanette Scovotti (Aminta) die sich mit der deutschen Sprache schwer tut, doch für die extremen Höhen bestens disponiert ist, Wolfgang Schöne (Barbier), Trudeliese Schmidt (Carlotta), Klaus Hirte (Morbio) und Helmut Berger-Tuna (Farfallo). Die CD von BR-Klassik erweckt Hoffnungen auf mehr. Sollte sie der Auftakt einer neuen Serie sein? Folgen gar die Danae-Szenen aus der Bayernhalle? Schön wär’s. Das Archiv ist bekanntlich gut gefüllt. Rüdiger Winter
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.Das Foto oben zeigt einen Cover-Ausschnitt der neuen CD: Fritz Wunderlich (links) und Hermann Prey in einer Szene aus der Produktion in der Bayernhalle / Sessner (BR)