.
Die Glöckchen-Arie und das Blüten-Duett blieben stets präsent in der Erinnerung des Publikums und im Programm manchen Wunschkonzerts, aber das Duett zwischen Lakmé und Gérald aus dem ersten und die Tenorarie aus dem dritten Akt mussten bei der Uraufführung 1883 in der Opéra Comique in Paris wiederholt werden, was wohl vor allem an dem Startenor Jean-Alexandre Talazac lag. Anders als in Deutschland, wo man mit orientalischen, d.h. durch Kolonialherrschaft (angeblich „befleckten“) Themen zunehmend ein Problem hatte, war das in Paris keines, erst recht nicht, wenn nicht Franzosen, sondern Engländer die Kolonialherren waren. Und so konnte Lakmé 1960 bereits die 1500. Aufführung in Paris feiern, hatte 2022 die 7. Neuinszenierung in der 1610. Vorstellung in der Opéra Comique ihre Premiere. Bis dahin hatten viele Primadonnen ihre Visitenkarten in Lakmé abgegeben, angefangen von der Sängerin der Uraufführung Marie Van Zandt über Adelina Patti, Lily Pons, Janine Micheau, Mado Robin, Joan Sutherland, Christine Eda-Pierre und schließlich Natalie Dessay und Sabine Devieilhe, die nicht nur 2022 die Premiere in der Laurent-Pelly-Produktion singt, sondern bereits 2014 Lakmé war.
Das Libretto von Edmond Gondinet und Philippe Gille geht auf zwei Quellen zurück, einen Roman von Pierre Loti, der von der unglücklichen Liebe zwischen einem Mädchen aus Tahiti und einem Europäer handelt, und einem von Théodore Pavie, der ein ähnliches Thema in Indien behandelt, und wenn dazu noch in der Oper marokkanische Instrumente eingesetzt wurden, die der Komponist Léo Delibes aus Konstantinopel mitgebracht hatte, kann man ermessen, wie sorglos mit allem, was aber auf Teufel komm heraus exotisch sein musste, umgegangen wurde.
Nicht Modernisierung, sondern strenge Stilisierung ist das hervorstechendste Kennzeichen der Regie von Laurent Pelly, der zugleich für die Kostüme verantwortlich ist. Nicht exotische Buntheit, sondern ein strenges Weiß bis Hellbeige stehen für die Inder, was so weit geht, dass Lakmé recht unkleidsam weißhaarig bis hin zu Augenbrauen und Wimpern ist (In Alt-Berlin hätte man von Braunbier mit Spucke gesprochen.), dazu ist sie in härenes Unkleidsames gewandet. Die Briten bevorzugen die Farbe Hellgrau, im 3. Akt herrschen Schattierungen eines schönen Bleu vor, und alle bewegen sich in Kulissen (Camille Dugas), die wie aus Reispapierblättern gebaut zu sein scheinen, die sich mit-oder gegeneinander bewegen. Lakmé lebt in einem Käfig aus Bambuslatten und wird in einem Bollerwagen aus eben diesem Material umhergefahren. Intimität anstelle von Massenaufmärschen, Strenge anstelle bunter Bewegtheit sind das Gebot der Produktion, und man kann dieser zunehmend Geschmack abgewinnen, vor allem, weil die Sängerin der Titelpartie nicht nur vorzüglich singt, sondern auch von den Intentionen der Regie überzeugt zu sein scheint und sie dementsprechend überzeugend umsetzt. Der silbrig klingende, leicht und lichte, in der Höhe leuchtend aufblühende („É l’amour“) Sopran ist von grenzenloser Geschmeidigkeit und kann das Herz des Hörers berühren. Im ersten Akt steht ihr mit Ambroisine Bré eine adäquate Partnerin für das auch in moderner Werbung präsente Duett zur Seite und lässt es ätherisch erklingen, ganz anders als Sutherland und Horne, aber auch schön und irgendwie französischer und intimer. Frédéric Antoun ist ein optisch attraktiver Gérald, dessen dunkel grundierter Tenor aber nur im Einheitsforte eingesetzt wird, der in der Höhe steif klingt, weit weniger in der französischen Tradition zu stehen scheint als etwa der Hadji von François Rougier. Mit schlankem Bariton singt Philippe Estèphe den Frédéric, nur im Forte so richtig frei klingt der Nilakantha von Stéphane Degout, der einen imponierenden auch darstellerischen Einsatz zeigt, süß flötend gibt Elisabeth Boudreault die Ellen, die wie ihre Gesellschaft leicht karikierend angelegt ist. Mittlerweile in einem neuen Fach angelangt ist Mireille Delunsch mit der Mistress Bentson. Besonders im Vorspiel zum dritten Akt kann man goutieren, wie duftig und elegant die Partitur klingen kann, Verdienst von Raphael Pichon und Orchestra and Choir Pygmalion (Bluray Naxos NBD0177V). Ingrid Wanja